Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom "Geschmack" der Völker

ein grell lockendes Reklamebild, und der Stoff tat neben dem pikanten Bilde
schon an sich seine Schuldigkeit, um das Publikum heranzulocken. In diesem
und in den folgenden dänischen Films, die zum Teil in Verbrecherkreisen, auch
in der Artistenwelt spielten, die mit der Anknüpfung eines Liebesverhältnisses
auf der Straße begannen und mit einer Bluttat endigten, wurde immer gerade
so viel gezeigt, daß die Zensur nicht einschreiten konnte, und gerade so viel
angedeutet, daß die Instinkte des Publikums befriedigt wurden. Aber erotische
Tänze im Variötö, ein Gelage im Freudenhaus, eine Entführung im Automobil,
ein Kampf mit Zuhältern, das war doch immer genug, um das Publikum zu
locken! In neuester Zeit scheint allerdings die Nordische Filmgesellschaft die
Schauplätze des dänischen Filmdramas in eine höhere Sphäre, in die Sphäre
der besseren Gesellschaft legen zu wollen. sensationelle und lockende Szenen
lassen sich dabei aber doch noch genug einflechten. Ich will einige solcher
Szenen aus einem der neuesten dänischen Erzeugnisse kurz angeben.
Eine Turnstunde im Mädchenpensionat; die Schauspielerinnen, die die
Backfischchen darstellen, tragen höchst kokette Turnkostüme mit Kniehosen; die
beiden Freundinnen im Schlafzimmer; Abschied und Gute-Nachträgen, sie tragen
Nachthemden bis zur Erde, so daß das Bild unmöglich Anstoß erregen kann:
immerhin, pikant ist es; die eine Freundin wird Sängerin und hat ein Ver¬
hältnis'mit einem russischen Fürsten; die Sängerin im Boudoir, auf der Bühne,
in Gesellschaft. Gelegenheit zur Darstellung prachtvoller und tiefdekolletierter
Toiletten; die Sängerin besucht die verheiratete Freundin, und deren Mann
wendet sich ihr zu; er rettet sie beim Baden aus dem Meere; die Badegesellschaft
im Badekostüm; Entdeckung des Liebesverhältnisses durch die betrogene Frau;
diese duelliert sich mit der Freundin (I), Waffe: Stoßdegen, Kostüm: Rock und
Hemde; die Frau wird verwundet und 'verzeiht dem reuigen Gatten. Man
beachte, wie überall gerade immer bis zur Grenze gegangen wird und wie doch
in diesem einen einzigen Stück kaum mehr Sensationelles angehäuft werden
könnte. Das Gesamturteil über den dänischen Filu muß lauten: er weiß das
"Sittendrama" mit solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft,
für die Zensur unanfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte des
Publikums lockend zu gestalten, daß er heutzutage die größte Gefahr für die
Geschmacksbildung des Publikums bildet.

Wenn solche Blüten auf der Lichtbildbühne gedeihen, so ist es in der Tat
Zeit, daß man ihr genau dieselbe Beachtung schenkt, ihre schlimmen Einflüsse
ebenso einzudämmen versucht, als man es bei der Schundliteratur tut. Nach
meiner Ansicht wäre diese Aufgabe bei der Lichtbildbühne bedeutend leichter
auszuführen als bei der Schundliteratur. Die Grundsätze der Kontrolle über
die Films könnten mit leichter Mühe verschärft werden, die Konzesstonierung
der Lichtbildtheater könnte strenger gehandhabt werden, vor allem könnten diese
Theater, die sich trefflich rentieren, schärfer zur Steuer herangezogen werden.
Man darf sich aber nicht mit solchen prohibitiven Maßregeln begnügen. Es


vom „Geschmack" der Völker

ein grell lockendes Reklamebild, und der Stoff tat neben dem pikanten Bilde
schon an sich seine Schuldigkeit, um das Publikum heranzulocken. In diesem
und in den folgenden dänischen Films, die zum Teil in Verbrecherkreisen, auch
in der Artistenwelt spielten, die mit der Anknüpfung eines Liebesverhältnisses
auf der Straße begannen und mit einer Bluttat endigten, wurde immer gerade
so viel gezeigt, daß die Zensur nicht einschreiten konnte, und gerade so viel
angedeutet, daß die Instinkte des Publikums befriedigt wurden. Aber erotische
Tänze im Variötö, ein Gelage im Freudenhaus, eine Entführung im Automobil,
ein Kampf mit Zuhältern, das war doch immer genug, um das Publikum zu
locken! In neuester Zeit scheint allerdings die Nordische Filmgesellschaft die
Schauplätze des dänischen Filmdramas in eine höhere Sphäre, in die Sphäre
der besseren Gesellschaft legen zu wollen. sensationelle und lockende Szenen
lassen sich dabei aber doch noch genug einflechten. Ich will einige solcher
Szenen aus einem der neuesten dänischen Erzeugnisse kurz angeben.
Eine Turnstunde im Mädchenpensionat; die Schauspielerinnen, die die
Backfischchen darstellen, tragen höchst kokette Turnkostüme mit Kniehosen; die
beiden Freundinnen im Schlafzimmer; Abschied und Gute-Nachträgen, sie tragen
Nachthemden bis zur Erde, so daß das Bild unmöglich Anstoß erregen kann:
immerhin, pikant ist es; die eine Freundin wird Sängerin und hat ein Ver¬
hältnis'mit einem russischen Fürsten; die Sängerin im Boudoir, auf der Bühne,
in Gesellschaft. Gelegenheit zur Darstellung prachtvoller und tiefdekolletierter
Toiletten; die Sängerin besucht die verheiratete Freundin, und deren Mann
wendet sich ihr zu; er rettet sie beim Baden aus dem Meere; die Badegesellschaft
im Badekostüm; Entdeckung des Liebesverhältnisses durch die betrogene Frau;
diese duelliert sich mit der Freundin (I), Waffe: Stoßdegen, Kostüm: Rock und
Hemde; die Frau wird verwundet und 'verzeiht dem reuigen Gatten. Man
beachte, wie überall gerade immer bis zur Grenze gegangen wird und wie doch
in diesem einen einzigen Stück kaum mehr Sensationelles angehäuft werden
könnte. Das Gesamturteil über den dänischen Filu muß lauten: er weiß das
„Sittendrama" mit solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft,
für die Zensur unanfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte des
Publikums lockend zu gestalten, daß er heutzutage die größte Gefahr für die
Geschmacksbildung des Publikums bildet.

Wenn solche Blüten auf der Lichtbildbühne gedeihen, so ist es in der Tat
Zeit, daß man ihr genau dieselbe Beachtung schenkt, ihre schlimmen Einflüsse
ebenso einzudämmen versucht, als man es bei der Schundliteratur tut. Nach
meiner Ansicht wäre diese Aufgabe bei der Lichtbildbühne bedeutend leichter
auszuführen als bei der Schundliteratur. Die Grundsätze der Kontrolle über
die Films könnten mit leichter Mühe verschärft werden, die Konzesstonierung
der Lichtbildtheater könnte strenger gehandhabt werden, vor allem könnten diese
Theater, die sich trefflich rentieren, schärfer zur Steuer herangezogen werden.
Man darf sich aber nicht mit solchen prohibitiven Maßregeln begnügen. Es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0298" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320715"/>
          <fw type="header" place="top"> vom &#x201E;Geschmack" der Völker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1224" prev="#ID_1223"> ein grell lockendes Reklamebild, und der Stoff tat neben dem pikanten Bilde<lb/>
schon an sich seine Schuldigkeit, um das Publikum heranzulocken. In diesem<lb/>
und in den folgenden dänischen Films, die zum Teil in Verbrecherkreisen, auch<lb/>
in der Artistenwelt spielten, die mit der Anknüpfung eines Liebesverhältnisses<lb/>
auf der Straße begannen und mit einer Bluttat endigten, wurde immer gerade<lb/>
so viel gezeigt, daß die Zensur nicht einschreiten konnte, und gerade so viel<lb/>
angedeutet, daß die Instinkte des Publikums befriedigt wurden. Aber erotische<lb/>
Tänze im Variötö, ein Gelage im Freudenhaus, eine Entführung im Automobil,<lb/>
ein Kampf mit Zuhältern, das war doch immer genug, um das Publikum zu<lb/>
locken! In neuester Zeit scheint allerdings die Nordische Filmgesellschaft die<lb/>
Schauplätze des dänischen Filmdramas in eine höhere Sphäre, in die Sphäre<lb/>
der besseren Gesellschaft legen zu wollen. sensationelle und lockende Szenen<lb/>
lassen sich dabei aber doch noch genug einflechten. Ich will einige solcher<lb/>
Szenen aus einem der neuesten dänischen Erzeugnisse kurz angeben.<lb/>
Eine Turnstunde im Mädchenpensionat; die Schauspielerinnen, die die<lb/>
Backfischchen darstellen, tragen höchst kokette Turnkostüme mit Kniehosen; die<lb/>
beiden Freundinnen im Schlafzimmer; Abschied und Gute-Nachträgen, sie tragen<lb/>
Nachthemden bis zur Erde, so daß das Bild unmöglich Anstoß erregen kann:<lb/>
immerhin, pikant ist es; die eine Freundin wird Sängerin und hat ein Ver¬<lb/>
hältnis'mit einem russischen Fürsten; die Sängerin im Boudoir, auf der Bühne,<lb/>
in Gesellschaft. Gelegenheit zur Darstellung prachtvoller und tiefdekolletierter<lb/>
Toiletten; die Sängerin besucht die verheiratete Freundin, und deren Mann<lb/>
wendet sich ihr zu; er rettet sie beim Baden aus dem Meere; die Badegesellschaft<lb/>
im Badekostüm; Entdeckung des Liebesverhältnisses durch die betrogene Frau;<lb/>
diese duelliert sich mit der Freundin (I), Waffe: Stoßdegen, Kostüm: Rock und<lb/>
Hemde; die Frau wird verwundet und 'verzeiht dem reuigen Gatten. Man<lb/>
beachte, wie überall gerade immer bis zur Grenze gegangen wird und wie doch<lb/>
in diesem einen einzigen Stück kaum mehr Sensationelles angehäuft werden<lb/>
könnte. Das Gesamturteil über den dänischen Filu muß lauten: er weiß das<lb/>
&#x201E;Sittendrama" mit solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft,<lb/>
für die Zensur unanfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte des<lb/>
Publikums lockend zu gestalten, daß er heutzutage die größte Gefahr für die<lb/>
Geschmacksbildung des Publikums bildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1225" next="#ID_1226"> Wenn solche Blüten auf der Lichtbildbühne gedeihen, so ist es in der Tat<lb/>
Zeit, daß man ihr genau dieselbe Beachtung schenkt, ihre schlimmen Einflüsse<lb/>
ebenso einzudämmen versucht, als man es bei der Schundliteratur tut. Nach<lb/>
meiner Ansicht wäre diese Aufgabe bei der Lichtbildbühne bedeutend leichter<lb/>
auszuführen als bei der Schundliteratur. Die Grundsätze der Kontrolle über<lb/>
die Films könnten mit leichter Mühe verschärft werden, die Konzesstonierung<lb/>
der Lichtbildtheater könnte strenger gehandhabt werden, vor allem könnten diese<lb/>
Theater, die sich trefflich rentieren, schärfer zur Steuer herangezogen werden.<lb/>
Man darf sich aber nicht mit solchen prohibitiven Maßregeln begnügen. Es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0298] vom „Geschmack" der Völker ein grell lockendes Reklamebild, und der Stoff tat neben dem pikanten Bilde schon an sich seine Schuldigkeit, um das Publikum heranzulocken. In diesem und in den folgenden dänischen Films, die zum Teil in Verbrecherkreisen, auch in der Artistenwelt spielten, die mit der Anknüpfung eines Liebesverhältnisses auf der Straße begannen und mit einer Bluttat endigten, wurde immer gerade so viel gezeigt, daß die Zensur nicht einschreiten konnte, und gerade so viel angedeutet, daß die Instinkte des Publikums befriedigt wurden. Aber erotische Tänze im Variötö, ein Gelage im Freudenhaus, eine Entführung im Automobil, ein Kampf mit Zuhältern, das war doch immer genug, um das Publikum zu locken! In neuester Zeit scheint allerdings die Nordische Filmgesellschaft die Schauplätze des dänischen Filmdramas in eine höhere Sphäre, in die Sphäre der besseren Gesellschaft legen zu wollen. sensationelle und lockende Szenen lassen sich dabei aber doch noch genug einflechten. Ich will einige solcher Szenen aus einem der neuesten dänischen Erzeugnisse kurz angeben. Eine Turnstunde im Mädchenpensionat; die Schauspielerinnen, die die Backfischchen darstellen, tragen höchst kokette Turnkostüme mit Kniehosen; die beiden Freundinnen im Schlafzimmer; Abschied und Gute-Nachträgen, sie tragen Nachthemden bis zur Erde, so daß das Bild unmöglich Anstoß erregen kann: immerhin, pikant ist es; die eine Freundin wird Sängerin und hat ein Ver¬ hältnis'mit einem russischen Fürsten; die Sängerin im Boudoir, auf der Bühne, in Gesellschaft. Gelegenheit zur Darstellung prachtvoller und tiefdekolletierter Toiletten; die Sängerin besucht die verheiratete Freundin, und deren Mann wendet sich ihr zu; er rettet sie beim Baden aus dem Meere; die Badegesellschaft im Badekostüm; Entdeckung des Liebesverhältnisses durch die betrogene Frau; diese duelliert sich mit der Freundin (I), Waffe: Stoßdegen, Kostüm: Rock und Hemde; die Frau wird verwundet und 'verzeiht dem reuigen Gatten. Man beachte, wie überall gerade immer bis zur Grenze gegangen wird und wie doch in diesem einen einzigen Stück kaum mehr Sensationelles angehäuft werden könnte. Das Gesamturteil über den dänischen Filu muß lauten: er weiß das „Sittendrama" mit solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft, für die Zensur unanfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte des Publikums lockend zu gestalten, daß er heutzutage die größte Gefahr für die Geschmacksbildung des Publikums bildet. Wenn solche Blüten auf der Lichtbildbühne gedeihen, so ist es in der Tat Zeit, daß man ihr genau dieselbe Beachtung schenkt, ihre schlimmen Einflüsse ebenso einzudämmen versucht, als man es bei der Schundliteratur tut. Nach meiner Ansicht wäre diese Aufgabe bei der Lichtbildbühne bedeutend leichter auszuführen als bei der Schundliteratur. Die Grundsätze der Kontrolle über die Films könnten mit leichter Mühe verschärft werden, die Konzesstonierung der Lichtbildtheater könnte strenger gehandhabt werden, vor allem könnten diese Theater, die sich trefflich rentieren, schärfer zur Steuer herangezogen werden. Man darf sich aber nicht mit solchen prohibitiven Maßregeln begnügen. Es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/298
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/298>, abgerufen am 17.06.2024.