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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Arbcitcrschichgosetzgebung

oder die Arbeitsgelegenheit wandert ins Ausland. Für das erste bietet die
Masseneinwanderung -- hauptsächlich slawischer und italienischer Arbeiter in
Deutschland, Frankreich und Amerika -- ein Beispiel, das zweite sehen wir in
mehrfacher Wiederkehr in England, am bezeichnendsten wohl im englischen Glas¬
machergewerbe, das von der traäe-union der Arbeiter durch Beschränkung der
Zahl der Lehrlinge und Verhinderung des Zuzugs völlig vernichtet ist, so daß
diese Fabrikation nach Frankreich und Deutschland übergesiedelt ist, während
in London und Edinburg Hunderttausende nach Arbeit und Brot die
Hände ringen.

Solche Erwägungen sind auch unseren Arbeitern nicht mehr ganz fremd.
Den Nutzen der Versichcrungsgesetze haben sie begriffen; die Leute, die ihre
Quittungskarten verlieren, sind selten geworden, und bei Unfall oderKrankheit wissen
die Versicherten ihren Vorteil wohl wahrzunehmen. Die Arbeitsschutzgesetzgebung
aber ist ihnen höchst gleichgültig, die ganze Sache zum Gähnen langweilig. Die
unmittelbar Betroffenen aber fühlen nur die Nachteile. Soll etwa der hart um
das Brot seiner Kinder ringende Vater vergnügt sein, wenn seine Frau, die
verdienen helfen muß, am Sonnabend mit 1,50 Mark weniger uach Hause kommt,
weil sie fünf Stunden weniger hat arbeiten dürfen? Oder der Bruder, der
seine verwitwete Schwester unterstützen muß, weil sie aus der Fabrik heraus
mußte und sich nun kümmerlich ihr Brot als Zeitungsaustrügerin verdient, wobei
sie sich unter steter Furcht, bestraft zu werden, von ihren Kindern helfen läßt?
Es ist gar nicht so unmöglich, daß wir über kurz oder lang eine sozialprotest-
lerische Arbeiterschaft uns gegenüber haben, die erklärt: Der Freiheitsbeschränkungen
sind wir nun satt. Wir sind manus genug, unsere Sache selbst in die Hand
zu nehmen und unsere Arbeitsbedingungen so zu regeln, wie wir für richtig
halten. Was dann? Dann wird die Woge weichherziger Gefühlspolitik ins
Meer zurückfinden und möglicherweise manches mitnehmen, was wert wäre, erhalten
zu werden.

Um Mißdeutungen zu begegnen, wiederhole ich: Nicht gegen die Arbeiter-
schutzgesetzgebung überhaupt richten sich meine Worte, auch nicht gegen das, was
bisher zu ihrer Durchführung geschehen ist. Von einigen Verirrungen nud kleinen
Fehlern abgesehen, bin ich vollkommen einverstanden. Aber es muß einmal
Halt gemacht werden, und dazu scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu
sein. Irgendwie erhebliche Mißstände größeren Umfanges können nicht mehr
vorkommen, nachdem die Arbeitszeiten der jugendlichen Arbeiter auf zehn, die der
weiblichen in Betrieben mit mindestens zehn Arbeitern ebenfalls auf zehn, in
kleineren Motorbetrieben auf elf Stunden täglich ermäßigt worden sind und die
ganze Bevölkerung sich daran gewöhnt hat, daß auch in kleinen Betrieben ohne
Motor und solchen, für die Ausnahmen bewilligt sind, die Beschäftigung nicht
wesentlich länger dauert und daß in den anderen Betrieben die Männer auch
nicht länger arbeiten. Das sind doch keine gesundheitsgefährlichen Arbeitszeiten
mehr, wenn nur die Art der Arbeit der Leistungsfähigkeit des Individuums ent-


Arbcitcrschichgosetzgebung

oder die Arbeitsgelegenheit wandert ins Ausland. Für das erste bietet die
Masseneinwanderung — hauptsächlich slawischer und italienischer Arbeiter in
Deutschland, Frankreich und Amerika — ein Beispiel, das zweite sehen wir in
mehrfacher Wiederkehr in England, am bezeichnendsten wohl im englischen Glas¬
machergewerbe, das von der traäe-union der Arbeiter durch Beschränkung der
Zahl der Lehrlinge und Verhinderung des Zuzugs völlig vernichtet ist, so daß
diese Fabrikation nach Frankreich und Deutschland übergesiedelt ist, während
in London und Edinburg Hunderttausende nach Arbeit und Brot die
Hände ringen.

Solche Erwägungen sind auch unseren Arbeitern nicht mehr ganz fremd.
Den Nutzen der Versichcrungsgesetze haben sie begriffen; die Leute, die ihre
Quittungskarten verlieren, sind selten geworden, und bei Unfall oderKrankheit wissen
die Versicherten ihren Vorteil wohl wahrzunehmen. Die Arbeitsschutzgesetzgebung
aber ist ihnen höchst gleichgültig, die ganze Sache zum Gähnen langweilig. Die
unmittelbar Betroffenen aber fühlen nur die Nachteile. Soll etwa der hart um
das Brot seiner Kinder ringende Vater vergnügt sein, wenn seine Frau, die
verdienen helfen muß, am Sonnabend mit 1,50 Mark weniger uach Hause kommt,
weil sie fünf Stunden weniger hat arbeiten dürfen? Oder der Bruder, der
seine verwitwete Schwester unterstützen muß, weil sie aus der Fabrik heraus
mußte und sich nun kümmerlich ihr Brot als Zeitungsaustrügerin verdient, wobei
sie sich unter steter Furcht, bestraft zu werden, von ihren Kindern helfen läßt?
Es ist gar nicht so unmöglich, daß wir über kurz oder lang eine sozialprotest-
lerische Arbeiterschaft uns gegenüber haben, die erklärt: Der Freiheitsbeschränkungen
sind wir nun satt. Wir sind manus genug, unsere Sache selbst in die Hand
zu nehmen und unsere Arbeitsbedingungen so zu regeln, wie wir für richtig
halten. Was dann? Dann wird die Woge weichherziger Gefühlspolitik ins
Meer zurückfinden und möglicherweise manches mitnehmen, was wert wäre, erhalten
zu werden.

Um Mißdeutungen zu begegnen, wiederhole ich: Nicht gegen die Arbeiter-
schutzgesetzgebung überhaupt richten sich meine Worte, auch nicht gegen das, was
bisher zu ihrer Durchführung geschehen ist. Von einigen Verirrungen nud kleinen
Fehlern abgesehen, bin ich vollkommen einverstanden. Aber es muß einmal
Halt gemacht werden, und dazu scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu
sein. Irgendwie erhebliche Mißstände größeren Umfanges können nicht mehr
vorkommen, nachdem die Arbeitszeiten der jugendlichen Arbeiter auf zehn, die der
weiblichen in Betrieben mit mindestens zehn Arbeitern ebenfalls auf zehn, in
kleineren Motorbetrieben auf elf Stunden täglich ermäßigt worden sind und die
ganze Bevölkerung sich daran gewöhnt hat, daß auch in kleinen Betrieben ohne
Motor und solchen, für die Ausnahmen bewilligt sind, die Beschäftigung nicht
wesentlich länger dauert und daß in den anderen Betrieben die Männer auch
nicht länger arbeiten. Das sind doch keine gesundheitsgefährlichen Arbeitszeiten
mehr, wenn nur die Art der Arbeit der Leistungsfähigkeit des Individuums ent-


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[0403] Arbcitcrschichgosetzgebung oder die Arbeitsgelegenheit wandert ins Ausland. Für das erste bietet die Masseneinwanderung — hauptsächlich slawischer und italienischer Arbeiter in Deutschland, Frankreich und Amerika — ein Beispiel, das zweite sehen wir in mehrfacher Wiederkehr in England, am bezeichnendsten wohl im englischen Glas¬ machergewerbe, das von der traäe-union der Arbeiter durch Beschränkung der Zahl der Lehrlinge und Verhinderung des Zuzugs völlig vernichtet ist, so daß diese Fabrikation nach Frankreich und Deutschland übergesiedelt ist, während in London und Edinburg Hunderttausende nach Arbeit und Brot die Hände ringen. Solche Erwägungen sind auch unseren Arbeitern nicht mehr ganz fremd. Den Nutzen der Versichcrungsgesetze haben sie begriffen; die Leute, die ihre Quittungskarten verlieren, sind selten geworden, und bei Unfall oderKrankheit wissen die Versicherten ihren Vorteil wohl wahrzunehmen. Die Arbeitsschutzgesetzgebung aber ist ihnen höchst gleichgültig, die ganze Sache zum Gähnen langweilig. Die unmittelbar Betroffenen aber fühlen nur die Nachteile. Soll etwa der hart um das Brot seiner Kinder ringende Vater vergnügt sein, wenn seine Frau, die verdienen helfen muß, am Sonnabend mit 1,50 Mark weniger uach Hause kommt, weil sie fünf Stunden weniger hat arbeiten dürfen? Oder der Bruder, der seine verwitwete Schwester unterstützen muß, weil sie aus der Fabrik heraus mußte und sich nun kümmerlich ihr Brot als Zeitungsaustrügerin verdient, wobei sie sich unter steter Furcht, bestraft zu werden, von ihren Kindern helfen läßt? Es ist gar nicht so unmöglich, daß wir über kurz oder lang eine sozialprotest- lerische Arbeiterschaft uns gegenüber haben, die erklärt: Der Freiheitsbeschränkungen sind wir nun satt. Wir sind manus genug, unsere Sache selbst in die Hand zu nehmen und unsere Arbeitsbedingungen so zu regeln, wie wir für richtig halten. Was dann? Dann wird die Woge weichherziger Gefühlspolitik ins Meer zurückfinden und möglicherweise manches mitnehmen, was wert wäre, erhalten zu werden. Um Mißdeutungen zu begegnen, wiederhole ich: Nicht gegen die Arbeiter- schutzgesetzgebung überhaupt richten sich meine Worte, auch nicht gegen das, was bisher zu ihrer Durchführung geschehen ist. Von einigen Verirrungen nud kleinen Fehlern abgesehen, bin ich vollkommen einverstanden. Aber es muß einmal Halt gemacht werden, und dazu scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein. Irgendwie erhebliche Mißstände größeren Umfanges können nicht mehr vorkommen, nachdem die Arbeitszeiten der jugendlichen Arbeiter auf zehn, die der weiblichen in Betrieben mit mindestens zehn Arbeitern ebenfalls auf zehn, in kleineren Motorbetrieben auf elf Stunden täglich ermäßigt worden sind und die ganze Bevölkerung sich daran gewöhnt hat, daß auch in kleinen Betrieben ohne Motor und solchen, für die Ausnahmen bewilligt sind, die Beschäftigung nicht wesentlich länger dauert und daß in den anderen Betrieben die Männer auch nicht länger arbeiten. Das sind doch keine gesundheitsgefährlichen Arbeitszeiten mehr, wenn nur die Art der Arbeit der Leistungsfähigkeit des Individuums ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/403>, abgerufen am 17.06.2024.