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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Im übrigen haben wir auch schon praktische Beweise für die Möglichkeit
des Vorhandenseins einer "staaterhaltenden" Sozialdemokratie. In
Österreich könnte die Sozialdemokratie das staaterhaltende Element gegenüber
den Nationalitäten bilden, wenn nicht ihr am besten organisierter Teil, die
Deutschen, eben national wäre und dadurch häufig genug im Gegensatz zu den
polnischen und tschechischen Genossen stünde. Aber es machen sich bereits
Anzeichen bemerkbar, die auch von der Wiener Negierung geschickt gefördert
werden, ans denen auf einen engeren Zusammenschluß der Sozialdemokraten
aller Nationalitäten gefolgert werden darf. Die Verkehrs- und Sozialpolitik
würde dadurch innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle durchaus an Stetigkeit
gewinnen. In Deutschland wiederum sind wir in den beiden genannten und
vielen anderen Fragen der inneren Politik den Nachbarländern so weit voraus,
daß ein Verzicht auf den Genuß des Vorsprungs durch Anschluß an andere Staaten
gleichbedeutend wäre mit erheblicher Verschlechterung der Lage der Massen.
Wir haben somit auch von den reichsländischen Sozialdemokraten eine Stärkung
der zentrifugalen Kräfte nicht nur nicht zu befürchten, sondern sehen in ihnen
Bundesgenossen im Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die Fmnzös-
linge. Freuen wir uns dieses Fortschritts, denn er ist zugleich ein Schritt auf
dem Wege zur Versöhnung bedauerlicher Gegensätze, die das Leben der ganzen
Nation vergiften.

Neben solchen Feststellungen dürfen wir naturgemäß uicht vergessen, daß
die sozialdemokratische Partei, wie sie heute einmal ist, die geschworene Feindin
unserer bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist, und da zwingt uns der Selbst¬
erhaltungstrieb, die Partei überall dort rücksichtslos zu bekämpfen, wo sie sich
von dieser gefährlichen Seite zeigt. Wie der Verlauf der Verhandlungen
über die Reichsversicherungsordnuug beweist, stehen die Regierung und
die bürgerlichen Parteien über diesen Punkt auch in erfreulicher Einmütigkeit
zusammen. Nur die Fortschrittliche Volkspartei ist nicht bei der Stange geblieben.
Im Kampf um den Einfluß in den Krankenkassen hat sie sich auf die Seite
der Sozialdemokratie gestellt. Diese Bundesgenossenschaft dürfte indessen ohne
Belang bleiben, denn die Mehrheit des Reichstags arbeitet unbeirrt durch die
Herausforderungen der Sozialdemokratie das umfangreiche Gesetz in zweiter
Lesung durch, so daß es wohl noch vor Pfingsten wird verabschiedet werden
können. Auch an diesem Werk der Gesetzgebung hat der Staatssekretär Delbrück
ein erhebliches Maß von Verdiensten. Besonders ist es ihn: gelungen, weit
übers Ziel hinausschießende Forderungen der Unternehmer zurückzudrängen, also
den sozialen Charakter des Gesetzes unangetastet zu lassen. Das Bild im Reichs¬
tage hat sich sonnt erfreulicher gestaltet, als es noch vor Ostern zu erwarten
war. Ob sich hieraus schon Hoffnungen für eine Beruhigung im Lande her¬
leiten lassen? Es gibt Optimisten, die solches für möglich halten, -- aber viele
Tats G, Li, achen sprechen dagegen.


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Im übrigen haben wir auch schon praktische Beweise für die Möglichkeit
des Vorhandenseins einer „staaterhaltenden" Sozialdemokratie. In
Österreich könnte die Sozialdemokratie das staaterhaltende Element gegenüber
den Nationalitäten bilden, wenn nicht ihr am besten organisierter Teil, die
Deutschen, eben national wäre und dadurch häufig genug im Gegensatz zu den
polnischen und tschechischen Genossen stünde. Aber es machen sich bereits
Anzeichen bemerkbar, die auch von der Wiener Negierung geschickt gefördert
werden, ans denen auf einen engeren Zusammenschluß der Sozialdemokraten
aller Nationalitäten gefolgert werden darf. Die Verkehrs- und Sozialpolitik
würde dadurch innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle durchaus an Stetigkeit
gewinnen. In Deutschland wiederum sind wir in den beiden genannten und
vielen anderen Fragen der inneren Politik den Nachbarländern so weit voraus,
daß ein Verzicht auf den Genuß des Vorsprungs durch Anschluß an andere Staaten
gleichbedeutend wäre mit erheblicher Verschlechterung der Lage der Massen.
Wir haben somit auch von den reichsländischen Sozialdemokraten eine Stärkung
der zentrifugalen Kräfte nicht nur nicht zu befürchten, sondern sehen in ihnen
Bundesgenossen im Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die Fmnzös-
linge. Freuen wir uns dieses Fortschritts, denn er ist zugleich ein Schritt auf
dem Wege zur Versöhnung bedauerlicher Gegensätze, die das Leben der ganzen
Nation vergiften.

Neben solchen Feststellungen dürfen wir naturgemäß uicht vergessen, daß
die sozialdemokratische Partei, wie sie heute einmal ist, die geschworene Feindin
unserer bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist, und da zwingt uns der Selbst¬
erhaltungstrieb, die Partei überall dort rücksichtslos zu bekämpfen, wo sie sich
von dieser gefährlichen Seite zeigt. Wie der Verlauf der Verhandlungen
über die Reichsversicherungsordnuug beweist, stehen die Regierung und
die bürgerlichen Parteien über diesen Punkt auch in erfreulicher Einmütigkeit
zusammen. Nur die Fortschrittliche Volkspartei ist nicht bei der Stange geblieben.
Im Kampf um den Einfluß in den Krankenkassen hat sie sich auf die Seite
der Sozialdemokratie gestellt. Diese Bundesgenossenschaft dürfte indessen ohne
Belang bleiben, denn die Mehrheit des Reichstags arbeitet unbeirrt durch die
Herausforderungen der Sozialdemokratie das umfangreiche Gesetz in zweiter
Lesung durch, so daß es wohl noch vor Pfingsten wird verabschiedet werden
können. Auch an diesem Werk der Gesetzgebung hat der Staatssekretär Delbrück
ein erhebliches Maß von Verdiensten. Besonders ist es ihn: gelungen, weit
übers Ziel hinausschießende Forderungen der Unternehmer zurückzudrängen, also
den sozialen Charakter des Gesetzes unangetastet zu lassen. Das Bild im Reichs¬
tage hat sich sonnt erfreulicher gestaltet, als es noch vor Ostern zu erwarten
war. Ob sich hieraus schon Hoffnungen für eine Beruhigung im Lande her¬
leiten lassen? Es gibt Optimisten, die solches für möglich halten, — aber viele
Tats G, Li, achen sprechen dagegen.


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[0385] Rcichsspicgel Im übrigen haben wir auch schon praktische Beweise für die Möglichkeit des Vorhandenseins einer „staaterhaltenden" Sozialdemokratie. In Österreich könnte die Sozialdemokratie das staaterhaltende Element gegenüber den Nationalitäten bilden, wenn nicht ihr am besten organisierter Teil, die Deutschen, eben national wäre und dadurch häufig genug im Gegensatz zu den polnischen und tschechischen Genossen stünde. Aber es machen sich bereits Anzeichen bemerkbar, die auch von der Wiener Negierung geschickt gefördert werden, ans denen auf einen engeren Zusammenschluß der Sozialdemokraten aller Nationalitäten gefolgert werden darf. Die Verkehrs- und Sozialpolitik würde dadurch innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle durchaus an Stetigkeit gewinnen. In Deutschland wiederum sind wir in den beiden genannten und vielen anderen Fragen der inneren Politik den Nachbarländern so weit voraus, daß ein Verzicht auf den Genuß des Vorsprungs durch Anschluß an andere Staaten gleichbedeutend wäre mit erheblicher Verschlechterung der Lage der Massen. Wir haben somit auch von den reichsländischen Sozialdemokraten eine Stärkung der zentrifugalen Kräfte nicht nur nicht zu befürchten, sondern sehen in ihnen Bundesgenossen im Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die Fmnzös- linge. Freuen wir uns dieses Fortschritts, denn er ist zugleich ein Schritt auf dem Wege zur Versöhnung bedauerlicher Gegensätze, die das Leben der ganzen Nation vergiften. Neben solchen Feststellungen dürfen wir naturgemäß uicht vergessen, daß die sozialdemokratische Partei, wie sie heute einmal ist, die geschworene Feindin unserer bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist, und da zwingt uns der Selbst¬ erhaltungstrieb, die Partei überall dort rücksichtslos zu bekämpfen, wo sie sich von dieser gefährlichen Seite zeigt. Wie der Verlauf der Verhandlungen über die Reichsversicherungsordnuug beweist, stehen die Regierung und die bürgerlichen Parteien über diesen Punkt auch in erfreulicher Einmütigkeit zusammen. Nur die Fortschrittliche Volkspartei ist nicht bei der Stange geblieben. Im Kampf um den Einfluß in den Krankenkassen hat sie sich auf die Seite der Sozialdemokratie gestellt. Diese Bundesgenossenschaft dürfte indessen ohne Belang bleiben, denn die Mehrheit des Reichstags arbeitet unbeirrt durch die Herausforderungen der Sozialdemokratie das umfangreiche Gesetz in zweiter Lesung durch, so daß es wohl noch vor Pfingsten wird verabschiedet werden können. Auch an diesem Werk der Gesetzgebung hat der Staatssekretär Delbrück ein erhebliches Maß von Verdiensten. Besonders ist es ihn: gelungen, weit übers Ziel hinausschießende Forderungen der Unternehmer zurückzudrängen, also den sozialen Charakter des Gesetzes unangetastet zu lassen. Das Bild im Reichs¬ tage hat sich sonnt erfreulicher gestaltet, als es noch vor Ostern zu erwarten war. Ob sich hieraus schon Hoffnungen für eine Beruhigung im Lande her¬ leiten lassen? Es gibt Optimisten, die solches für möglich halten, — aber viele Tats G, Li, achen sprechen dagegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/385>, abgerufen am 10.06.2024.