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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die Frcirechtsbeweguiig

ihres Nechtsberufs hinaus zu haben sind, mit fort der Feuerkopf Ernst Fuchs,
Nechtsamvalt in Karlsruhe i. B., der vom Jahre 1907 ab in flammenden
Anklagen der heutigen Rechtsübung ihre Rückständigkeit und ihren Scholästizismus
vorhielt und besonders die Rechtsprechung des Reichsgerichts in vielen Ent¬
scheidungen einer vernichtenden Kritik unterzog. Mag er auch manchmal in seiner
Kritik zu weit über das Ziel hinausschießen, so bedarf jede Bewegung, die
gegen so alte und festgewurzelte Institutionen ankämpfen will, solcher allzu
stürmischen Führer; das Ziel muß immer weiter gemiesen werden als nötig.
Daß es so weit nicht erreicht wird, dafür werden dann schon die Lauer und
Halben sorgen, die sich einer Bewegung mit ihrem steigenden Erfolge anschließen.
Neben Fuchs sind dann als Rufer im Streit Bozi, früher Oberlandesgerichtsrat
in Hamm, jetzt Amtsgerichtsrat in Bielefeld, Oberlandesgerichtsrat Gmelin in
Stuttgart, Oberlandesgerichtsrat Deinhardt inJena und zuletzt mit einem glänzend
geschriebenen programmatischen Aufsatze in der Deutschen Juristenzeitung Ober¬
landesgerichtspräsident Börngen in Jena getreten. Bozi hat in tiefschürfenden
philosophischen Darstellungen die Geistesverwandtschaft zwischen der Theologie
und der heute noch herrschenden Auffassung von der Jurisprudenz dargestellt,
ihrer beider gemeinsame Quellen bis auf Thomas von Aquino zurückgeführt, hat auf
die Befreiung der Naturwissenschaften vom scholastischen Joche hingewiesen und eine
Behandlung der Jurisprudenz nach Analogie der Naturwissenschaften gefordert.
Deinhardt hat sich mehr den Bedürfnissen der heutigen Praxis zugewandt und
in zwei fein geschriebenen Broschüren die Forderungen nach Schlichtheit und
Verständlichkeit in Sprache und Ausdruck der Gesetze und Rechtssprüche, nach
Vereinfachung der Form des Verfahrens in Jurisprudenz und Verwaltung
erhoben. Die erst getrennt marschierenden Gruppen, die um Bozi und die
Juristen in Jena, haben sich schließlich zu einer gemeinsamen Aktion vereinigt.
Es ist im März dieses Jahres ein "Verein zur Förderung zeitgemäßer Rechts¬
pflege und Verwaltung" gegründet worden, welcher den bezeichnenden Namen
"Recht und Wirtschaft" angenommen hat, damit schon im Namen bekundend,
daß das Recht nicht um seiner selbst willen, sondern um der Regelung der
wirtschaftlichen Verhältnisse willen da sei. Die Vorsitzenden dieses Vereins sind:
Oberlandesgerichtspräsident Dr. Börngen in Jena, Reichsgerichtsral Dr. Düringer
in Leipzig und Geheimer Justizrat Professor Dr. Hellwig in Berlin. Die neue
Vereinigung wendet sich in einem Aufrufe "Um das Recht der Gegenwart" nicht
nur an die Juristen, sondern auch an Kaufleute und Industrielle, Parlamentarier
und Volkswirte, kurz an alle die Stände, welche ein Interesse daran haben,
daß unsere zurückgebliebene Rechtsentwicklung der so unendlich rasch fort¬
geschrittenen modernen wirtschaftlichen Entwicklung in Teutschland wieder nahe
gebracht werde.

Fragen wir nun, was will diese Freirechtsbewegung, so sagen die Gegner,
wir wollten an Stelle des Gesetzes die Willkür setzen, eingekleidet in die Schlag¬
worte der Billigkeit, des sozialen Empfindens, der Jnteressenwägung u. dergl. in.


Die Frcirechtsbeweguiig

ihres Nechtsberufs hinaus zu haben sind, mit fort der Feuerkopf Ernst Fuchs,
Nechtsamvalt in Karlsruhe i. B., der vom Jahre 1907 ab in flammenden
Anklagen der heutigen Rechtsübung ihre Rückständigkeit und ihren Scholästizismus
vorhielt und besonders die Rechtsprechung des Reichsgerichts in vielen Ent¬
scheidungen einer vernichtenden Kritik unterzog. Mag er auch manchmal in seiner
Kritik zu weit über das Ziel hinausschießen, so bedarf jede Bewegung, die
gegen so alte und festgewurzelte Institutionen ankämpfen will, solcher allzu
stürmischen Führer; das Ziel muß immer weiter gemiesen werden als nötig.
Daß es so weit nicht erreicht wird, dafür werden dann schon die Lauer und
Halben sorgen, die sich einer Bewegung mit ihrem steigenden Erfolge anschließen.
Neben Fuchs sind dann als Rufer im Streit Bozi, früher Oberlandesgerichtsrat
in Hamm, jetzt Amtsgerichtsrat in Bielefeld, Oberlandesgerichtsrat Gmelin in
Stuttgart, Oberlandesgerichtsrat Deinhardt inJena und zuletzt mit einem glänzend
geschriebenen programmatischen Aufsatze in der Deutschen Juristenzeitung Ober¬
landesgerichtspräsident Börngen in Jena getreten. Bozi hat in tiefschürfenden
philosophischen Darstellungen die Geistesverwandtschaft zwischen der Theologie
und der heute noch herrschenden Auffassung von der Jurisprudenz dargestellt,
ihrer beider gemeinsame Quellen bis auf Thomas von Aquino zurückgeführt, hat auf
die Befreiung der Naturwissenschaften vom scholastischen Joche hingewiesen und eine
Behandlung der Jurisprudenz nach Analogie der Naturwissenschaften gefordert.
Deinhardt hat sich mehr den Bedürfnissen der heutigen Praxis zugewandt und
in zwei fein geschriebenen Broschüren die Forderungen nach Schlichtheit und
Verständlichkeit in Sprache und Ausdruck der Gesetze und Rechtssprüche, nach
Vereinfachung der Form des Verfahrens in Jurisprudenz und Verwaltung
erhoben. Die erst getrennt marschierenden Gruppen, die um Bozi und die
Juristen in Jena, haben sich schließlich zu einer gemeinsamen Aktion vereinigt.
Es ist im März dieses Jahres ein „Verein zur Förderung zeitgemäßer Rechts¬
pflege und Verwaltung" gegründet worden, welcher den bezeichnenden Namen
„Recht und Wirtschaft" angenommen hat, damit schon im Namen bekundend,
daß das Recht nicht um seiner selbst willen, sondern um der Regelung der
wirtschaftlichen Verhältnisse willen da sei. Die Vorsitzenden dieses Vereins sind:
Oberlandesgerichtspräsident Dr. Börngen in Jena, Reichsgerichtsral Dr. Düringer
in Leipzig und Geheimer Justizrat Professor Dr. Hellwig in Berlin. Die neue
Vereinigung wendet sich in einem Aufrufe „Um das Recht der Gegenwart" nicht
nur an die Juristen, sondern auch an Kaufleute und Industrielle, Parlamentarier
und Volkswirte, kurz an alle die Stände, welche ein Interesse daran haben,
daß unsere zurückgebliebene Rechtsentwicklung der so unendlich rasch fort¬
geschrittenen modernen wirtschaftlichen Entwicklung in Teutschland wieder nahe
gebracht werde.

Fragen wir nun, was will diese Freirechtsbewegung, so sagen die Gegner,
wir wollten an Stelle des Gesetzes die Willkür setzen, eingekleidet in die Schlag¬
worte der Billigkeit, des sozialen Empfindens, der Jnteressenwägung u. dergl. in.


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[0350] Die Frcirechtsbeweguiig ihres Nechtsberufs hinaus zu haben sind, mit fort der Feuerkopf Ernst Fuchs, Nechtsamvalt in Karlsruhe i. B., der vom Jahre 1907 ab in flammenden Anklagen der heutigen Rechtsübung ihre Rückständigkeit und ihren Scholästizismus vorhielt und besonders die Rechtsprechung des Reichsgerichts in vielen Ent¬ scheidungen einer vernichtenden Kritik unterzog. Mag er auch manchmal in seiner Kritik zu weit über das Ziel hinausschießen, so bedarf jede Bewegung, die gegen so alte und festgewurzelte Institutionen ankämpfen will, solcher allzu stürmischen Führer; das Ziel muß immer weiter gemiesen werden als nötig. Daß es so weit nicht erreicht wird, dafür werden dann schon die Lauer und Halben sorgen, die sich einer Bewegung mit ihrem steigenden Erfolge anschließen. Neben Fuchs sind dann als Rufer im Streit Bozi, früher Oberlandesgerichtsrat in Hamm, jetzt Amtsgerichtsrat in Bielefeld, Oberlandesgerichtsrat Gmelin in Stuttgart, Oberlandesgerichtsrat Deinhardt inJena und zuletzt mit einem glänzend geschriebenen programmatischen Aufsatze in der Deutschen Juristenzeitung Ober¬ landesgerichtspräsident Börngen in Jena getreten. Bozi hat in tiefschürfenden philosophischen Darstellungen die Geistesverwandtschaft zwischen der Theologie und der heute noch herrschenden Auffassung von der Jurisprudenz dargestellt, ihrer beider gemeinsame Quellen bis auf Thomas von Aquino zurückgeführt, hat auf die Befreiung der Naturwissenschaften vom scholastischen Joche hingewiesen und eine Behandlung der Jurisprudenz nach Analogie der Naturwissenschaften gefordert. Deinhardt hat sich mehr den Bedürfnissen der heutigen Praxis zugewandt und in zwei fein geschriebenen Broschüren die Forderungen nach Schlichtheit und Verständlichkeit in Sprache und Ausdruck der Gesetze und Rechtssprüche, nach Vereinfachung der Form des Verfahrens in Jurisprudenz und Verwaltung erhoben. Die erst getrennt marschierenden Gruppen, die um Bozi und die Juristen in Jena, haben sich schließlich zu einer gemeinsamen Aktion vereinigt. Es ist im März dieses Jahres ein „Verein zur Förderung zeitgemäßer Rechts¬ pflege und Verwaltung" gegründet worden, welcher den bezeichnenden Namen „Recht und Wirtschaft" angenommen hat, damit schon im Namen bekundend, daß das Recht nicht um seiner selbst willen, sondern um der Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse willen da sei. Die Vorsitzenden dieses Vereins sind: Oberlandesgerichtspräsident Dr. Börngen in Jena, Reichsgerichtsral Dr. Düringer in Leipzig und Geheimer Justizrat Professor Dr. Hellwig in Berlin. Die neue Vereinigung wendet sich in einem Aufrufe „Um das Recht der Gegenwart" nicht nur an die Juristen, sondern auch an Kaufleute und Industrielle, Parlamentarier und Volkswirte, kurz an alle die Stände, welche ein Interesse daran haben, daß unsere zurückgebliebene Rechtsentwicklung der so unendlich rasch fort¬ geschrittenen modernen wirtschaftlichen Entwicklung in Teutschland wieder nahe gebracht werde. Fragen wir nun, was will diese Freirechtsbewegung, so sagen die Gegner, wir wollten an Stelle des Gesetzes die Willkür setzen, eingekleidet in die Schlag¬ worte der Billigkeit, des sozialen Empfindens, der Jnteressenwägung u. dergl. in.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/350>, abgerufen am 17.06.2024.