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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Landesverteidigung und Flottennovelle

hervorragende Engländer sich über einen Überfall als Kriegseinleitung geäußert
haben. Viele führende Köpfe jenseit des Kanals, politische und militärische,
geben Sir Frederick Pollock recht, der vor drei Jahren erklärte: "Ein See¬
befehlshaber ist vor der Kriegserklärung berechtigt loszuschlagen,
wenn er es für wichtig hält, den Gegner von der Einnahme einer
für ihn strategisch günstigen Stellung abzuhalten." Mit diesen Worten
wiederholt Sir Frederick Pollock nur, was englische Admiräle von je als ihr
gutes Recht angesehen haben. Als vor hundert Jahren der Bund der Nord¬
mächte dem Inselreich unbequem wurde, erschien Nelsons Geschwader vor
Kopenhagen, stellte ein Ultimatum und zerstörte die Flotte des dänischen Kron¬
prinzen, da man in so kurz bemessener Frist nicht Zeit fand, die politischen
Chancen abzuwägen.

Liegen heute die Verhältnisse zwischen England und Deutschland wesentlich
anders?

Die kritische Situation des Herbstes 1911 gibt hierüber Aufschluß. Zwei
Gegner schienen sich zu gemeinsamem Angriff gegen uns verbinden zu wollen.
Frankreich, dessen Revanchegedanke aus dem Marokkozwist neue Nahrung erhielt,
und England, das in dem aufstrebenden Deutschen Reich den wirtschaftlichen
und politischen Gegner sieht, den niederzuhalten mit allen in historischer Zeit
bewährten Mitteln Aufgabe der britischen Politik ist. Frankreich, als der infolge
des Marokkokonflikts an einem Kriege zunächst Interessierte, fühlte sich ohne
Englands Hilfe nicht stark genug. Als diese ihm zugesagt ward, scheint es sein
lebhafter Wunsch gewesen zu sein, daß das englische Expeditionskorps sich ihm
bereits zum ersten entscheidenden Schlag verbinde.

Englische Seeoffizierskreise vertreten die Ansicht, daß eine Landung auf dem
Kontinent erst möglich ist, wenn die deutsche Flotte aufgehört hat zu sein.
Hieraus ergibt sich für die Engländer der strategische Zwang, die deutsche Flotte
mit Beginn des Krieges zu vernichten und so für die Dauer des Krieges aus¬
zuschalten. Gelänge dies, dann stünden unserer Armee Hundertsechzigtausend
Mann mehr gegenüber, und der glückliche Ausgang des Landkrieges mag für
Deutschland erheblich erschwert werden können. (Vgl. hierzu den Aufsatz des
Herrn Generalleutnant v. Janson in Heft 51 von 1911 über die belgischen
Landbefestigungen. Die Schriftltg.)

Hieraus ergibt sich die Frage, ob die deutsche Seemacht in ihrer heutigen
Beschaffenheit überhaupt imstande ist, das Übersetzen eines Landuugskorps von
England zu hindern?

Militärische Rücksichten werden England zum Landen in Belgien zwingen.
Calais, wohin der schnellste und sicherste Weg führt, liegt zu weit entfernt von
dem Platz voraussichtlicher Entscheidung. Die aus achtunddreißig großen
Dampfern und vierzehn Kriegsfahrzeugen bestehende Transportflotte der
Amerikaner, die 1898 das Landungskorps von Key West nach Santiago bringen
sollte, hatte -- berechnet auf den Ausweisen der Reglements -- eine Längen-


Landesverteidigung und Flottennovelle

hervorragende Engländer sich über einen Überfall als Kriegseinleitung geäußert
haben. Viele führende Köpfe jenseit des Kanals, politische und militärische,
geben Sir Frederick Pollock recht, der vor drei Jahren erklärte: „Ein See¬
befehlshaber ist vor der Kriegserklärung berechtigt loszuschlagen,
wenn er es für wichtig hält, den Gegner von der Einnahme einer
für ihn strategisch günstigen Stellung abzuhalten." Mit diesen Worten
wiederholt Sir Frederick Pollock nur, was englische Admiräle von je als ihr
gutes Recht angesehen haben. Als vor hundert Jahren der Bund der Nord¬
mächte dem Inselreich unbequem wurde, erschien Nelsons Geschwader vor
Kopenhagen, stellte ein Ultimatum und zerstörte die Flotte des dänischen Kron¬
prinzen, da man in so kurz bemessener Frist nicht Zeit fand, die politischen
Chancen abzuwägen.

Liegen heute die Verhältnisse zwischen England und Deutschland wesentlich
anders?

Die kritische Situation des Herbstes 1911 gibt hierüber Aufschluß. Zwei
Gegner schienen sich zu gemeinsamem Angriff gegen uns verbinden zu wollen.
Frankreich, dessen Revanchegedanke aus dem Marokkozwist neue Nahrung erhielt,
und England, das in dem aufstrebenden Deutschen Reich den wirtschaftlichen
und politischen Gegner sieht, den niederzuhalten mit allen in historischer Zeit
bewährten Mitteln Aufgabe der britischen Politik ist. Frankreich, als der infolge
des Marokkokonflikts an einem Kriege zunächst Interessierte, fühlte sich ohne
Englands Hilfe nicht stark genug. Als diese ihm zugesagt ward, scheint es sein
lebhafter Wunsch gewesen zu sein, daß das englische Expeditionskorps sich ihm
bereits zum ersten entscheidenden Schlag verbinde.

Englische Seeoffizierskreise vertreten die Ansicht, daß eine Landung auf dem
Kontinent erst möglich ist, wenn die deutsche Flotte aufgehört hat zu sein.
Hieraus ergibt sich für die Engländer der strategische Zwang, die deutsche Flotte
mit Beginn des Krieges zu vernichten und so für die Dauer des Krieges aus¬
zuschalten. Gelänge dies, dann stünden unserer Armee Hundertsechzigtausend
Mann mehr gegenüber, und der glückliche Ausgang des Landkrieges mag für
Deutschland erheblich erschwert werden können. (Vgl. hierzu den Aufsatz des
Herrn Generalleutnant v. Janson in Heft 51 von 1911 über die belgischen
Landbefestigungen. Die Schriftltg.)

Hieraus ergibt sich die Frage, ob die deutsche Seemacht in ihrer heutigen
Beschaffenheit überhaupt imstande ist, das Übersetzen eines Landuugskorps von
England zu hindern?

Militärische Rücksichten werden England zum Landen in Belgien zwingen.
Calais, wohin der schnellste und sicherste Weg führt, liegt zu weit entfernt von
dem Platz voraussichtlicher Entscheidung. Die aus achtunddreißig großen
Dampfern und vierzehn Kriegsfahrzeugen bestehende Transportflotte der
Amerikaner, die 1898 das Landungskorps von Key West nach Santiago bringen
sollte, hatte — berechnet auf den Ausweisen der Reglements — eine Längen-


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[0266] Landesverteidigung und Flottennovelle hervorragende Engländer sich über einen Überfall als Kriegseinleitung geäußert haben. Viele führende Köpfe jenseit des Kanals, politische und militärische, geben Sir Frederick Pollock recht, der vor drei Jahren erklärte: „Ein See¬ befehlshaber ist vor der Kriegserklärung berechtigt loszuschlagen, wenn er es für wichtig hält, den Gegner von der Einnahme einer für ihn strategisch günstigen Stellung abzuhalten." Mit diesen Worten wiederholt Sir Frederick Pollock nur, was englische Admiräle von je als ihr gutes Recht angesehen haben. Als vor hundert Jahren der Bund der Nord¬ mächte dem Inselreich unbequem wurde, erschien Nelsons Geschwader vor Kopenhagen, stellte ein Ultimatum und zerstörte die Flotte des dänischen Kron¬ prinzen, da man in so kurz bemessener Frist nicht Zeit fand, die politischen Chancen abzuwägen. Liegen heute die Verhältnisse zwischen England und Deutschland wesentlich anders? Die kritische Situation des Herbstes 1911 gibt hierüber Aufschluß. Zwei Gegner schienen sich zu gemeinsamem Angriff gegen uns verbinden zu wollen. Frankreich, dessen Revanchegedanke aus dem Marokkozwist neue Nahrung erhielt, und England, das in dem aufstrebenden Deutschen Reich den wirtschaftlichen und politischen Gegner sieht, den niederzuhalten mit allen in historischer Zeit bewährten Mitteln Aufgabe der britischen Politik ist. Frankreich, als der infolge des Marokkokonflikts an einem Kriege zunächst Interessierte, fühlte sich ohne Englands Hilfe nicht stark genug. Als diese ihm zugesagt ward, scheint es sein lebhafter Wunsch gewesen zu sein, daß das englische Expeditionskorps sich ihm bereits zum ersten entscheidenden Schlag verbinde. Englische Seeoffizierskreise vertreten die Ansicht, daß eine Landung auf dem Kontinent erst möglich ist, wenn die deutsche Flotte aufgehört hat zu sein. Hieraus ergibt sich für die Engländer der strategische Zwang, die deutsche Flotte mit Beginn des Krieges zu vernichten und so für die Dauer des Krieges aus¬ zuschalten. Gelänge dies, dann stünden unserer Armee Hundertsechzigtausend Mann mehr gegenüber, und der glückliche Ausgang des Landkrieges mag für Deutschland erheblich erschwert werden können. (Vgl. hierzu den Aufsatz des Herrn Generalleutnant v. Janson in Heft 51 von 1911 über die belgischen Landbefestigungen. Die Schriftltg.) Hieraus ergibt sich die Frage, ob die deutsche Seemacht in ihrer heutigen Beschaffenheit überhaupt imstande ist, das Übersetzen eines Landuugskorps von England zu hindern? Militärische Rücksichten werden England zum Landen in Belgien zwingen. Calais, wohin der schnellste und sicherste Weg führt, liegt zu weit entfernt von dem Platz voraussichtlicher Entscheidung. Die aus achtunddreißig großen Dampfern und vierzehn Kriegsfahrzeugen bestehende Transportflotte der Amerikaner, die 1898 das Landungskorps von Key West nach Santiago bringen sollte, hatte — berechnet auf den Ausweisen der Reglements — eine Längen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/266>, abgerufen am 16.05.2024.