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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Aehraus

Der tote Reichstag -- Ergebnisse seiner Tätigkeit -- Des Übels Grund -- Der neue
Reichstag

Der seit zweieinhalb Jahren "sterbende" Reichstag ist am 6. Dezember
endlich eines natürlichen und sanften Todes entschlafen. Recht froh sind wir
seiner, an dessen Wiege so viel nationale Hoffnungen standen, nicht geworden,
und den gesetzgeberischen Ergebnissen seiner Tätigkeit haben wir alle Ur¬
sache mit Skepsis gegenüberzustehen. Meist sind es Produkte einer durch nichts
gehemmten Kompromißpolitik, deren oberster Grundsatz lautet: irgendetwas
muß zustande kommen! Unter solchem Grundsatz leiden naturgemäß wissen¬
schaftliche und politische Prinzipien, und in den Gesetzen selbst finden wir keinen
logischen Zusammenhang der Emzelbestimmungen, sondern ein Mosaik von Einzel¬
interessen, die sich während der parlamentarischen Behandlung zur Geltung bringen
konnten. Solange Konservative und Liberale zusammengingen, wurde noch einiges
Einheitliches erzeugt: Das Reichsvereinsgesetz, das Börsengesetz und die Novelle
über- Majestätsbeleidigungen bedeuten gegenüber den früheren Zuständen recht
anerkennenswerte Fortschritte. Aber mit dem Zusammenbruch der "großen"
Reichsfinanzreform begann eine Ära der Gesetzmacherei, die den verbündeten
Regierungen noch manche harte Nuß zu knacken geben dürfte. Die elsaß-lothringische
Verfassungs- und Wahlrechtsreform, die Reichsversicherungsordnung, das Privat-
beamtenversicherungsgesetz und das Gesetz über die Reichswertzuwachssteuer -- alle
diese Gesetze tragen in vielen Punkten die Einwirkungen einer in den Sitzungssaal
des Reichstags verpflanzten Wahlagitation an der Stirne. Gerichte, Polizei und
Verwaltungsbeamte werden ebenso wie die einzelnen Staatsbürger die Mängel
aller dieser Gesetze bald zu spüren bekommen, diese durch vermehrte Unbequemlich¬
keiten und Kosten, jene durch vermehrte überflüssige Arbeit.

Für diese geringen Ergebnisse die Parteien des Reichstages allein oder auch
nur in erster Linie verantwortlich machen zu wollen, hieße indessen ihnen Unrecht
tun. Selbst das Versagen der Konservativen bei der Reichsfinanzreform, das wir
lebhaft bedauern, wird man verstehen, ja entschuldigen können, wenn man dem
Übel auf den Grund geht. Unser deutsches Regierungssystem, die Reichsver-




Reichsspiegel
Aehraus

Der tote Reichstag — Ergebnisse seiner Tätigkeit — Des Übels Grund — Der neue
Reichstag

Der seit zweieinhalb Jahren „sterbende" Reichstag ist am 6. Dezember
endlich eines natürlichen und sanften Todes entschlafen. Recht froh sind wir
seiner, an dessen Wiege so viel nationale Hoffnungen standen, nicht geworden,
und den gesetzgeberischen Ergebnissen seiner Tätigkeit haben wir alle Ur¬
sache mit Skepsis gegenüberzustehen. Meist sind es Produkte einer durch nichts
gehemmten Kompromißpolitik, deren oberster Grundsatz lautet: irgendetwas
muß zustande kommen! Unter solchem Grundsatz leiden naturgemäß wissen¬
schaftliche und politische Prinzipien, und in den Gesetzen selbst finden wir keinen
logischen Zusammenhang der Emzelbestimmungen, sondern ein Mosaik von Einzel¬
interessen, die sich während der parlamentarischen Behandlung zur Geltung bringen
konnten. Solange Konservative und Liberale zusammengingen, wurde noch einiges
Einheitliches erzeugt: Das Reichsvereinsgesetz, das Börsengesetz und die Novelle
über- Majestätsbeleidigungen bedeuten gegenüber den früheren Zuständen recht
anerkennenswerte Fortschritte. Aber mit dem Zusammenbruch der „großen"
Reichsfinanzreform begann eine Ära der Gesetzmacherei, die den verbündeten
Regierungen noch manche harte Nuß zu knacken geben dürfte. Die elsaß-lothringische
Verfassungs- und Wahlrechtsreform, die Reichsversicherungsordnung, das Privat-
beamtenversicherungsgesetz und das Gesetz über die Reichswertzuwachssteuer — alle
diese Gesetze tragen in vielen Punkten die Einwirkungen einer in den Sitzungssaal
des Reichstags verpflanzten Wahlagitation an der Stirne. Gerichte, Polizei und
Verwaltungsbeamte werden ebenso wie die einzelnen Staatsbürger die Mängel
aller dieser Gesetze bald zu spüren bekommen, diese durch vermehrte Unbequemlich¬
keiten und Kosten, jene durch vermehrte überflüssige Arbeit.

Für diese geringen Ergebnisse die Parteien des Reichstages allein oder auch
nur in erster Linie verantwortlich machen zu wollen, hieße indessen ihnen Unrecht
tun. Selbst das Versagen der Konservativen bei der Reichsfinanzreform, das wir
lebhaft bedauern, wird man verstehen, ja entschuldigen können, wenn man dem
Übel auf den Grund geht. Unser deutsches Regierungssystem, die Reichsver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/570>, abgerufen am 26.05.2024.