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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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!vio gewinnen wir die Arbeiterjugend?

seien gesunde, ehrliche, treue und kluge Arbeiter eine Ware, die für gutes Geld
stets in beliebiger Quantität geliefert werden könne. Die deutschen Dörfer und
die alte Handwerkerstube haben sie geliefert. Ein düsterer Großstadtdistrikt ohne
Licht und Sonne und ohne Gottesglauben liefert wohl eine Zeitlang die Quantität,
aber in stets geringerer physischer und moralischer Qualität. Viel zu spät
erwacht in den Kreisen der großen Arbeitgeber der Gedanke, daß ohne eine
Lösung der Siedlungsfrage unsere Volkskraft ersticken muß. Der Freund der
Jugend wird diese Dinge sehen; er sieht auch die Bauspekulation, mächtiger
als der beste Wille kommunaler Beamten, immer aufs neue die Quartiere auf¬
türmen, in denen der Kapitalismus seine grenzenlose Kurzsichtigkeit erweist.

In dieses Chaos, das "Zivilisation" genannt wird, tritt der Freund des
Volkes. Da bedarf es eines ruhigen und starken Glaubens an die endliche
Gerechtigkeit Gottes in der Geschichte. Und dazu muß er schon von Vater
und von Mutter eine heilige Liebe zu der durch unsere Geschichte gewordenen
Kultur ererbt haben. Hellen Auges muß der Freund der Jugend auch die
Stärken und Schwächen der Sozialdemokratie erkennen.

Die großen Genossenschaften der Gewerkschaften und Konsumvereine, durch
welche die Arbeiter bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen erkämpft, und mit
bedeutenden: Talent zur Selbstverwaltung sich Versicherung bei Arbeitslosigkeit,
den Wanderburschen verbesserte Herbergen, den Hausfrauen guten und soliden
Einkauf, mancher Familie schon gute und schöne Wohnung geschaffen haben,
gehen nicht wieder unter. Jetzt hängt das Arbeitervolk an diesen Organisationen
mit Germanentrcue. Sie werden sich schließlich als Nachfolger den mittelalter¬
lichen Genossenschaften in der Organisation unserer Gesellschaft einfügen. Freilich
wird der ruhige Beobachter auch erkennen, wie die Abnahme an geistiger Be¬
gabung und an ernster Gründlichkeit bei der städtischen Massenbevölkerung auch
die Arbeiterbewegung langsam geistig ärmer macht. Durch das demokratische
Prinzip aber wird dieser geistig ermattenden Masse ein Übergewicht gegeben,
das mit bleiernen Druck auch die besten, klügsten Männer innerhalb der Sozial¬
demokratie niederdrückt. Dazu kommt die größte Schwäche der Sozialdemokratie:
die prinzipielle Verachtung des Gemütslebens. Wohl regt sich ein ernster Wille
hier und dort und immer häufiger, das neue Arbeitervolk zu erziehen, wirklich
im edlen Sinne zu bilden. Aber solcher Wille kann sich nicht gesund entfalten.
Das fremde Prinzip hypnotisiert diesen guten Willen, daß er immer wieder zur
Demagogie benutzt wird. Denn in unserer Sozialdemokratie lebt die ganz
undeutsche, französische liberale Aufklärung, verbunden mit dem Materialismus
des Karl Marx. Ausgerottet wird aus den Herzen des Volkes mit leidenschaft¬
lichem Haß, was groß und heilig ist: die Erinnerungen an Luther, Arndt,
Blücher, Gneisenau, Wilhelm den Ersten. Aber das deutsche Gemüt schreit
nach Leben. Und wer dies alles kennt und ohne Zorn seinen Weg geht, der
kann die Herzen der Jugend an sich fesseln, und was er baut, ist nicht ein-
zureißen. Ruhig tue er seine Arbeit. Er wird sehen, es gibt noch vieles, was


Grenzvoten l 1912 4
!vio gewinnen wir die Arbeiterjugend?

seien gesunde, ehrliche, treue und kluge Arbeiter eine Ware, die für gutes Geld
stets in beliebiger Quantität geliefert werden könne. Die deutschen Dörfer und
die alte Handwerkerstube haben sie geliefert. Ein düsterer Großstadtdistrikt ohne
Licht und Sonne und ohne Gottesglauben liefert wohl eine Zeitlang die Quantität,
aber in stets geringerer physischer und moralischer Qualität. Viel zu spät
erwacht in den Kreisen der großen Arbeitgeber der Gedanke, daß ohne eine
Lösung der Siedlungsfrage unsere Volkskraft ersticken muß. Der Freund der
Jugend wird diese Dinge sehen; er sieht auch die Bauspekulation, mächtiger
als der beste Wille kommunaler Beamten, immer aufs neue die Quartiere auf¬
türmen, in denen der Kapitalismus seine grenzenlose Kurzsichtigkeit erweist.

In dieses Chaos, das „Zivilisation" genannt wird, tritt der Freund des
Volkes. Da bedarf es eines ruhigen und starken Glaubens an die endliche
Gerechtigkeit Gottes in der Geschichte. Und dazu muß er schon von Vater
und von Mutter eine heilige Liebe zu der durch unsere Geschichte gewordenen
Kultur ererbt haben. Hellen Auges muß der Freund der Jugend auch die
Stärken und Schwächen der Sozialdemokratie erkennen.

Die großen Genossenschaften der Gewerkschaften und Konsumvereine, durch
welche die Arbeiter bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen erkämpft, und mit
bedeutenden: Talent zur Selbstverwaltung sich Versicherung bei Arbeitslosigkeit,
den Wanderburschen verbesserte Herbergen, den Hausfrauen guten und soliden
Einkauf, mancher Familie schon gute und schöne Wohnung geschaffen haben,
gehen nicht wieder unter. Jetzt hängt das Arbeitervolk an diesen Organisationen
mit Germanentrcue. Sie werden sich schließlich als Nachfolger den mittelalter¬
lichen Genossenschaften in der Organisation unserer Gesellschaft einfügen. Freilich
wird der ruhige Beobachter auch erkennen, wie die Abnahme an geistiger Be¬
gabung und an ernster Gründlichkeit bei der städtischen Massenbevölkerung auch
die Arbeiterbewegung langsam geistig ärmer macht. Durch das demokratische
Prinzip aber wird dieser geistig ermattenden Masse ein Übergewicht gegeben,
das mit bleiernen Druck auch die besten, klügsten Männer innerhalb der Sozial¬
demokratie niederdrückt. Dazu kommt die größte Schwäche der Sozialdemokratie:
die prinzipielle Verachtung des Gemütslebens. Wohl regt sich ein ernster Wille
hier und dort und immer häufiger, das neue Arbeitervolk zu erziehen, wirklich
im edlen Sinne zu bilden. Aber solcher Wille kann sich nicht gesund entfalten.
Das fremde Prinzip hypnotisiert diesen guten Willen, daß er immer wieder zur
Demagogie benutzt wird. Denn in unserer Sozialdemokratie lebt die ganz
undeutsche, französische liberale Aufklärung, verbunden mit dem Materialismus
des Karl Marx. Ausgerottet wird aus den Herzen des Volkes mit leidenschaft¬
lichem Haß, was groß und heilig ist: die Erinnerungen an Luther, Arndt,
Blücher, Gneisenau, Wilhelm den Ersten. Aber das deutsche Gemüt schreit
nach Leben. Und wer dies alles kennt und ohne Zorn seinen Weg geht, der
kann die Herzen der Jugend an sich fesseln, und was er baut, ist nicht ein-
zureißen. Ruhig tue er seine Arbeit. Er wird sehen, es gibt noch vieles, was


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/37>, abgerufen am 16.05.2024.