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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Das Rote Kreuz

des freiwilligen Beistandes eine Fessel anzulegen. Überall ist man dank den
gesitteten und milden Anschauungen der Gegenwart der Meinung, wie es nicht
nur Kriegsbrauch, sondern auch Kriegsrecht ist, in dem verwundeten und kampf¬
unfähigen Soldaten einen hilflosen Menschen zu erblicken, gleichviel welcher
Nation derselbe angehört.

Bei der Betrachtung der großartigen Schöpfung auf dem Gebiet humani¬
tärer Vereinstätigkeit, die das Rote Kreuz jetzt darstellt, gebührt es sich in erster
Linie der beiden unlängst aus dem Leben geschiedenen Männer zu gedenken,
die als die Begründer dieser heut die ganze zivilisierte Welt beherrschenden
Einrichtung anzusehen sind. Es waren dies der im August 1910 dahingeschiedene
Genfer Patrizier Gustav Moynier und sein im Oktober 1910 gestorbener
Landsmann und Gesinnungsgenosse Henry Durand. Beide begründeten im
Jahre 1864 die Genfer Konvention, die als Hauptgrundsatz hinstellte, daß die
Krieger von zwei einander bekämpfenden Heeren nach ihrer Verwundung nicht
mehr Feinde, sondern nur noch kranke, hilflose Menschen sind, denen aus
Gründen der Menschlichkeit Hilfe zuteil werden müsse.

Diesem Grundgedanken entsprachen die einzelnen Bestimmungen des gedachten
völkerrechtlichen Vertrages von 1864, der aber durch die Wahrnehmungen und
Erfahrungen, welche die großen Kriege von 1866 und 1870/71 an die Hand
gaben, im Laufe der Zeit manchen Wandel erfuhren.

Wie schon bei den Beratungen im Jahre 1864, bot die Frage, wie weit
die Humanität im neueren Kriege einen Anspruch auf Berücksichtigung hat, große
Schwierigkeiten, denn die wahre Menschenfreundlichkeit liegt in der schnellen
Beendigung des Krieges. Wenn aber anderseits der Krieg für notwendig und
unvermeidlich anerkannt worden ist, so liegt darin, daß ihm derjenige Spiel¬
raum, diejenige Bewegungsfreiheit gelassen werden muß, die seine Natur, sein
Wesen, sein Zweck erfordern. Diese Natur ist aber die der Gewaltsamkeit, die
der äußersten Anstrengung und damit des unbeschränkten Waltenlassens und
Waltenlassenmüssens der vollen Kraft des letzten Mittels. Es gilt im Kriege
um die Existenz des Vaterlandes und aller höchsten Lebensgüter. Es liegt
deshalb in der Natur des Krieges die rücksichtsloseste Kraftentfaltung und die
Unmöglichkeit, ihm Fesseln anzulegen, die er unweigerlich sprengen würde.
Diese Gewaltsamkeit und Fessellosigkeit ist demnach notwendig und berechtigt
wie der Krieg selbst. Denn sie ist der Krieg und ihr muß die Humanität
weichen.

Diese Erwägungen führten zum weiteren Ausbau und zu zeitgemäßen Um¬
gestaltungen, sowie zur Vervollständigung und Vervollkommnung der dem Roten
Kreuz dienstbaren Hilfsmittel auf einer Reihe von Kongressen, die 1834 zu
Genf, 1887 zu Karlsruhe, 1892 zu Rom, 1897 zu Wien, 1902 zu Petersburg,
1907 zu London stattfanden.

Diesen vom Geist werktätiger Menschenliebe und vom Streben nach gerechten
völkerrechtlichen Abkommen erfüllten Versammlungen folgten die Reformvorschläge


Das Rote Kreuz

des freiwilligen Beistandes eine Fessel anzulegen. Überall ist man dank den
gesitteten und milden Anschauungen der Gegenwart der Meinung, wie es nicht
nur Kriegsbrauch, sondern auch Kriegsrecht ist, in dem verwundeten und kampf¬
unfähigen Soldaten einen hilflosen Menschen zu erblicken, gleichviel welcher
Nation derselbe angehört.

Bei der Betrachtung der großartigen Schöpfung auf dem Gebiet humani¬
tärer Vereinstätigkeit, die das Rote Kreuz jetzt darstellt, gebührt es sich in erster
Linie der beiden unlängst aus dem Leben geschiedenen Männer zu gedenken,
die als die Begründer dieser heut die ganze zivilisierte Welt beherrschenden
Einrichtung anzusehen sind. Es waren dies der im August 1910 dahingeschiedene
Genfer Patrizier Gustav Moynier und sein im Oktober 1910 gestorbener
Landsmann und Gesinnungsgenosse Henry Durand. Beide begründeten im
Jahre 1864 die Genfer Konvention, die als Hauptgrundsatz hinstellte, daß die
Krieger von zwei einander bekämpfenden Heeren nach ihrer Verwundung nicht
mehr Feinde, sondern nur noch kranke, hilflose Menschen sind, denen aus
Gründen der Menschlichkeit Hilfe zuteil werden müsse.

Diesem Grundgedanken entsprachen die einzelnen Bestimmungen des gedachten
völkerrechtlichen Vertrages von 1864, der aber durch die Wahrnehmungen und
Erfahrungen, welche die großen Kriege von 1866 und 1870/71 an die Hand
gaben, im Laufe der Zeit manchen Wandel erfuhren.

Wie schon bei den Beratungen im Jahre 1864, bot die Frage, wie weit
die Humanität im neueren Kriege einen Anspruch auf Berücksichtigung hat, große
Schwierigkeiten, denn die wahre Menschenfreundlichkeit liegt in der schnellen
Beendigung des Krieges. Wenn aber anderseits der Krieg für notwendig und
unvermeidlich anerkannt worden ist, so liegt darin, daß ihm derjenige Spiel¬
raum, diejenige Bewegungsfreiheit gelassen werden muß, die seine Natur, sein
Wesen, sein Zweck erfordern. Diese Natur ist aber die der Gewaltsamkeit, die
der äußersten Anstrengung und damit des unbeschränkten Waltenlassens und
Waltenlassenmüssens der vollen Kraft des letzten Mittels. Es gilt im Kriege
um die Existenz des Vaterlandes und aller höchsten Lebensgüter. Es liegt
deshalb in der Natur des Krieges die rücksichtsloseste Kraftentfaltung und die
Unmöglichkeit, ihm Fesseln anzulegen, die er unweigerlich sprengen würde.
Diese Gewaltsamkeit und Fessellosigkeit ist demnach notwendig und berechtigt
wie der Krieg selbst. Denn sie ist der Krieg und ihr muß die Humanität
weichen.

Diese Erwägungen führten zum weiteren Ausbau und zu zeitgemäßen Um¬
gestaltungen, sowie zur Vervollständigung und Vervollkommnung der dem Roten
Kreuz dienstbaren Hilfsmittel auf einer Reihe von Kongressen, die 1834 zu
Genf, 1887 zu Karlsruhe, 1892 zu Rom, 1897 zu Wien, 1902 zu Petersburg,
1907 zu London stattfanden.

Diesen vom Geist werktätiger Menschenliebe und vom Streben nach gerechten
völkerrechtlichen Abkommen erfüllten Versammlungen folgten die Reformvorschläge


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[0416] Das Rote Kreuz des freiwilligen Beistandes eine Fessel anzulegen. Überall ist man dank den gesitteten und milden Anschauungen der Gegenwart der Meinung, wie es nicht nur Kriegsbrauch, sondern auch Kriegsrecht ist, in dem verwundeten und kampf¬ unfähigen Soldaten einen hilflosen Menschen zu erblicken, gleichviel welcher Nation derselbe angehört. Bei der Betrachtung der großartigen Schöpfung auf dem Gebiet humani¬ tärer Vereinstätigkeit, die das Rote Kreuz jetzt darstellt, gebührt es sich in erster Linie der beiden unlängst aus dem Leben geschiedenen Männer zu gedenken, die als die Begründer dieser heut die ganze zivilisierte Welt beherrschenden Einrichtung anzusehen sind. Es waren dies der im August 1910 dahingeschiedene Genfer Patrizier Gustav Moynier und sein im Oktober 1910 gestorbener Landsmann und Gesinnungsgenosse Henry Durand. Beide begründeten im Jahre 1864 die Genfer Konvention, die als Hauptgrundsatz hinstellte, daß die Krieger von zwei einander bekämpfenden Heeren nach ihrer Verwundung nicht mehr Feinde, sondern nur noch kranke, hilflose Menschen sind, denen aus Gründen der Menschlichkeit Hilfe zuteil werden müsse. Diesem Grundgedanken entsprachen die einzelnen Bestimmungen des gedachten völkerrechtlichen Vertrages von 1864, der aber durch die Wahrnehmungen und Erfahrungen, welche die großen Kriege von 1866 und 1870/71 an die Hand gaben, im Laufe der Zeit manchen Wandel erfuhren. Wie schon bei den Beratungen im Jahre 1864, bot die Frage, wie weit die Humanität im neueren Kriege einen Anspruch auf Berücksichtigung hat, große Schwierigkeiten, denn die wahre Menschenfreundlichkeit liegt in der schnellen Beendigung des Krieges. Wenn aber anderseits der Krieg für notwendig und unvermeidlich anerkannt worden ist, so liegt darin, daß ihm derjenige Spiel¬ raum, diejenige Bewegungsfreiheit gelassen werden muß, die seine Natur, sein Wesen, sein Zweck erfordern. Diese Natur ist aber die der Gewaltsamkeit, die der äußersten Anstrengung und damit des unbeschränkten Waltenlassens und Waltenlassenmüssens der vollen Kraft des letzten Mittels. Es gilt im Kriege um die Existenz des Vaterlandes und aller höchsten Lebensgüter. Es liegt deshalb in der Natur des Krieges die rücksichtsloseste Kraftentfaltung und die Unmöglichkeit, ihm Fesseln anzulegen, die er unweigerlich sprengen würde. Diese Gewaltsamkeit und Fessellosigkeit ist demnach notwendig und berechtigt wie der Krieg selbst. Denn sie ist der Krieg und ihr muß die Humanität weichen. Diese Erwägungen führten zum weiteren Ausbau und zu zeitgemäßen Um¬ gestaltungen, sowie zur Vervollständigung und Vervollkommnung der dem Roten Kreuz dienstbaren Hilfsmittel auf einer Reihe von Kongressen, die 1834 zu Genf, 1887 zu Karlsruhe, 1892 zu Rom, 1897 zu Wien, 1902 zu Petersburg, 1907 zu London stattfanden. Diesen vom Geist werktätiger Menschenliebe und vom Streben nach gerechten völkerrechtlichen Abkommen erfüllten Versammlungen folgten die Reformvorschläge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/416>, abgerufen am 09.06.2024.