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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Für das Erbrecht des Reiches

Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb das angesammelte Vermögen irgend¬
eines kinderlosen Geizhalses bei seinem Tode einen entfernten Verwandten
bereichern soll, der ihn nie gesehen, der vielleicht gar nicht gewußt hat, daß er
mit jenem verwandt sei, bis dadurch etwas zu gewinnen war, und der keinen
größeren moralischen Anspruch an ihn hatte als der am entferntesten stehende
Fremde. -- Der auf konservativem Boden stehende Rechtslehrer Friedrich Julius
Stahl stellt in Übereinstimmung mit Hegel in seiner Rechts- und Staatslehre
auf der Grundlage christlicher Weltanschauung den sehr bemerkenswerten Satz
auf, nur um der Kinder willen gebe es überhaupt ein Erbrecht. Trendelenburg
in seinen: "Naturrecht" findet es unvereinbar mit dem sittlichen Geist der Rechts¬
gemeinschaft, Erbschaften wie einen gefundenen Schatz auszubieten und damit
Habgier und Prozesse zu erregen; solche Erbschaften, in welchen der sittliche
Gedanke des Rechts erloschen sei, sollten an das gemeine Gut heimfallen.
Baumeister, der scharfsinnige Bearbeiter des vormals Hamburgischen Rechts,
geht kaum zu weit, wenn er verächtlich und spöttisch sagt, mit demselben Recht,
mit dem das Gesetz entfernten Verwandten den Nachlaß in den Schoß wirft,
könne man alle diejenigen zu Erben berufen, die an demselben Tage geboren
sind wie der Erblasser, oder die dieselbe Hausnummer haben wie er. Der
Pandektist Baron spricht sich folgendermaßen aus: "An Stelle der zerstörten
Familie ist die Gemeinde resp. Staat getreten. Die Vormundschaft wird von
Staat und Gemeinde überwacht; der Gemeinde hat man die volle Unterstützungs¬
und Alimentierungspfltcht auferlegt; täglich mehren sich die Leistungen des
Staates und der Gemeinde. Während die Familienbeziehungen sich täglich
immer mehr lösen, vervielfältigen sich die Beziehungen des Bürgers zu Staat
und Gemeinde; man genoß früher Ansehen und Schutz als Mitglied einer
mächtigen Familie, jetzt als Bürger eines mächtigen Staates." In der Betonung
des Staatsgedankens begegnet sich der Romanist Baron mit dem Germanisten
Bluntschli. Bluntschli dringt noch tiefer in das Wesen der Sache ein. In
klarer Erkenntnis der Grenzen des Erbrechts und voll warmer Vaterlandsliebe
ruft er aus: Der einzelne ist ein Kind seiner Eltern, ein Angehöriger seiner
Familie; er ist aber auch ein Kind der Gemeinde und des Landes, denen er
zugehört. Ist er mit seiner Sippschaft durch tausend feine Beziehungen seiner
leiblichen und seelischen Anlage, wie seiner Erziehung und seiner Lebenswege
verbunden, so wirken auch die Einrichtungen und die Einflüsse seiner Heimat
und seines Vaterlandes sehr bestimmend ein auf seine ganze Existenz. Sein
Körper empfängt die Eindrücke der Volksart, und seine Seele erhält einen großen
Teil ihrer Bildung durch die Sprache des Landes, die Sitten seines Wohnorts,
die Geschichte seines Volks. Der tüchtige Bürger hat auch ein Verständnis und
ein Interesse für die Wohlfahrt seines Heimatsortes und seines Vaterlandes.
Auf diese äußere und innere Lebensgemeinschaft, auf die Pflichten der einzelnen
gegen die Gemeinde und den Staat läßt sich ein Erbrecht der Gemeinde und
des Staats sehr wohl begründen. . . Die Notwendigkeit einer derartigen Reform


Für das Erbrecht des Reiches

Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb das angesammelte Vermögen irgend¬
eines kinderlosen Geizhalses bei seinem Tode einen entfernten Verwandten
bereichern soll, der ihn nie gesehen, der vielleicht gar nicht gewußt hat, daß er
mit jenem verwandt sei, bis dadurch etwas zu gewinnen war, und der keinen
größeren moralischen Anspruch an ihn hatte als der am entferntesten stehende
Fremde. — Der auf konservativem Boden stehende Rechtslehrer Friedrich Julius
Stahl stellt in Übereinstimmung mit Hegel in seiner Rechts- und Staatslehre
auf der Grundlage christlicher Weltanschauung den sehr bemerkenswerten Satz
auf, nur um der Kinder willen gebe es überhaupt ein Erbrecht. Trendelenburg
in seinen: „Naturrecht" findet es unvereinbar mit dem sittlichen Geist der Rechts¬
gemeinschaft, Erbschaften wie einen gefundenen Schatz auszubieten und damit
Habgier und Prozesse zu erregen; solche Erbschaften, in welchen der sittliche
Gedanke des Rechts erloschen sei, sollten an das gemeine Gut heimfallen.
Baumeister, der scharfsinnige Bearbeiter des vormals Hamburgischen Rechts,
geht kaum zu weit, wenn er verächtlich und spöttisch sagt, mit demselben Recht,
mit dem das Gesetz entfernten Verwandten den Nachlaß in den Schoß wirft,
könne man alle diejenigen zu Erben berufen, die an demselben Tage geboren
sind wie der Erblasser, oder die dieselbe Hausnummer haben wie er. Der
Pandektist Baron spricht sich folgendermaßen aus: „An Stelle der zerstörten
Familie ist die Gemeinde resp. Staat getreten. Die Vormundschaft wird von
Staat und Gemeinde überwacht; der Gemeinde hat man die volle Unterstützungs¬
und Alimentierungspfltcht auferlegt; täglich mehren sich die Leistungen des
Staates und der Gemeinde. Während die Familienbeziehungen sich täglich
immer mehr lösen, vervielfältigen sich die Beziehungen des Bürgers zu Staat
und Gemeinde; man genoß früher Ansehen und Schutz als Mitglied einer
mächtigen Familie, jetzt als Bürger eines mächtigen Staates." In der Betonung
des Staatsgedankens begegnet sich der Romanist Baron mit dem Germanisten
Bluntschli. Bluntschli dringt noch tiefer in das Wesen der Sache ein. In
klarer Erkenntnis der Grenzen des Erbrechts und voll warmer Vaterlandsliebe
ruft er aus: Der einzelne ist ein Kind seiner Eltern, ein Angehöriger seiner
Familie; er ist aber auch ein Kind der Gemeinde und des Landes, denen er
zugehört. Ist er mit seiner Sippschaft durch tausend feine Beziehungen seiner
leiblichen und seelischen Anlage, wie seiner Erziehung und seiner Lebenswege
verbunden, so wirken auch die Einrichtungen und die Einflüsse seiner Heimat
und seines Vaterlandes sehr bestimmend ein auf seine ganze Existenz. Sein
Körper empfängt die Eindrücke der Volksart, und seine Seele erhält einen großen
Teil ihrer Bildung durch die Sprache des Landes, die Sitten seines Wohnorts,
die Geschichte seines Volks. Der tüchtige Bürger hat auch ein Verständnis und
ein Interesse für die Wohlfahrt seines Heimatsortes und seines Vaterlandes.
Auf diese äußere und innere Lebensgemeinschaft, auf die Pflichten der einzelnen
gegen die Gemeinde und den Staat läßt sich ein Erbrecht der Gemeinde und
des Staats sehr wohl begründen. . . Die Notwendigkeit einer derartigen Reform


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[0494] Für das Erbrecht des Reiches Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb das angesammelte Vermögen irgend¬ eines kinderlosen Geizhalses bei seinem Tode einen entfernten Verwandten bereichern soll, der ihn nie gesehen, der vielleicht gar nicht gewußt hat, daß er mit jenem verwandt sei, bis dadurch etwas zu gewinnen war, und der keinen größeren moralischen Anspruch an ihn hatte als der am entferntesten stehende Fremde. — Der auf konservativem Boden stehende Rechtslehrer Friedrich Julius Stahl stellt in Übereinstimmung mit Hegel in seiner Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung den sehr bemerkenswerten Satz auf, nur um der Kinder willen gebe es überhaupt ein Erbrecht. Trendelenburg in seinen: „Naturrecht" findet es unvereinbar mit dem sittlichen Geist der Rechts¬ gemeinschaft, Erbschaften wie einen gefundenen Schatz auszubieten und damit Habgier und Prozesse zu erregen; solche Erbschaften, in welchen der sittliche Gedanke des Rechts erloschen sei, sollten an das gemeine Gut heimfallen. Baumeister, der scharfsinnige Bearbeiter des vormals Hamburgischen Rechts, geht kaum zu weit, wenn er verächtlich und spöttisch sagt, mit demselben Recht, mit dem das Gesetz entfernten Verwandten den Nachlaß in den Schoß wirft, könne man alle diejenigen zu Erben berufen, die an demselben Tage geboren sind wie der Erblasser, oder die dieselbe Hausnummer haben wie er. Der Pandektist Baron spricht sich folgendermaßen aus: „An Stelle der zerstörten Familie ist die Gemeinde resp. Staat getreten. Die Vormundschaft wird von Staat und Gemeinde überwacht; der Gemeinde hat man die volle Unterstützungs¬ und Alimentierungspfltcht auferlegt; täglich mehren sich die Leistungen des Staates und der Gemeinde. Während die Familienbeziehungen sich täglich immer mehr lösen, vervielfältigen sich die Beziehungen des Bürgers zu Staat und Gemeinde; man genoß früher Ansehen und Schutz als Mitglied einer mächtigen Familie, jetzt als Bürger eines mächtigen Staates." In der Betonung des Staatsgedankens begegnet sich der Romanist Baron mit dem Germanisten Bluntschli. Bluntschli dringt noch tiefer in das Wesen der Sache ein. In klarer Erkenntnis der Grenzen des Erbrechts und voll warmer Vaterlandsliebe ruft er aus: Der einzelne ist ein Kind seiner Eltern, ein Angehöriger seiner Familie; er ist aber auch ein Kind der Gemeinde und des Landes, denen er zugehört. Ist er mit seiner Sippschaft durch tausend feine Beziehungen seiner leiblichen und seelischen Anlage, wie seiner Erziehung und seiner Lebenswege verbunden, so wirken auch die Einrichtungen und die Einflüsse seiner Heimat und seines Vaterlandes sehr bestimmend ein auf seine ganze Existenz. Sein Körper empfängt die Eindrücke der Volksart, und seine Seele erhält einen großen Teil ihrer Bildung durch die Sprache des Landes, die Sitten seines Wohnorts, die Geschichte seines Volks. Der tüchtige Bürger hat auch ein Verständnis und ein Interesse für die Wohlfahrt seines Heimatsortes und seines Vaterlandes. Auf diese äußere und innere Lebensgemeinschaft, auf die Pflichten der einzelnen gegen die Gemeinde und den Staat läßt sich ein Erbrecht der Gemeinde und des Staats sehr wohl begründen. . . Die Notwendigkeit einer derartigen Reform

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/494>, abgerufen am 10.06.2024.