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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Pseudokonservativismus in der Schule

Angesichts dieser Zahlen beriet die erste Berliner Schulkonferenz die Fragen:
"Inwieweit ist es, auch bei Verminderung der Gesamtzahl der Schulstunden,
möglich, durch intensiven methodischen Unterricht die Hauptarbeit in die Schule
zu verlegen, namentlich in den unteren Klassen?" und: "Was hat zur weiteren
Hebung des gegenwärtig meist in zwei Wochenstunden und vielfach an große
Abteilungen erteilten Turnunterrichts zu geschehen, und welche sonstigen Ein-
richtungen zur körperlichen Ausbildung der Jugend sind zu pflegen?" Die
Konferenz faßte den Beschluß: "Die von der Konferenz vorgeschlagene Ver¬
minderung der wöchentlichen Lehrstunden darf nicht eine Vermehrung der häus¬
lichen Arbeiten zur Folge haben", und erklärte als "unerläßliche, wenn auch
in ihrer Verwirklichung nach den örtlichen Verhältnissen zu bemessende Vor¬
bedingungen zur Erfüllung der an Lehrer und Schüler zu stellenden Forde¬
rungen . . . Pflege der Spiele und körperlichen Übungen, welche letztere als
tägliche Aufgabe zu bezeichnen sind, insbesondere also Verstärkung und Hebung
des Turnunterrichts, Erteilung desselben womöglich durch Lehrer der Anstalt;
Begünstigung der Pflege des Körpers und der Erfüllung der Forderungen der
Schulhygiene, Kontrolle der letzteren durch einen Schularzt, Unterweisung der
Lehrer und Schüler in den Grundsätzen der Hygiene, sowie in der ersten Hülfs¬
leistung bei Unglücksfällen". Eine der Thesen des hessischen Geheimen Ober¬
schulrats Dr. Schiller, die durch diese Beschlüsse erledigt wurden, hatte gelautet:
"Auf allen Stufen ist zum Zwecke der Bekämpfung der Schulmyopie die häusliche
Schreibarbeit erheblich zu beschränken und durch Aufgaben zu ersetzen, welche
die Selbsttätigkeit des Schülers mehr fördern. Namentlich sind Aufgaben zu
wählen, welche von selbst zu freier Arbeit des Schülers und zur Entwicklung
seiner besonderen Anlagen und Neigungen überleiten. Die häuslichen fremd¬
sprachlichen schriftlichen Übungen (Exerzitien und Aufsätze) sind entbehrlich, und
die deutschen Aufsätze können mit Vorteil teilweise durch kleine freie Schularbeiten
ersetzt werden."

Die Einwände und Bedenken, die gegen Schillers These vorgebracht wurden,
waren aus Optimismus gegenüber den in den Schulen herrschenden Gesundheits¬
schäden und aus Pessimismus gegenüber der Jugend seltsam gemischt.

Da äußerte sich ein Konferenzmitglied über die Schülermyopie folgender¬
maßen : "Die Frage ... wie weit die Schule an der um sich greifenden Myopie
schuld ist, kann ich nicht beurteilen. Selbstverständlich bringt ja, wie ein geehrter
Herr Vorredner schon hervorgehoben hat, die Beschäftigung mit nahen Gegen¬
ständen die Gefahr mit, daß das Auge auf nahe Gegenstände sich einrichtet;
das ist bei vielen Beschäftigungen der Fall, ohne daß wir unsere Sorge auf
diese Beschäftigungen ausdehnen können. Ich habe aber den Eindruck, daß ich
zu den Bekämpfungsmitteln der Myopie, die der Herr Geheimrat Dr. Schiller
vorschlägt, noch ein anderes hinzufügen kann. Mit Freuden habe ich den Vor¬
schlag des Herrn Geheimrath Dr. Graf begrüßt, daß für jede Schule ein
Schularzt angestellt werden soll. Nun, meine Herren, geben wir dem Schularzt


Pseudokonservativismus in der Schule

Angesichts dieser Zahlen beriet die erste Berliner Schulkonferenz die Fragen:
„Inwieweit ist es, auch bei Verminderung der Gesamtzahl der Schulstunden,
möglich, durch intensiven methodischen Unterricht die Hauptarbeit in die Schule
zu verlegen, namentlich in den unteren Klassen?" und: „Was hat zur weiteren
Hebung des gegenwärtig meist in zwei Wochenstunden und vielfach an große
Abteilungen erteilten Turnunterrichts zu geschehen, und welche sonstigen Ein-
richtungen zur körperlichen Ausbildung der Jugend sind zu pflegen?" Die
Konferenz faßte den Beschluß: „Die von der Konferenz vorgeschlagene Ver¬
minderung der wöchentlichen Lehrstunden darf nicht eine Vermehrung der häus¬
lichen Arbeiten zur Folge haben", und erklärte als „unerläßliche, wenn auch
in ihrer Verwirklichung nach den örtlichen Verhältnissen zu bemessende Vor¬
bedingungen zur Erfüllung der an Lehrer und Schüler zu stellenden Forde¬
rungen . . . Pflege der Spiele und körperlichen Übungen, welche letztere als
tägliche Aufgabe zu bezeichnen sind, insbesondere also Verstärkung und Hebung
des Turnunterrichts, Erteilung desselben womöglich durch Lehrer der Anstalt;
Begünstigung der Pflege des Körpers und der Erfüllung der Forderungen der
Schulhygiene, Kontrolle der letzteren durch einen Schularzt, Unterweisung der
Lehrer und Schüler in den Grundsätzen der Hygiene, sowie in der ersten Hülfs¬
leistung bei Unglücksfällen". Eine der Thesen des hessischen Geheimen Ober¬
schulrats Dr. Schiller, die durch diese Beschlüsse erledigt wurden, hatte gelautet:
„Auf allen Stufen ist zum Zwecke der Bekämpfung der Schulmyopie die häusliche
Schreibarbeit erheblich zu beschränken und durch Aufgaben zu ersetzen, welche
die Selbsttätigkeit des Schülers mehr fördern. Namentlich sind Aufgaben zu
wählen, welche von selbst zu freier Arbeit des Schülers und zur Entwicklung
seiner besonderen Anlagen und Neigungen überleiten. Die häuslichen fremd¬
sprachlichen schriftlichen Übungen (Exerzitien und Aufsätze) sind entbehrlich, und
die deutschen Aufsätze können mit Vorteil teilweise durch kleine freie Schularbeiten
ersetzt werden."

Die Einwände und Bedenken, die gegen Schillers These vorgebracht wurden,
waren aus Optimismus gegenüber den in den Schulen herrschenden Gesundheits¬
schäden und aus Pessimismus gegenüber der Jugend seltsam gemischt.

Da äußerte sich ein Konferenzmitglied über die Schülermyopie folgender¬
maßen : „Die Frage ... wie weit die Schule an der um sich greifenden Myopie
schuld ist, kann ich nicht beurteilen. Selbstverständlich bringt ja, wie ein geehrter
Herr Vorredner schon hervorgehoben hat, die Beschäftigung mit nahen Gegen¬
ständen die Gefahr mit, daß das Auge auf nahe Gegenstände sich einrichtet;
das ist bei vielen Beschäftigungen der Fall, ohne daß wir unsere Sorge auf
diese Beschäftigungen ausdehnen können. Ich habe aber den Eindruck, daß ich
zu den Bekämpfungsmitteln der Myopie, die der Herr Geheimrat Dr. Schiller
vorschlägt, noch ein anderes hinzufügen kann. Mit Freuden habe ich den Vor¬
schlag des Herrn Geheimrath Dr. Graf begrüßt, daß für jede Schule ein
Schularzt angestellt werden soll. Nun, meine Herren, geben wir dem Schularzt


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[0558] Pseudokonservativismus in der Schule Angesichts dieser Zahlen beriet die erste Berliner Schulkonferenz die Fragen: „Inwieweit ist es, auch bei Verminderung der Gesamtzahl der Schulstunden, möglich, durch intensiven methodischen Unterricht die Hauptarbeit in die Schule zu verlegen, namentlich in den unteren Klassen?" und: „Was hat zur weiteren Hebung des gegenwärtig meist in zwei Wochenstunden und vielfach an große Abteilungen erteilten Turnunterrichts zu geschehen, und welche sonstigen Ein- richtungen zur körperlichen Ausbildung der Jugend sind zu pflegen?" Die Konferenz faßte den Beschluß: „Die von der Konferenz vorgeschlagene Ver¬ minderung der wöchentlichen Lehrstunden darf nicht eine Vermehrung der häus¬ lichen Arbeiten zur Folge haben", und erklärte als „unerläßliche, wenn auch in ihrer Verwirklichung nach den örtlichen Verhältnissen zu bemessende Vor¬ bedingungen zur Erfüllung der an Lehrer und Schüler zu stellenden Forde¬ rungen . . . Pflege der Spiele und körperlichen Übungen, welche letztere als tägliche Aufgabe zu bezeichnen sind, insbesondere also Verstärkung und Hebung des Turnunterrichts, Erteilung desselben womöglich durch Lehrer der Anstalt; Begünstigung der Pflege des Körpers und der Erfüllung der Forderungen der Schulhygiene, Kontrolle der letzteren durch einen Schularzt, Unterweisung der Lehrer und Schüler in den Grundsätzen der Hygiene, sowie in der ersten Hülfs¬ leistung bei Unglücksfällen". Eine der Thesen des hessischen Geheimen Ober¬ schulrats Dr. Schiller, die durch diese Beschlüsse erledigt wurden, hatte gelautet: „Auf allen Stufen ist zum Zwecke der Bekämpfung der Schulmyopie die häusliche Schreibarbeit erheblich zu beschränken und durch Aufgaben zu ersetzen, welche die Selbsttätigkeit des Schülers mehr fördern. Namentlich sind Aufgaben zu wählen, welche von selbst zu freier Arbeit des Schülers und zur Entwicklung seiner besonderen Anlagen und Neigungen überleiten. Die häuslichen fremd¬ sprachlichen schriftlichen Übungen (Exerzitien und Aufsätze) sind entbehrlich, und die deutschen Aufsätze können mit Vorteil teilweise durch kleine freie Schularbeiten ersetzt werden." Die Einwände und Bedenken, die gegen Schillers These vorgebracht wurden, waren aus Optimismus gegenüber den in den Schulen herrschenden Gesundheits¬ schäden und aus Pessimismus gegenüber der Jugend seltsam gemischt. Da äußerte sich ein Konferenzmitglied über die Schülermyopie folgender¬ maßen : „Die Frage ... wie weit die Schule an der um sich greifenden Myopie schuld ist, kann ich nicht beurteilen. Selbstverständlich bringt ja, wie ein geehrter Herr Vorredner schon hervorgehoben hat, die Beschäftigung mit nahen Gegen¬ ständen die Gefahr mit, daß das Auge auf nahe Gegenstände sich einrichtet; das ist bei vielen Beschäftigungen der Fall, ohne daß wir unsere Sorge auf diese Beschäftigungen ausdehnen können. Ich habe aber den Eindruck, daß ich zu den Bekämpfungsmitteln der Myopie, die der Herr Geheimrat Dr. Schiller vorschlägt, noch ein anderes hinzufügen kann. Mit Freuden habe ich den Vor¬ schlag des Herrn Geheimrath Dr. Graf begrüßt, daß für jede Schule ein Schularzt angestellt werden soll. Nun, meine Herren, geben wir dem Schularzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/558>, abgerufen am 17.06.2024.