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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in Lnglcmd

der Liberalen saßen, freigestellt, dort zu bleiben oder zur Arbeiterpartei über¬
zutreten; nur etwa neu gewählte Abgeordnete mußten sich als Kandidaten schon
für die Arbeiterpartei im Parlament verpflichten. Aber auch dieser mächtige
und selbstbewußte Verband war nun doch grundsätzlich für eine selbständige
Arbeiterpolitik gewonnen und hat bisher die neue Richtlinie streng eingehalten,
wenn er sein Gewicht auch nach wie vor im Sinne einer nüchtern praktischen
Realpolitik und gegen eine theoretisch-sozialistische Prinzipienreiterei in die Wag¬
schale gelegt hat. Das war im Sinne einer weiteren ruhigeren Entwicklung
recht notwendig, denn der Wahlerfolg hatte einen Teil der erklärt sozialistischen
Elemente in der Arbeiterpartei und namentlich in der Iriciepenäent Labour
?art^ ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie erwarteten von ihm
nichts geringeres, als daß die damals dreißig Labommänner im Unterhause
nun ohne viele Vorreden dieses ganze "Bourgeois-Parlament" zu Paaren treiben
und binnen kurzem den sozialistischen Staat aufrichten würden. Doch das war
ein frommer Wahn. Die so dachten, hatten keine Ahnung von den Kräften
der Beharrung, die allen englischen Einrichtungen und nicht am wenigsten den
altehrwürdigen Körperschaften der Gemeinen und der Lords in Westminster
innewohnen. Sie konnten nicht entfernt ermessen, auf welch' einem glatten
Boden jene dreißig Abgeordnete sich bewegten, die damals auch rein partei¬
taktisch keineswegs in der Lage waren, etwas durchsetzen zu können. Die liberale
Negierung hatte zu jener Zeit noch eine große Mehrheit über die Konservativen,
Iren und Arbeiter zusammengenommen. Daß die Führer der Arbeiter so klug
waren, das einzusehen, und es dazu noch richtig vermieden, laut, turbulent und
demonstrativ aufzutreten, konnten manche Arbeiterkreise nicht verstehen. Die
dogmatisch-marxistische sozialdemokratische Partei tat ihr möglichstes, um die
optische Täuschung, der jene Kreise unterlagen, sür sich auszunutzen, d. h. gegen
die Politik der Arbeiterpartei zu Hetzen, und so entstand, wie E. Bernstein es
einmal in den sozialistischen Monatsheften ausdrückte, ein "Freischärlersozialismus
wider die Arbeiterpartei". Das erzeugte dann in anderen, namentlich Gewerk¬
schaftskreisen, die sozialistisch so wie so noch nicht ganz "durch" waren, einen
Gegendruck. Das Ergebnis war ^ein zeitweises Stocken der Gesamtbewegung
und demzufolge eine Verschlechterung der Stellung der Arbeiterpartei im Unter¬
hause. Am schärfsten prallten die Gegensätze in der I. L. P. aufeinander, wo,
wie I. Ramsay Macdonald im Mai 1909 in den sozialistischen Monatsheften
schrieb, "ein Flügel der Ungeduldigen", die "noch nicht antiparlamentarisch waren,
in deren Köpfen aber schon alle Keime antiparlamentarischer Begriffe spielten",
anfing, Ordnung und Disziplin zu untergraben. "Diese Gruppe fiel", um
wieder Macdonald zu zitieren, "auf die Agitationssprache zurück, die von der
sozialdemokratischen Partei vor der Gründung der I. L. P. geübt worden war
und die ganze Bewegung zum Stillstand gebracht hatte; die Kritik dieser Gruppe
bestand nicht in der Frage, warum tut die Arbeiterpartei nicht mehr, vielmehr
in der Frage, warum schreit sie nicht mehr." Kurz es machte sich der radikale


Der Sozialismus in Lnglcmd

der Liberalen saßen, freigestellt, dort zu bleiben oder zur Arbeiterpartei über¬
zutreten; nur etwa neu gewählte Abgeordnete mußten sich als Kandidaten schon
für die Arbeiterpartei im Parlament verpflichten. Aber auch dieser mächtige
und selbstbewußte Verband war nun doch grundsätzlich für eine selbständige
Arbeiterpolitik gewonnen und hat bisher die neue Richtlinie streng eingehalten,
wenn er sein Gewicht auch nach wie vor im Sinne einer nüchtern praktischen
Realpolitik und gegen eine theoretisch-sozialistische Prinzipienreiterei in die Wag¬
schale gelegt hat. Das war im Sinne einer weiteren ruhigeren Entwicklung
recht notwendig, denn der Wahlerfolg hatte einen Teil der erklärt sozialistischen
Elemente in der Arbeiterpartei und namentlich in der Iriciepenäent Labour
?art^ ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie erwarteten von ihm
nichts geringeres, als daß die damals dreißig Labommänner im Unterhause
nun ohne viele Vorreden dieses ganze „Bourgeois-Parlament" zu Paaren treiben
und binnen kurzem den sozialistischen Staat aufrichten würden. Doch das war
ein frommer Wahn. Die so dachten, hatten keine Ahnung von den Kräften
der Beharrung, die allen englischen Einrichtungen und nicht am wenigsten den
altehrwürdigen Körperschaften der Gemeinen und der Lords in Westminster
innewohnen. Sie konnten nicht entfernt ermessen, auf welch' einem glatten
Boden jene dreißig Abgeordnete sich bewegten, die damals auch rein partei¬
taktisch keineswegs in der Lage waren, etwas durchsetzen zu können. Die liberale
Negierung hatte zu jener Zeit noch eine große Mehrheit über die Konservativen,
Iren und Arbeiter zusammengenommen. Daß die Führer der Arbeiter so klug
waren, das einzusehen, und es dazu noch richtig vermieden, laut, turbulent und
demonstrativ aufzutreten, konnten manche Arbeiterkreise nicht verstehen. Die
dogmatisch-marxistische sozialdemokratische Partei tat ihr möglichstes, um die
optische Täuschung, der jene Kreise unterlagen, sür sich auszunutzen, d. h. gegen
die Politik der Arbeiterpartei zu Hetzen, und so entstand, wie E. Bernstein es
einmal in den sozialistischen Monatsheften ausdrückte, ein „Freischärlersozialismus
wider die Arbeiterpartei". Das erzeugte dann in anderen, namentlich Gewerk¬
schaftskreisen, die sozialistisch so wie so noch nicht ganz „durch" waren, einen
Gegendruck. Das Ergebnis war ^ein zeitweises Stocken der Gesamtbewegung
und demzufolge eine Verschlechterung der Stellung der Arbeiterpartei im Unter¬
hause. Am schärfsten prallten die Gegensätze in der I. L. P. aufeinander, wo,
wie I. Ramsay Macdonald im Mai 1909 in den sozialistischen Monatsheften
schrieb, „ein Flügel der Ungeduldigen", die „noch nicht antiparlamentarisch waren,
in deren Köpfen aber schon alle Keime antiparlamentarischer Begriffe spielten",
anfing, Ordnung und Disziplin zu untergraben. „Diese Gruppe fiel", um
wieder Macdonald zu zitieren, „auf die Agitationssprache zurück, die von der
sozialdemokratischen Partei vor der Gründung der I. L. P. geübt worden war
und die ganze Bewegung zum Stillstand gebracht hatte; die Kritik dieser Gruppe
bestand nicht in der Frage, warum tut die Arbeiterpartei nicht mehr, vielmehr
in der Frage, warum schreit sie nicht mehr." Kurz es machte sich der radikale


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[0333] Der Sozialismus in Lnglcmd der Liberalen saßen, freigestellt, dort zu bleiben oder zur Arbeiterpartei über¬ zutreten; nur etwa neu gewählte Abgeordnete mußten sich als Kandidaten schon für die Arbeiterpartei im Parlament verpflichten. Aber auch dieser mächtige und selbstbewußte Verband war nun doch grundsätzlich für eine selbständige Arbeiterpolitik gewonnen und hat bisher die neue Richtlinie streng eingehalten, wenn er sein Gewicht auch nach wie vor im Sinne einer nüchtern praktischen Realpolitik und gegen eine theoretisch-sozialistische Prinzipienreiterei in die Wag¬ schale gelegt hat. Das war im Sinne einer weiteren ruhigeren Entwicklung recht notwendig, denn der Wahlerfolg hatte einen Teil der erklärt sozialistischen Elemente in der Arbeiterpartei und namentlich in der Iriciepenäent Labour ?art^ ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie erwarteten von ihm nichts geringeres, als daß die damals dreißig Labommänner im Unterhause nun ohne viele Vorreden dieses ganze „Bourgeois-Parlament" zu Paaren treiben und binnen kurzem den sozialistischen Staat aufrichten würden. Doch das war ein frommer Wahn. Die so dachten, hatten keine Ahnung von den Kräften der Beharrung, die allen englischen Einrichtungen und nicht am wenigsten den altehrwürdigen Körperschaften der Gemeinen und der Lords in Westminster innewohnen. Sie konnten nicht entfernt ermessen, auf welch' einem glatten Boden jene dreißig Abgeordnete sich bewegten, die damals auch rein partei¬ taktisch keineswegs in der Lage waren, etwas durchsetzen zu können. Die liberale Negierung hatte zu jener Zeit noch eine große Mehrheit über die Konservativen, Iren und Arbeiter zusammengenommen. Daß die Führer der Arbeiter so klug waren, das einzusehen, und es dazu noch richtig vermieden, laut, turbulent und demonstrativ aufzutreten, konnten manche Arbeiterkreise nicht verstehen. Die dogmatisch-marxistische sozialdemokratische Partei tat ihr möglichstes, um die optische Täuschung, der jene Kreise unterlagen, sür sich auszunutzen, d. h. gegen die Politik der Arbeiterpartei zu Hetzen, und so entstand, wie E. Bernstein es einmal in den sozialistischen Monatsheften ausdrückte, ein „Freischärlersozialismus wider die Arbeiterpartei". Das erzeugte dann in anderen, namentlich Gewerk¬ schaftskreisen, die sozialistisch so wie so noch nicht ganz „durch" waren, einen Gegendruck. Das Ergebnis war ^ein zeitweises Stocken der Gesamtbewegung und demzufolge eine Verschlechterung der Stellung der Arbeiterpartei im Unter¬ hause. Am schärfsten prallten die Gegensätze in der I. L. P. aufeinander, wo, wie I. Ramsay Macdonald im Mai 1909 in den sozialistischen Monatsheften schrieb, „ein Flügel der Ungeduldigen", die „noch nicht antiparlamentarisch waren, in deren Köpfen aber schon alle Keime antiparlamentarischer Begriffe spielten", anfing, Ordnung und Disziplin zu untergraben. „Diese Gruppe fiel", um wieder Macdonald zu zitieren, „auf die Agitationssprache zurück, die von der sozialdemokratischen Partei vor der Gründung der I. L. P. geübt worden war und die ganze Bewegung zum Stillstand gebracht hatte; die Kritik dieser Gruppe bestand nicht in der Frage, warum tut die Arbeiterpartei nicht mehr, vielmehr in der Frage, warum schreit sie nicht mehr." Kurz es machte sich der radikale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/333>, abgerufen am 15.05.2024.