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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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darauf ankommen, sich von dem ganzen Ernst
der voraussichtlichen Schädigung der eigenen
Kinder gründlich zu überzeugen. In allen
.Fällen dagegen, wo die hochgesteigerte Er-
werbslust, die die günstige Konjunktur nicht
versäumen will, wo die Pflege sogenannter
gesellschaftlicher Verpflichtungen, die auf Be¬
friedigung der Eitelkeit, auf Anknüpfung von
"Konnexionen" u, a, hinauslaufen, die Ursache
der Vernachlässigung der Familienpflichten
werden, ist durch eine bloße Sinnesänderung
das Übel aus dem Grunde zu heilen. Denn
unser deutsches Volk, das nach langer, langer
Zeit des Denkens und des Dichtens endlich
wieder ein Volk der Tat wurde und als Er¬
gänzung zu seinem Weltruhm in Kunst und
Wissenschaft sich auch als Handels- und Jn-
dustrievolk durch die Erzeugung materieller
Werte zu einem besonders gefährlichen Neben¬
buhler auf dem Weltmarkt emporschwang,
dieses Volk kann doch nicht wollen, daß dieser
neue Weltruhm erkauft werde mit der Ver-
kümmerung eines seiner allerherrlichsten und
allerwertvollsten Vorzüge, des Familiensinns.

Daß in allen den Fällen, wo die Um¬
stände sonst nur eine seltene Berührung der
Familienglieder während des Alltags gestatten,
das Tischgespräch in erster Linie die eigent¬
lichen Familienangelegenheiten zum Gegen¬
stand haben wird, ist nur natürlich. Aber
für ebenso natürlich halte ich es, daß gegen¬
über der Jugend, die den Vormittag über in
der Schule gewesen ist, dieses ihr Haupt¬
erlebnis am Tage auch als ein Hauptthema
eingeräumt wird. Vorausgesetzt wird dabei,
daß die Eltern im Laufe der Zeit den Kin¬
dern den Takt anerziehen, nicht im Übeln
Sinne "aus der Schule zu plaudern". Ja,
Goethe, der überall einen unerschöpflichen
Erfahrungsreichtum bedeutet, meinte sogar:
"Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn
nur die Eltern erzogener wären." Sonst
aber ist es durchaus erwünscht, daß das Kind
möglichst viel von dem äußeren und inneren
Leben in der Schule berichtet. Soll doch
jeder Lehrer so unterrichten, als ob die Eltern
beständig zugegen wären, denen er ja auf
alle Fälle verantwortlich ist. Was aber der
Schüler, auch der der höheren Lehranstalten,
von Sexta an bis hinauf nach Prima, auch
nur von einem einzige" Vormittag berichten

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önnte, enthält eine so erdrückende Fülle von
Bildungsstoffen, daß, wenn auch nur ein ge¬
ringer Teil davon zum Gegenstand des Ge¬
prächs wird, dies sehr ftuchtbareFolgen haben
kann. In der wünschenswertesten Weise wird
dadurch auch bei den Eltern wieder so manches
lebendig gemacht, was lange unter der Schwelle
des Bewußtseins gelegen, so manches angeregt,
was Veranlassung gibt, sich weiter danach
umzutun und die eigene Bildung zu ergänzen.
Mit dieser eigenen Allgemeinbildung steht es
nämlich heute gar nicht so besonders glänzend,
eine traurige Folge der frühen Zersplitterung
in Fachwissen und Berufswissen und der in¬
folge der Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit
des Lebens mangelnden Zeit.

Die Befürchtung aber, es brächte die
Jugend aus den gelehrten Schulen, zumal
aus dem humanistischen Gymnasium, ein ver¬
altetes Bildungsideal ins Haus, ist nicht ge¬
rechtfertigt. Auch auf dem Gymnasium und
gerade in den altsprachlichen Fächern wird
heute in einen: erfreulich hohen Grade die
Fühlung mit der Gegenwart hergestellt. Wenn
das große Publikum, auch das der sogenannten
Gebildeten, das noch nicht weiß, so liegt das
ganz wesentlich daran, daß es die Gelegenheit
nicht gehörig benutzt -- eben etwa in: Tisch¬
gespräch -- sich davon zu überzeugen. Gewiß
werden in der Regel bei einer Fmnilientisch-
unterhaltung nicht der binomische Lehrsatz
oder die verallgemeinernden Relativsätze aus
der griechischen Grammatik den fruchtbarsten
Schulstoff abgeben. Dafür tun es aber bei
hundertfältiger Gelegenheit die alte wie die
moderne Schriftstellerlektüre, die Geschichte und
Erdkunde, die Religion und Naturkunde, nicht
zu vergessen die sogenannten technischen Fächer,
wie Singen, Turnen und Zeichnen.

Es ist jetzt, und zwar mit vollem Recht,
so viel die Rede von der Notwendigkeit, die
heranwachsende Jugend in die Staatsbürger¬
kunde einzuführen. Wenn sie geradezu als
Unterrichtsgegenstand gefordert wird, so liegt
das, wie in so sehr vielen Fällen, daran, daß
das Haus nicht mehr eine ihm zufallende
Pflicht erfüllen kann oder will. Ich sehe da
nun in dem Tischgespräch eine ganz hervor¬
ragende Gelegenheit, dem gerecht zu werden.
Wenn die Eltern nur nicht die Mühe scheuen,
sich der dahingehender zahllosen Anregungen,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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darauf ankommen, sich von dem ganzen Ernst
der voraussichtlichen Schädigung der eigenen
Kinder gründlich zu überzeugen. In allen
.Fällen dagegen, wo die hochgesteigerte Er-
werbslust, die die günstige Konjunktur nicht
versäumen will, wo die Pflege sogenannter
gesellschaftlicher Verpflichtungen, die auf Be¬
friedigung der Eitelkeit, auf Anknüpfung von
„Konnexionen" u, a, hinauslaufen, die Ursache
der Vernachlässigung der Familienpflichten
werden, ist durch eine bloße Sinnesänderung
das Übel aus dem Grunde zu heilen. Denn
unser deutsches Volk, das nach langer, langer
Zeit des Denkens und des Dichtens endlich
wieder ein Volk der Tat wurde und als Er¬
gänzung zu seinem Weltruhm in Kunst und
Wissenschaft sich auch als Handels- und Jn-
dustrievolk durch die Erzeugung materieller
Werte zu einem besonders gefährlichen Neben¬
buhler auf dem Weltmarkt emporschwang,
dieses Volk kann doch nicht wollen, daß dieser
neue Weltruhm erkauft werde mit der Ver-
kümmerung eines seiner allerherrlichsten und
allerwertvollsten Vorzüge, des Familiensinns.

Daß in allen den Fällen, wo die Um¬
stände sonst nur eine seltene Berührung der
Familienglieder während des Alltags gestatten,
das Tischgespräch in erster Linie die eigent¬
lichen Familienangelegenheiten zum Gegen¬
stand haben wird, ist nur natürlich. Aber
für ebenso natürlich halte ich es, daß gegen¬
über der Jugend, die den Vormittag über in
der Schule gewesen ist, dieses ihr Haupt¬
erlebnis am Tage auch als ein Hauptthema
eingeräumt wird. Vorausgesetzt wird dabei,
daß die Eltern im Laufe der Zeit den Kin¬
dern den Takt anerziehen, nicht im Übeln
Sinne „aus der Schule zu plaudern". Ja,
Goethe, der überall einen unerschöpflichen
Erfahrungsreichtum bedeutet, meinte sogar:
„Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn
nur die Eltern erzogener wären." Sonst
aber ist es durchaus erwünscht, daß das Kind
möglichst viel von dem äußeren und inneren
Leben in der Schule berichtet. Soll doch
jeder Lehrer so unterrichten, als ob die Eltern
beständig zugegen wären, denen er ja auf
alle Fälle verantwortlich ist. Was aber der
Schüler, auch der der höheren Lehranstalten,
von Sexta an bis hinauf nach Prima, auch
nur von einem einzige» Vormittag berichten

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önnte, enthält eine so erdrückende Fülle von
Bildungsstoffen, daß, wenn auch nur ein ge¬
ringer Teil davon zum Gegenstand des Ge¬
prächs wird, dies sehr ftuchtbareFolgen haben
kann. In der wünschenswertesten Weise wird
dadurch auch bei den Eltern wieder so manches
lebendig gemacht, was lange unter der Schwelle
des Bewußtseins gelegen, so manches angeregt,
was Veranlassung gibt, sich weiter danach
umzutun und die eigene Bildung zu ergänzen.
Mit dieser eigenen Allgemeinbildung steht es
nämlich heute gar nicht so besonders glänzend,
eine traurige Folge der frühen Zersplitterung
in Fachwissen und Berufswissen und der in¬
folge der Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit
des Lebens mangelnden Zeit.

Die Befürchtung aber, es brächte die
Jugend aus den gelehrten Schulen, zumal
aus dem humanistischen Gymnasium, ein ver¬
altetes Bildungsideal ins Haus, ist nicht ge¬
rechtfertigt. Auch auf dem Gymnasium und
gerade in den altsprachlichen Fächern wird
heute in einen: erfreulich hohen Grade die
Fühlung mit der Gegenwart hergestellt. Wenn
das große Publikum, auch das der sogenannten
Gebildeten, das noch nicht weiß, so liegt das
ganz wesentlich daran, daß es die Gelegenheit
nicht gehörig benutzt — eben etwa in: Tisch¬
gespräch — sich davon zu überzeugen. Gewiß
werden in der Regel bei einer Fmnilientisch-
unterhaltung nicht der binomische Lehrsatz
oder die verallgemeinernden Relativsätze aus
der griechischen Grammatik den fruchtbarsten
Schulstoff abgeben. Dafür tun es aber bei
hundertfältiger Gelegenheit die alte wie die
moderne Schriftstellerlektüre, die Geschichte und
Erdkunde, die Religion und Naturkunde, nicht
zu vergessen die sogenannten technischen Fächer,
wie Singen, Turnen und Zeichnen.

Es ist jetzt, und zwar mit vollem Recht,
so viel die Rede von der Notwendigkeit, die
heranwachsende Jugend in die Staatsbürger¬
kunde einzuführen. Wenn sie geradezu als
Unterrichtsgegenstand gefordert wird, so liegt
das, wie in so sehr vielen Fällen, daran, daß
das Haus nicht mehr eine ihm zufallende
Pflicht erfüllen kann oder will. Ich sehe da
nun in dem Tischgespräch eine ganz hervor¬
ragende Gelegenheit, dem gerecht zu werden.
Wenn die Eltern nur nicht die Mühe scheuen,
sich der dahingehender zahllosen Anregungen,

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[0204] Maßgebliches und Unmaßgebliches darauf ankommen, sich von dem ganzen Ernst der voraussichtlichen Schädigung der eigenen Kinder gründlich zu überzeugen. In allen .Fällen dagegen, wo die hochgesteigerte Er- werbslust, die die günstige Konjunktur nicht versäumen will, wo die Pflege sogenannter gesellschaftlicher Verpflichtungen, die auf Be¬ friedigung der Eitelkeit, auf Anknüpfung von „Konnexionen" u, a, hinauslaufen, die Ursache der Vernachlässigung der Familienpflichten werden, ist durch eine bloße Sinnesänderung das Übel aus dem Grunde zu heilen. Denn unser deutsches Volk, das nach langer, langer Zeit des Denkens und des Dichtens endlich wieder ein Volk der Tat wurde und als Er¬ gänzung zu seinem Weltruhm in Kunst und Wissenschaft sich auch als Handels- und Jn- dustrievolk durch die Erzeugung materieller Werte zu einem besonders gefährlichen Neben¬ buhler auf dem Weltmarkt emporschwang, dieses Volk kann doch nicht wollen, daß dieser neue Weltruhm erkauft werde mit der Ver- kümmerung eines seiner allerherrlichsten und allerwertvollsten Vorzüge, des Familiensinns. Daß in allen den Fällen, wo die Um¬ stände sonst nur eine seltene Berührung der Familienglieder während des Alltags gestatten, das Tischgespräch in erster Linie die eigent¬ lichen Familienangelegenheiten zum Gegen¬ stand haben wird, ist nur natürlich. Aber für ebenso natürlich halte ich es, daß gegen¬ über der Jugend, die den Vormittag über in der Schule gewesen ist, dieses ihr Haupt¬ erlebnis am Tage auch als ein Hauptthema eingeräumt wird. Vorausgesetzt wird dabei, daß die Eltern im Laufe der Zeit den Kin¬ dern den Takt anerziehen, nicht im Übeln Sinne „aus der Schule zu plaudern". Ja, Goethe, der überall einen unerschöpflichen Erfahrungsreichtum bedeutet, meinte sogar: „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn nur die Eltern erzogener wären." Sonst aber ist es durchaus erwünscht, daß das Kind möglichst viel von dem äußeren und inneren Leben in der Schule berichtet. Soll doch jeder Lehrer so unterrichten, als ob die Eltern beständig zugegen wären, denen er ja auf alle Fälle verantwortlich ist. Was aber der Schüler, auch der der höheren Lehranstalten, von Sexta an bis hinauf nach Prima, auch nur von einem einzige» Vormittag berichten önnte, enthält eine so erdrückende Fülle von Bildungsstoffen, daß, wenn auch nur ein ge¬ ringer Teil davon zum Gegenstand des Ge¬ prächs wird, dies sehr ftuchtbareFolgen haben kann. In der wünschenswertesten Weise wird dadurch auch bei den Eltern wieder so manches lebendig gemacht, was lange unter der Schwelle des Bewußtseins gelegen, so manches angeregt, was Veranlassung gibt, sich weiter danach umzutun und die eigene Bildung zu ergänzen. Mit dieser eigenen Allgemeinbildung steht es nämlich heute gar nicht so besonders glänzend, eine traurige Folge der frühen Zersplitterung in Fachwissen und Berufswissen und der in¬ folge der Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit des Lebens mangelnden Zeit. Die Befürchtung aber, es brächte die Jugend aus den gelehrten Schulen, zumal aus dem humanistischen Gymnasium, ein ver¬ altetes Bildungsideal ins Haus, ist nicht ge¬ rechtfertigt. Auch auf dem Gymnasium und gerade in den altsprachlichen Fächern wird heute in einen: erfreulich hohen Grade die Fühlung mit der Gegenwart hergestellt. Wenn das große Publikum, auch das der sogenannten Gebildeten, das noch nicht weiß, so liegt das ganz wesentlich daran, daß es die Gelegenheit nicht gehörig benutzt — eben etwa in: Tisch¬ gespräch — sich davon zu überzeugen. Gewiß werden in der Regel bei einer Fmnilientisch- unterhaltung nicht der binomische Lehrsatz oder die verallgemeinernden Relativsätze aus der griechischen Grammatik den fruchtbarsten Schulstoff abgeben. Dafür tun es aber bei hundertfältiger Gelegenheit die alte wie die moderne Schriftstellerlektüre, die Geschichte und Erdkunde, die Religion und Naturkunde, nicht zu vergessen die sogenannten technischen Fächer, wie Singen, Turnen und Zeichnen. Es ist jetzt, und zwar mit vollem Recht, so viel die Rede von der Notwendigkeit, die heranwachsende Jugend in die Staatsbürger¬ kunde einzuführen. Wenn sie geradezu als Unterrichtsgegenstand gefordert wird, so liegt das, wie in so sehr vielen Fällen, daran, daß das Haus nicht mehr eine ihm zufallende Pflicht erfüllen kann oder will. Ich sehe da nun in dem Tischgespräch eine ganz hervor¬ ragende Gelegenheit, dem gerecht zu werden. Wenn die Eltern nur nicht die Mühe scheuen, sich der dahingehender zahllosen Anregungen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/204>, abgerufen am 18.05.2024.