Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe aus Persien

Stellung lebte, dem ersten Kulturvolle und dem mächtigsten Reich der Erde
anzugehören. Als es aber nun nach und nach immer mehr offenbar wurde,
daß der Schah, in dem man noch die Verkörperung aller Macht zu sehen glaubte,
ein ohnmächtiges Werkzeug in den Händen ungläubiger Fremden war, da begann
der Kampf um Mitbeteiligung des Volkes an der Regierungsgewalt. Was man
eigentlich wollte war anfangs wohl nur den wenigsten klar. Das geht schon
daraus hervor, daß zunächst ausschließlich die fanatische Geistlichkeit die Bewegung
leitete und dabei eine recht unverhüllte Interessenpolitik trieb. Es kam also
zunächst in verschiedenen Städten zu Reibereien zwischen agitierenden Mullahs
und den Vertretern der absoluten Regierungsgewalt. Anfangs schien der Schah
dieser Schwierigkeiten leicht Herr werden zu können, erst eine ernstere Revolte
in Teheran im Frühjahr 1906 brachte das Faß zum Überlaufen. Zwar gelang
es noch ohne große Mühe den Aufstand selbst gewaltsam niederzuschlagen, aber
die erbitterte Bevölkerung schloß zum Zeichen des Protestes gegen die Regierungs¬
maßnahmen die Basare und nicht weniger als vierzehntausend Menschen gingen
in "Le8t" (Asyl) in die englische Gesandtschaft. Wenn man die herein¬
strömenden Leute nach dem Grunde ihrer Flucht fragte, so erhielt man von
99 Prozent die Antwort: "Weil alle andern hingehen". Nachdem man aber
vierzehn Tage lang dort gegessen, getrunken, gespielt und den Garten der
Gesandtschaft gründlich zertreten hatte, verbreitete sich plötzlich das Wort
,Ma8eKruteK", d. h. Verfassung, wie ein Lauffeuer unter den zusammengedrängten
Massen. Endlich wußte man was man wollte; die in der Stadt Zurückgebliebenen
griffen das Schlagwort gierig auf, die Agitation zog immer weitere Kreise mit
dem Erfolg, daß nach langwierigen Verhandlungen der an einem Schlaganfall
schwer krank daniederliegende Schah Muzzafer-Eddin, der nichts anderes wünschte,
als friedlich zu sterben, Ende 1906 die Verfassung unterzeichnete.

Gleich darauf starb er wirklich und hinterließ seinem Sohne Mehemed Ali
eine so schwierige Situation, daß nur ein ganz genialer Mann ihr gewachsen
gewesen wäre. Der Ex-Schah Mehemed Ali ist aber kein Genie. Eine andere
als die abgewirtschaftete Methode kannte er nicht. Seine ganze Sorge konzen¬
trierte sich von Anfang an hauptsächlich darauf, das nötige Kleingeld zum Leben
aufzutreiben. Denn die Kassen waren leer und an Stelle der von seinein
Großvater Nassr-Eddin hinterlassenen Ersparnisse war eine Schuldenlast vou über
90 Millionen getreten, deren Zinsen die spärlich fließenden Einnahmen fast
gänzlich absorbierten. Das Volk aber machte sich, wie immer bei einem System-
wechsel, die übertriebensten Vorstellungen von den Vorteilen der Verfassung,
deren wahre Bedeutung kaum einer richtig verstand. Fast jedermann verband
Mit dem Begriff -- Konstitution -- in erster Linie die Idee, daß er von nun
an nicht nur keine Steuern und Abgaben mehr zu zahlen brauche, sondern,
daß auch Schulden und Verbindlichkeiten für ihn nicht mehr existierten. Die
neu gebackenen Parlamentsmitglieder aber benahmen sich wie Kinder, die ein
Spielzeug bekommen haben und/ nichts - damit anzufangen 'wissen. Daß die


Briefe aus Persien

Stellung lebte, dem ersten Kulturvolle und dem mächtigsten Reich der Erde
anzugehören. Als es aber nun nach und nach immer mehr offenbar wurde,
daß der Schah, in dem man noch die Verkörperung aller Macht zu sehen glaubte,
ein ohnmächtiges Werkzeug in den Händen ungläubiger Fremden war, da begann
der Kampf um Mitbeteiligung des Volkes an der Regierungsgewalt. Was man
eigentlich wollte war anfangs wohl nur den wenigsten klar. Das geht schon
daraus hervor, daß zunächst ausschließlich die fanatische Geistlichkeit die Bewegung
leitete und dabei eine recht unverhüllte Interessenpolitik trieb. Es kam also
zunächst in verschiedenen Städten zu Reibereien zwischen agitierenden Mullahs
und den Vertretern der absoluten Regierungsgewalt. Anfangs schien der Schah
dieser Schwierigkeiten leicht Herr werden zu können, erst eine ernstere Revolte
in Teheran im Frühjahr 1906 brachte das Faß zum Überlaufen. Zwar gelang
es noch ohne große Mühe den Aufstand selbst gewaltsam niederzuschlagen, aber
die erbitterte Bevölkerung schloß zum Zeichen des Protestes gegen die Regierungs¬
maßnahmen die Basare und nicht weniger als vierzehntausend Menschen gingen
in „Le8t" (Asyl) in die englische Gesandtschaft. Wenn man die herein¬
strömenden Leute nach dem Grunde ihrer Flucht fragte, so erhielt man von
99 Prozent die Antwort: „Weil alle andern hingehen". Nachdem man aber
vierzehn Tage lang dort gegessen, getrunken, gespielt und den Garten der
Gesandtschaft gründlich zertreten hatte, verbreitete sich plötzlich das Wort
,Ma8eKruteK", d. h. Verfassung, wie ein Lauffeuer unter den zusammengedrängten
Massen. Endlich wußte man was man wollte; die in der Stadt Zurückgebliebenen
griffen das Schlagwort gierig auf, die Agitation zog immer weitere Kreise mit
dem Erfolg, daß nach langwierigen Verhandlungen der an einem Schlaganfall
schwer krank daniederliegende Schah Muzzafer-Eddin, der nichts anderes wünschte,
als friedlich zu sterben, Ende 1906 die Verfassung unterzeichnete.

Gleich darauf starb er wirklich und hinterließ seinem Sohne Mehemed Ali
eine so schwierige Situation, daß nur ein ganz genialer Mann ihr gewachsen
gewesen wäre. Der Ex-Schah Mehemed Ali ist aber kein Genie. Eine andere
als die abgewirtschaftete Methode kannte er nicht. Seine ganze Sorge konzen¬
trierte sich von Anfang an hauptsächlich darauf, das nötige Kleingeld zum Leben
aufzutreiben. Denn die Kassen waren leer und an Stelle der von seinein
Großvater Nassr-Eddin hinterlassenen Ersparnisse war eine Schuldenlast vou über
90 Millionen getreten, deren Zinsen die spärlich fließenden Einnahmen fast
gänzlich absorbierten. Das Volk aber machte sich, wie immer bei einem System-
wechsel, die übertriebensten Vorstellungen von den Vorteilen der Verfassung,
deren wahre Bedeutung kaum einer richtig verstand. Fast jedermann verband
Mit dem Begriff — Konstitution — in erster Linie die Idee, daß er von nun
an nicht nur keine Steuern und Abgaben mehr zu zahlen brauche, sondern,
daß auch Schulden und Verbindlichkeiten für ihn nicht mehr existierten. Die
neu gebackenen Parlamentsmitglieder aber benahmen sich wie Kinder, die ein
Spielzeug bekommen haben und/ nichts - damit anzufangen 'wissen. Daß die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320549"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe aus Persien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_473" prev="#ID_472"> Stellung lebte, dem ersten Kulturvolle und dem mächtigsten Reich der Erde<lb/>
anzugehören. Als es aber nun nach und nach immer mehr offenbar wurde,<lb/>
daß der Schah, in dem man noch die Verkörperung aller Macht zu sehen glaubte,<lb/>
ein ohnmächtiges Werkzeug in den Händen ungläubiger Fremden war, da begann<lb/>
der Kampf um Mitbeteiligung des Volkes an der Regierungsgewalt. Was man<lb/>
eigentlich wollte war anfangs wohl nur den wenigsten klar. Das geht schon<lb/>
daraus hervor, daß zunächst ausschließlich die fanatische Geistlichkeit die Bewegung<lb/>
leitete und dabei eine recht unverhüllte Interessenpolitik trieb. Es kam also<lb/>
zunächst in verschiedenen Städten zu Reibereien zwischen agitierenden Mullahs<lb/>
und den Vertretern der absoluten Regierungsgewalt. Anfangs schien der Schah<lb/>
dieser Schwierigkeiten leicht Herr werden zu können, erst eine ernstere Revolte<lb/>
in Teheran im Frühjahr 1906 brachte das Faß zum Überlaufen. Zwar gelang<lb/>
es noch ohne große Mühe den Aufstand selbst gewaltsam niederzuschlagen, aber<lb/>
die erbitterte Bevölkerung schloß zum Zeichen des Protestes gegen die Regierungs¬<lb/>
maßnahmen die Basare und nicht weniger als vierzehntausend Menschen gingen<lb/>
in &#x201E;Le8t" (Asyl) in die englische Gesandtschaft. Wenn man die herein¬<lb/>
strömenden Leute nach dem Grunde ihrer Flucht fragte, so erhielt man von<lb/>
99 Prozent die Antwort: &#x201E;Weil alle andern hingehen". Nachdem man aber<lb/>
vierzehn Tage lang dort gegessen, getrunken, gespielt und den Garten der<lb/>
Gesandtschaft gründlich zertreten hatte, verbreitete sich plötzlich das Wort<lb/>
,Ma8eKruteK", d. h. Verfassung, wie ein Lauffeuer unter den zusammengedrängten<lb/>
Massen. Endlich wußte man was man wollte; die in der Stadt Zurückgebliebenen<lb/>
griffen das Schlagwort gierig auf, die Agitation zog immer weitere Kreise mit<lb/>
dem Erfolg, daß nach langwierigen Verhandlungen der an einem Schlaganfall<lb/>
schwer krank daniederliegende Schah Muzzafer-Eddin, der nichts anderes wünschte,<lb/>
als friedlich zu sterben, Ende 1906 die Verfassung unterzeichnete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_474" next="#ID_475"> Gleich darauf starb er wirklich und hinterließ seinem Sohne Mehemed Ali<lb/>
eine so schwierige Situation, daß nur ein ganz genialer Mann ihr gewachsen<lb/>
gewesen wäre. Der Ex-Schah Mehemed Ali ist aber kein Genie. Eine andere<lb/>
als die abgewirtschaftete Methode kannte er nicht. Seine ganze Sorge konzen¬<lb/>
trierte sich von Anfang an hauptsächlich darauf, das nötige Kleingeld zum Leben<lb/>
aufzutreiben. Denn die Kassen waren leer und an Stelle der von seinein<lb/>
Großvater Nassr-Eddin hinterlassenen Ersparnisse war eine Schuldenlast vou über<lb/>
90 Millionen getreten, deren Zinsen die spärlich fließenden Einnahmen fast<lb/>
gänzlich absorbierten. Das Volk aber machte sich, wie immer bei einem System-<lb/>
wechsel, die übertriebensten Vorstellungen von den Vorteilen der Verfassung,<lb/>
deren wahre Bedeutung kaum einer richtig verstand. Fast jedermann verband<lb/>
Mit dem Begriff &#x2014; Konstitution &#x2014; in erster Linie die Idee, daß er von nun<lb/>
an nicht nur keine Steuern und Abgaben mehr zu zahlen brauche, sondern,<lb/>
daß auch Schulden und Verbindlichkeiten für ihn nicht mehr existierten. Die<lb/>
neu gebackenen Parlamentsmitglieder aber benahmen sich wie Kinder, die ein<lb/>
Spielzeug bekommen haben und/ nichts - damit anzufangen 'wissen.  Daß die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Briefe aus Persien Stellung lebte, dem ersten Kulturvolle und dem mächtigsten Reich der Erde anzugehören. Als es aber nun nach und nach immer mehr offenbar wurde, daß der Schah, in dem man noch die Verkörperung aller Macht zu sehen glaubte, ein ohnmächtiges Werkzeug in den Händen ungläubiger Fremden war, da begann der Kampf um Mitbeteiligung des Volkes an der Regierungsgewalt. Was man eigentlich wollte war anfangs wohl nur den wenigsten klar. Das geht schon daraus hervor, daß zunächst ausschließlich die fanatische Geistlichkeit die Bewegung leitete und dabei eine recht unverhüllte Interessenpolitik trieb. Es kam also zunächst in verschiedenen Städten zu Reibereien zwischen agitierenden Mullahs und den Vertretern der absoluten Regierungsgewalt. Anfangs schien der Schah dieser Schwierigkeiten leicht Herr werden zu können, erst eine ernstere Revolte in Teheran im Frühjahr 1906 brachte das Faß zum Überlaufen. Zwar gelang es noch ohne große Mühe den Aufstand selbst gewaltsam niederzuschlagen, aber die erbitterte Bevölkerung schloß zum Zeichen des Protestes gegen die Regierungs¬ maßnahmen die Basare und nicht weniger als vierzehntausend Menschen gingen in „Le8t" (Asyl) in die englische Gesandtschaft. Wenn man die herein¬ strömenden Leute nach dem Grunde ihrer Flucht fragte, so erhielt man von 99 Prozent die Antwort: „Weil alle andern hingehen". Nachdem man aber vierzehn Tage lang dort gegessen, getrunken, gespielt und den Garten der Gesandtschaft gründlich zertreten hatte, verbreitete sich plötzlich das Wort ,Ma8eKruteK", d. h. Verfassung, wie ein Lauffeuer unter den zusammengedrängten Massen. Endlich wußte man was man wollte; die in der Stadt Zurückgebliebenen griffen das Schlagwort gierig auf, die Agitation zog immer weitere Kreise mit dem Erfolg, daß nach langwierigen Verhandlungen der an einem Schlaganfall schwer krank daniederliegende Schah Muzzafer-Eddin, der nichts anderes wünschte, als friedlich zu sterben, Ende 1906 die Verfassung unterzeichnete. Gleich darauf starb er wirklich und hinterließ seinem Sohne Mehemed Ali eine so schwierige Situation, daß nur ein ganz genialer Mann ihr gewachsen gewesen wäre. Der Ex-Schah Mehemed Ali ist aber kein Genie. Eine andere als die abgewirtschaftete Methode kannte er nicht. Seine ganze Sorge konzen¬ trierte sich von Anfang an hauptsächlich darauf, das nötige Kleingeld zum Leben aufzutreiben. Denn die Kassen waren leer und an Stelle der von seinein Großvater Nassr-Eddin hinterlassenen Ersparnisse war eine Schuldenlast vou über 90 Millionen getreten, deren Zinsen die spärlich fließenden Einnahmen fast gänzlich absorbierten. Das Volk aber machte sich, wie immer bei einem System- wechsel, die übertriebensten Vorstellungen von den Vorteilen der Verfassung, deren wahre Bedeutung kaum einer richtig verstand. Fast jedermann verband Mit dem Begriff — Konstitution — in erster Linie die Idee, daß er von nun an nicht nur keine Steuern und Abgaben mehr zu zahlen brauche, sondern, daß auch Schulden und Verbindlichkeiten für ihn nicht mehr existierten. Die neu gebackenen Parlamentsmitglieder aber benahmen sich wie Kinder, die ein Spielzeug bekommen haben und/ nichts - damit anzufangen 'wissen. Daß die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/132>, abgerufen am 16.05.2024.