Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

tages einmütig zu leiten, miteinander verbinden? Ist nicht jeder von ihnen
der schärfste Gegner der beiden anderen? Sind es nicht drei feindliche Lager,
die da oben vor aller Welt thronen sollten?

Trotz allen diesen Gegensätzen konnte das Präsidium aus einem Ultra¬
montanen, einem Sozialdemokraten und einem Nationalliberalen doch noch als
arbeitsfähig bezeichnet werden, wenigstens als Provisorium, bis die Wogen des
Wahlkampfes abgeebt wären. Das aber ist schließlich die Hauptsache. Um so
bedauerlicher ist das Vorgehen der Sozialdemokraten. Sie haben sich bei der
Auswahl der Persönlichkeit ihres Kandidaten einer großen Taktlosigkeit schuldig
gemacht. Wie sich nach Vollzug der Wahl und nach Bekanntgabe der Kon¬
stituierung des Bureaus durch den eben gewählten Reichstagspräsidenten, Herrn
Spahn herausstellte, hatte Scheidemann sich im Jahre 1909 eine Entgleisung zu
Schulden kommen lassen, die es monarchisch denkenden Männern nicht möglich macht,
ihn zu ihrem Repräsentanten zu wählen. Ein Mann, der es wagte zu sagen,
"der Wortbruch gehöre zu den erhabensten Traditionen des in Preußen regie¬
renden Hauses," durfte nicht dafür in Frage gezogen werden, mit einem Hohen-
zollern als Beauftragter der deutschen Volksvertretung in Berührung zu kommen.
Diese Möglichkeit schließt eine Demütigung des Kaisers in sich, zu der sich
keine nationale, den monarchischen Gedanken hochhaltende Partei hergeben
darf. Herr spähn trat nach Bekanntwerden von Scheidemanns früherem Ver¬
gehen von seinem Posten zurück, und es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen,
daß auch Herr Paasche sein Amt niederlegt. Wäre Scheidemanns früheres Ver¬
halten den liberalen Abgeordneten rechtzeitig gegenwärtig gewesen, dann wäre
es zweifelsohne zu dieser Kandidatur überhaupt nicht gekommen.

Doch was geschieht weiter? Der Reichstag muß ein Präsidium haben und
dies muß zum wenigsten eine Garantie dafür bieten, daß es vier Wochen hin¬
durch die Geschäfte zu leiten versteht I Damit ist den Mehrheitsparteien die
gegenwärtige Aufgabe gestellt und, da die Rechte im Präsidium nicht vertreten
zu sein wünscht, müssen die Liberalen das Werk übernehmen, ohne Sentimen¬
talität, ohne falsche Scham und ohne Furcht vor den Angriffen von rechts und
aus den eigenen Reihen. Der Sieg der Rechten, der in dem schnellen Zusammen¬
bruch des ersten Präsidiums liegt, ist ein Pyrrhussieg, den die Linke sehr wohl
zu ihrem Vorteil ausnutzen könnte, wenn sie einigen Blick für Zukunftsmöglich¬
keiten behält.

Bei der wohl erst am Mittwoch stattfindenden Neuwahl des Präsidiums
werden Fragen von solcher Tragweite entschieden, wie sie im Leben der Parteien
und Parlamente nur selten gestellt werden. In die Hand der beiden liberalen
Parteien und der Sozialdemokraten ist die einstweilige Entscheidung darüber
gelegt, ob der neue Reichstag ein Reichstag der Reform sein soll, als der er
während des Wahlkampfes in Aussicht genommen wurde. Dennoch könnte die
nationalliberale Fraktion unter den einmal vorhandenen Verhältnissen, mit denen
jeder Politiker in Deutschland rechnen muß, nur dann geschlossen auf der Linken


Reichsspiegel

tages einmütig zu leiten, miteinander verbinden? Ist nicht jeder von ihnen
der schärfste Gegner der beiden anderen? Sind es nicht drei feindliche Lager,
die da oben vor aller Welt thronen sollten?

Trotz allen diesen Gegensätzen konnte das Präsidium aus einem Ultra¬
montanen, einem Sozialdemokraten und einem Nationalliberalen doch noch als
arbeitsfähig bezeichnet werden, wenigstens als Provisorium, bis die Wogen des
Wahlkampfes abgeebt wären. Das aber ist schließlich die Hauptsache. Um so
bedauerlicher ist das Vorgehen der Sozialdemokraten. Sie haben sich bei der
Auswahl der Persönlichkeit ihres Kandidaten einer großen Taktlosigkeit schuldig
gemacht. Wie sich nach Vollzug der Wahl und nach Bekanntgabe der Kon¬
stituierung des Bureaus durch den eben gewählten Reichstagspräsidenten, Herrn
Spahn herausstellte, hatte Scheidemann sich im Jahre 1909 eine Entgleisung zu
Schulden kommen lassen, die es monarchisch denkenden Männern nicht möglich macht,
ihn zu ihrem Repräsentanten zu wählen. Ein Mann, der es wagte zu sagen,
„der Wortbruch gehöre zu den erhabensten Traditionen des in Preußen regie¬
renden Hauses," durfte nicht dafür in Frage gezogen werden, mit einem Hohen-
zollern als Beauftragter der deutschen Volksvertretung in Berührung zu kommen.
Diese Möglichkeit schließt eine Demütigung des Kaisers in sich, zu der sich
keine nationale, den monarchischen Gedanken hochhaltende Partei hergeben
darf. Herr spähn trat nach Bekanntwerden von Scheidemanns früherem Ver¬
gehen von seinem Posten zurück, und es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen,
daß auch Herr Paasche sein Amt niederlegt. Wäre Scheidemanns früheres Ver¬
halten den liberalen Abgeordneten rechtzeitig gegenwärtig gewesen, dann wäre
es zweifelsohne zu dieser Kandidatur überhaupt nicht gekommen.

Doch was geschieht weiter? Der Reichstag muß ein Präsidium haben und
dies muß zum wenigsten eine Garantie dafür bieten, daß es vier Wochen hin¬
durch die Geschäfte zu leiten versteht I Damit ist den Mehrheitsparteien die
gegenwärtige Aufgabe gestellt und, da die Rechte im Präsidium nicht vertreten
zu sein wünscht, müssen die Liberalen das Werk übernehmen, ohne Sentimen¬
talität, ohne falsche Scham und ohne Furcht vor den Angriffen von rechts und
aus den eigenen Reihen. Der Sieg der Rechten, der in dem schnellen Zusammen¬
bruch des ersten Präsidiums liegt, ist ein Pyrrhussieg, den die Linke sehr wohl
zu ihrem Vorteil ausnutzen könnte, wenn sie einigen Blick für Zukunftsmöglich¬
keiten behält.

Bei der wohl erst am Mittwoch stattfindenden Neuwahl des Präsidiums
werden Fragen von solcher Tragweite entschieden, wie sie im Leben der Parteien
und Parlamente nur selten gestellt werden. In die Hand der beiden liberalen
Parteien und der Sozialdemokraten ist die einstweilige Entscheidung darüber
gelegt, ob der neue Reichstag ein Reichstag der Reform sein soll, als der er
während des Wahlkampfes in Aussicht genommen wurde. Dennoch könnte die
nationalliberale Fraktion unter den einmal vorhandenen Verhältnissen, mit denen
jeder Politiker in Deutschland rechnen muß, nur dann geschlossen auf der Linken


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320776"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1527" prev="#ID_1526"> tages einmütig zu leiten, miteinander verbinden? Ist nicht jeder von ihnen<lb/>
der schärfste Gegner der beiden anderen? Sind es nicht drei feindliche Lager,<lb/>
die da oben vor aller Welt thronen sollten?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1528"> Trotz allen diesen Gegensätzen konnte das Präsidium aus einem Ultra¬<lb/>
montanen, einem Sozialdemokraten und einem Nationalliberalen doch noch als<lb/>
arbeitsfähig bezeichnet werden, wenigstens als Provisorium, bis die Wogen des<lb/>
Wahlkampfes abgeebt wären. Das aber ist schließlich die Hauptsache. Um so<lb/>
bedauerlicher ist das Vorgehen der Sozialdemokraten. Sie haben sich bei der<lb/>
Auswahl der Persönlichkeit ihres Kandidaten einer großen Taktlosigkeit schuldig<lb/>
gemacht. Wie sich nach Vollzug der Wahl und nach Bekanntgabe der Kon¬<lb/>
stituierung des Bureaus durch den eben gewählten Reichstagspräsidenten, Herrn<lb/>
Spahn herausstellte, hatte Scheidemann sich im Jahre 1909 eine Entgleisung zu<lb/>
Schulden kommen lassen, die es monarchisch denkenden Männern nicht möglich macht,<lb/>
ihn zu ihrem Repräsentanten zu wählen. Ein Mann, der es wagte zu sagen,<lb/>
&#x201E;der Wortbruch gehöre zu den erhabensten Traditionen des in Preußen regie¬<lb/>
renden Hauses," durfte nicht dafür in Frage gezogen werden, mit einem Hohen-<lb/>
zollern als Beauftragter der deutschen Volksvertretung in Berührung zu kommen.<lb/>
Diese Möglichkeit schließt eine Demütigung des Kaisers in sich, zu der sich<lb/>
keine nationale, den monarchischen Gedanken hochhaltende Partei hergeben<lb/>
darf. Herr spähn trat nach Bekanntwerden von Scheidemanns früherem Ver¬<lb/>
gehen von seinem Posten zurück, und es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen,<lb/>
daß auch Herr Paasche sein Amt niederlegt. Wäre Scheidemanns früheres Ver¬<lb/>
halten den liberalen Abgeordneten rechtzeitig gegenwärtig gewesen, dann wäre<lb/>
es zweifelsohne zu dieser Kandidatur überhaupt nicht gekommen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1529"> Doch was geschieht weiter? Der Reichstag muß ein Präsidium haben und<lb/>
dies muß zum wenigsten eine Garantie dafür bieten, daß es vier Wochen hin¬<lb/>
durch die Geschäfte zu leiten versteht I Damit ist den Mehrheitsparteien die<lb/>
gegenwärtige Aufgabe gestellt und, da die Rechte im Präsidium nicht vertreten<lb/>
zu sein wünscht, müssen die Liberalen das Werk übernehmen, ohne Sentimen¬<lb/>
talität, ohne falsche Scham und ohne Furcht vor den Angriffen von rechts und<lb/>
aus den eigenen Reihen. Der Sieg der Rechten, der in dem schnellen Zusammen¬<lb/>
bruch des ersten Präsidiums liegt, ist ein Pyrrhussieg, den die Linke sehr wohl<lb/>
zu ihrem Vorteil ausnutzen könnte, wenn sie einigen Blick für Zukunftsmöglich¬<lb/>
keiten behält.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1530" next="#ID_1531"> Bei der wohl erst am Mittwoch stattfindenden Neuwahl des Präsidiums<lb/>
werden Fragen von solcher Tragweite entschieden, wie sie im Leben der Parteien<lb/>
und Parlamente nur selten gestellt werden. In die Hand der beiden liberalen<lb/>
Parteien und der Sozialdemokraten ist die einstweilige Entscheidung darüber<lb/>
gelegt, ob der neue Reichstag ein Reichstag der Reform sein soll, als der er<lb/>
während des Wahlkampfes in Aussicht genommen wurde. Dennoch könnte die<lb/>
nationalliberale Fraktion unter den einmal vorhandenen Verhältnissen, mit denen<lb/>
jeder Politiker in Deutschland rechnen muß, nur dann geschlossen auf der Linken</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Reichsspiegel tages einmütig zu leiten, miteinander verbinden? Ist nicht jeder von ihnen der schärfste Gegner der beiden anderen? Sind es nicht drei feindliche Lager, die da oben vor aller Welt thronen sollten? Trotz allen diesen Gegensätzen konnte das Präsidium aus einem Ultra¬ montanen, einem Sozialdemokraten und einem Nationalliberalen doch noch als arbeitsfähig bezeichnet werden, wenigstens als Provisorium, bis die Wogen des Wahlkampfes abgeebt wären. Das aber ist schließlich die Hauptsache. Um so bedauerlicher ist das Vorgehen der Sozialdemokraten. Sie haben sich bei der Auswahl der Persönlichkeit ihres Kandidaten einer großen Taktlosigkeit schuldig gemacht. Wie sich nach Vollzug der Wahl und nach Bekanntgabe der Kon¬ stituierung des Bureaus durch den eben gewählten Reichstagspräsidenten, Herrn Spahn herausstellte, hatte Scheidemann sich im Jahre 1909 eine Entgleisung zu Schulden kommen lassen, die es monarchisch denkenden Männern nicht möglich macht, ihn zu ihrem Repräsentanten zu wählen. Ein Mann, der es wagte zu sagen, „der Wortbruch gehöre zu den erhabensten Traditionen des in Preußen regie¬ renden Hauses," durfte nicht dafür in Frage gezogen werden, mit einem Hohen- zollern als Beauftragter der deutschen Volksvertretung in Berührung zu kommen. Diese Möglichkeit schließt eine Demütigung des Kaisers in sich, zu der sich keine nationale, den monarchischen Gedanken hochhaltende Partei hergeben darf. Herr spähn trat nach Bekanntwerden von Scheidemanns früherem Ver¬ gehen von seinem Posten zurück, und es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß auch Herr Paasche sein Amt niederlegt. Wäre Scheidemanns früheres Ver¬ halten den liberalen Abgeordneten rechtzeitig gegenwärtig gewesen, dann wäre es zweifelsohne zu dieser Kandidatur überhaupt nicht gekommen. Doch was geschieht weiter? Der Reichstag muß ein Präsidium haben und dies muß zum wenigsten eine Garantie dafür bieten, daß es vier Wochen hin¬ durch die Geschäfte zu leiten versteht I Damit ist den Mehrheitsparteien die gegenwärtige Aufgabe gestellt und, da die Rechte im Präsidium nicht vertreten zu sein wünscht, müssen die Liberalen das Werk übernehmen, ohne Sentimen¬ talität, ohne falsche Scham und ohne Furcht vor den Angriffen von rechts und aus den eigenen Reihen. Der Sieg der Rechten, der in dem schnellen Zusammen¬ bruch des ersten Präsidiums liegt, ist ein Pyrrhussieg, den die Linke sehr wohl zu ihrem Vorteil ausnutzen könnte, wenn sie einigen Blick für Zukunftsmöglich¬ keiten behält. Bei der wohl erst am Mittwoch stattfindenden Neuwahl des Präsidiums werden Fragen von solcher Tragweite entschieden, wie sie im Leben der Parteien und Parlamente nur selten gestellt werden. In die Hand der beiden liberalen Parteien und der Sozialdemokraten ist die einstweilige Entscheidung darüber gelegt, ob der neue Reichstag ein Reichstag der Reform sein soll, als der er während des Wahlkampfes in Aussicht genommen wurde. Dennoch könnte die nationalliberale Fraktion unter den einmal vorhandenen Verhältnissen, mit denen jeder Politiker in Deutschland rechnen muß, nur dann geschlossen auf der Linken

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/359>, abgerufen am 15.05.2024.