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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus iLhina

Vorsitzenden der Examinationsbchörde für die Provinz Knäng-tung zu ihrem
Hauptvertreter hat, während die Leiter der Staatsprüfungen sonst gerade und
mit Recht als die typischen Repräsentanten des altchinesischen Konservativismus
angesehen werden. Gewiß ein lehrreiches Zeichen der Zeit. Sollte China
wirklich eine Wiedergeburt erleben, woran ich nach allem, was ich hier erlebt
und gesehen habe, felsenfest glaube, so wird sie sicherlich vom Süden ausgehen,
wo das Volk viel regeren Geistes und leichteren Temperaments und daher sür
neue Ideen viel leichter zugänglich ist, als im Norden. Die Mandschudynastie,
die sich im Norden vollkommen eingebürgert zu haben scheint, ist im Süden
allgemein verhaßt und das Verhältnis zwischen der chinesischen Bevölkerung und
den dort garnisonierenden Zivil- und Militärbehörden das denkbar schlechteste;
daher wohl auch die zu erwartende Umwälzung auf geistigem Gebiet von einer
politischen Revolution begleitet sein wird. Freilich gut Ding will Weile haben;
w China gilt dies noch weit mehr als anderswo, und lange genug wird es
noch dauern, ehe der Wellenschlag der neuen geistigen Bewegung das ungeheuere
Reich überflutet und den Thron der fremden Machthaber mit sich fortschwemmt --
aber man müßte blind sein, wollte man nicht schon jetzt das Grauen des
kommenden Tages sehen. Ein Volk, das mit seiner jahrtausendelangen Ge¬
schichte gleichsam wie ein Denkmal aus grauer Vorzeit dasteht, als ein Beispiel
ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit, das aus eigener schöpferischer
Kraft und fast ohne jeden fremden Einfluß eine Kultur hervorgebracht hat, die
uns bei all ihren Mängeln und Absonderlichkeiten Achtung und Bewunderung
abnötigt -- ein Volk, das so Großes vollbracht hat, dem kann und muß noch
Größeres gelingen!

Gestern (20. Nov.) früh um 8 Uhr verließen wir Canton, das uus in
unvergeßlich schöner Erinnerung bleiben wird, und kamen gegen 3 Uhr nach¬
mittags hier an. Mit einem Schlage waren wir in einer neuen Welt. Macao,
diese dreihundertfünfzig Jahre alte Gründung der einst glorreichen Portugiesen,
hat seinen portugiesischen Charakter bis auf den heutigen Tag treu bewahrt, ob¬
wohl die einstigen Eroberer durch vielfache Blutmischung mit Chinesen zu einer
verluderten und verkommenen Mischrasse degeneriert sind. Durch ihre entzückend
schöne Lage auf einer felsigen kleinen Halbinsel, die durch eine flache und schmale
Landzunge mit dem Festlands verbunden ist, erinnert die Stadt an Monte Carlo,
nicht minder aber auch dadurch, daß fast jedes dritte Haus eine Spielhölle in
sich birgt. Unser Vizekonsul H. in Hongkong, der mehrere Jahre in Brasilien
gelebt hat, sagte mir, daß man sich hier in Brasilien wähnen könnte. -- Heute
ist Sonntag, daher machten wir das Hochamt in der Kathedrale mit, um etwas
von der portugiesischen Bevölkerung zu sehen, -- denn auf den toten Straßen
mit ihren zum Teil stolzen Bauten, die von vergangener Pracht reden, sieht
man nur selten hier und da einen Menschen. Punkt 11 Uhr zog die Garnison
mit klingendem Spiel vor der Kathedrale auf, und gleichzeitig erschien der
Gouverneur mit seinen Damen und sonstigem Gefolge in schönen Galasänften.


Briefe aus iLhina

Vorsitzenden der Examinationsbchörde für die Provinz Knäng-tung zu ihrem
Hauptvertreter hat, während die Leiter der Staatsprüfungen sonst gerade und
mit Recht als die typischen Repräsentanten des altchinesischen Konservativismus
angesehen werden. Gewiß ein lehrreiches Zeichen der Zeit. Sollte China
wirklich eine Wiedergeburt erleben, woran ich nach allem, was ich hier erlebt
und gesehen habe, felsenfest glaube, so wird sie sicherlich vom Süden ausgehen,
wo das Volk viel regeren Geistes und leichteren Temperaments und daher sür
neue Ideen viel leichter zugänglich ist, als im Norden. Die Mandschudynastie,
die sich im Norden vollkommen eingebürgert zu haben scheint, ist im Süden
allgemein verhaßt und das Verhältnis zwischen der chinesischen Bevölkerung und
den dort garnisonierenden Zivil- und Militärbehörden das denkbar schlechteste;
daher wohl auch die zu erwartende Umwälzung auf geistigem Gebiet von einer
politischen Revolution begleitet sein wird. Freilich gut Ding will Weile haben;
w China gilt dies noch weit mehr als anderswo, und lange genug wird es
noch dauern, ehe der Wellenschlag der neuen geistigen Bewegung das ungeheuere
Reich überflutet und den Thron der fremden Machthaber mit sich fortschwemmt —
aber man müßte blind sein, wollte man nicht schon jetzt das Grauen des
kommenden Tages sehen. Ein Volk, das mit seiner jahrtausendelangen Ge¬
schichte gleichsam wie ein Denkmal aus grauer Vorzeit dasteht, als ein Beispiel
ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit, das aus eigener schöpferischer
Kraft und fast ohne jeden fremden Einfluß eine Kultur hervorgebracht hat, die
uns bei all ihren Mängeln und Absonderlichkeiten Achtung und Bewunderung
abnötigt — ein Volk, das so Großes vollbracht hat, dem kann und muß noch
Größeres gelingen!

Gestern (20. Nov.) früh um 8 Uhr verließen wir Canton, das uus in
unvergeßlich schöner Erinnerung bleiben wird, und kamen gegen 3 Uhr nach¬
mittags hier an. Mit einem Schlage waren wir in einer neuen Welt. Macao,
diese dreihundertfünfzig Jahre alte Gründung der einst glorreichen Portugiesen,
hat seinen portugiesischen Charakter bis auf den heutigen Tag treu bewahrt, ob¬
wohl die einstigen Eroberer durch vielfache Blutmischung mit Chinesen zu einer
verluderten und verkommenen Mischrasse degeneriert sind. Durch ihre entzückend
schöne Lage auf einer felsigen kleinen Halbinsel, die durch eine flache und schmale
Landzunge mit dem Festlands verbunden ist, erinnert die Stadt an Monte Carlo,
nicht minder aber auch dadurch, daß fast jedes dritte Haus eine Spielhölle in
sich birgt. Unser Vizekonsul H. in Hongkong, der mehrere Jahre in Brasilien
gelebt hat, sagte mir, daß man sich hier in Brasilien wähnen könnte. — Heute
ist Sonntag, daher machten wir das Hochamt in der Kathedrale mit, um etwas
von der portugiesischen Bevölkerung zu sehen, — denn auf den toten Straßen
mit ihren zum Teil stolzen Bauten, die von vergangener Pracht reden, sieht
man nur selten hier und da einen Menschen. Punkt 11 Uhr zog die Garnison
mit klingendem Spiel vor der Kathedrale auf, und gleichzeitig erschien der
Gouverneur mit seinen Damen und sonstigem Gefolge in schönen Galasänften.


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[0533] Briefe aus iLhina Vorsitzenden der Examinationsbchörde für die Provinz Knäng-tung zu ihrem Hauptvertreter hat, während die Leiter der Staatsprüfungen sonst gerade und mit Recht als die typischen Repräsentanten des altchinesischen Konservativismus angesehen werden. Gewiß ein lehrreiches Zeichen der Zeit. Sollte China wirklich eine Wiedergeburt erleben, woran ich nach allem, was ich hier erlebt und gesehen habe, felsenfest glaube, so wird sie sicherlich vom Süden ausgehen, wo das Volk viel regeren Geistes und leichteren Temperaments und daher sür neue Ideen viel leichter zugänglich ist, als im Norden. Die Mandschudynastie, die sich im Norden vollkommen eingebürgert zu haben scheint, ist im Süden allgemein verhaßt und das Verhältnis zwischen der chinesischen Bevölkerung und den dort garnisonierenden Zivil- und Militärbehörden das denkbar schlechteste; daher wohl auch die zu erwartende Umwälzung auf geistigem Gebiet von einer politischen Revolution begleitet sein wird. Freilich gut Ding will Weile haben; w China gilt dies noch weit mehr als anderswo, und lange genug wird es noch dauern, ehe der Wellenschlag der neuen geistigen Bewegung das ungeheuere Reich überflutet und den Thron der fremden Machthaber mit sich fortschwemmt — aber man müßte blind sein, wollte man nicht schon jetzt das Grauen des kommenden Tages sehen. Ein Volk, das mit seiner jahrtausendelangen Ge¬ schichte gleichsam wie ein Denkmal aus grauer Vorzeit dasteht, als ein Beispiel ohnegleichen in der Geschichte der Menschheit, das aus eigener schöpferischer Kraft und fast ohne jeden fremden Einfluß eine Kultur hervorgebracht hat, die uns bei all ihren Mängeln und Absonderlichkeiten Achtung und Bewunderung abnötigt — ein Volk, das so Großes vollbracht hat, dem kann und muß noch Größeres gelingen! Gestern (20. Nov.) früh um 8 Uhr verließen wir Canton, das uus in unvergeßlich schöner Erinnerung bleiben wird, und kamen gegen 3 Uhr nach¬ mittags hier an. Mit einem Schlage waren wir in einer neuen Welt. Macao, diese dreihundertfünfzig Jahre alte Gründung der einst glorreichen Portugiesen, hat seinen portugiesischen Charakter bis auf den heutigen Tag treu bewahrt, ob¬ wohl die einstigen Eroberer durch vielfache Blutmischung mit Chinesen zu einer verluderten und verkommenen Mischrasse degeneriert sind. Durch ihre entzückend schöne Lage auf einer felsigen kleinen Halbinsel, die durch eine flache und schmale Landzunge mit dem Festlands verbunden ist, erinnert die Stadt an Monte Carlo, nicht minder aber auch dadurch, daß fast jedes dritte Haus eine Spielhölle in sich birgt. Unser Vizekonsul H. in Hongkong, der mehrere Jahre in Brasilien gelebt hat, sagte mir, daß man sich hier in Brasilien wähnen könnte. — Heute ist Sonntag, daher machten wir das Hochamt in der Kathedrale mit, um etwas von der portugiesischen Bevölkerung zu sehen, — denn auf den toten Straßen mit ihren zum Teil stolzen Bauten, die von vergangener Pracht reden, sieht man nur selten hier und da einen Menschen. Punkt 11 Uhr zog die Garnison mit klingendem Spiel vor der Kathedrale auf, und gleichzeitig erschien der Gouverneur mit seinen Damen und sonstigem Gefolge in schönen Galasänften.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/533>, abgerufen am 27.05.2024.