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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Prophet oder Künstler?

und gegen ihn wirksam werden wie ehemals, wie vor zweitausend Jahren."
Ein Gelehrter würde die logische Notwendigkeit dieser Behauptung durch Ver¬
standesschlüsse, durch wissenschaftliche Beweisführung darzulegen suchen, und ein
Moraltheologe würde als Grund und Ausgangspunkt für seine Folgerungen
wohl die moralische und ethische Minderwertigkeit der Durchschnittsmenschheit
betonen und ihre Schuld am Untergange des ethisch wertvollen Individuums,
des Propheten, heißt er nun Christus oder Emanuel Ouint.

Hauptmann, der Künstler, setzt an die Stelle der abstrakten, Wissenschaft'
lichen Beweisführung die künstlerische Wirklichkeit, und in dieser Wirklichkeit wirkt
zunächst als treibende Ursache aller Erscheinungen nicht das abstrakte Verhältnis
moralischer, ethischer und gesellschaftlicher Werte zueinander, sondern das psycho¬
logische Gesetz. Für den Künstler trägt die Schuld an der Wahrheit jenes
ersten Problemsatzes nicht unsere Zeit -- oder jene vor zweitausend Jahren --
und ihre Verderbtheit, sondern das Schicksal des Heilandes und seines Nach-
folgers Emanuel Quint ist eine psychologische Notwendigkeit, eine Folge aus
der individuellen psychischen Struktur des Christus einerseits und der Struktur
des menschlichen Durchschnitts und unserer Gesellschaft anderseits. Unter dem
Gesichtswinkel dieses psychologischen Gesetzes betrachtet, erhält die "närrische"
Erscheinung Emanuel Quirls und sein Christusschicksal erst ihren Sinn, dieses
Schicksal, das mit der beklemmenden und verwirrenden Treue des Spiegelbildes
die Erscheinungen wiederholt, die schon vor zweitausend Jahren einmal Wirk¬
lichkeit besaßen, es wird aus dem Einzelfall zu einem typischen Vorgang gemacht,
aus dem Einzelnen und Zufälligen in die Sphäre des Typischen gehoben.

Stellt nun aber der Künstler auf Grund seiner intuitiver Erkenntnis vom
Wesen des Heilandes und der Welt das Christusleben als typisch, als etwas
immer Notwendiges dar, so beantwortet er dadurch zugleich eine Frage von
hervorragender religiöser und theologischer Bedeutung in verneinenden Sinne.
Er behauptet einerseits, daß die christliche Kirche, so wie sie heute ist, ja daß
jede äußere kirchliche Gemeinschaft, von Christus nicht gewollt ist, während sie
doch anderseits wieder ein notwendiges Produkt aus dem Durchschnittscharakter
der Menschen ist, und anderseits behauptet er dadurch, daß eine Nachfolge
Christi im wahren, von ihm, dem Künstler, intuitio erkannten Sinne Christi
heute und immerdar unmöglich ist, weil sie das Individuum aus der Gesellschaft
hinaus und dadurch gegen die Gesellschaft führt und Vernichtung des Individuums
mit sich bringt. So führt die künstlerisch - intuitive Erfassung und Darstellung
des religiösen Propheten wieder hinaus aus dem Gebiet der reinen Kunst und
zur Beantwortung rein religiöser und theologischer Fragen.

Diese beiden Berührungspunkte zwischen Kunst und Religion, die künstlerisch¬
intuitive Darstellung eines religiösen Schwärmers und seiner intuitiver Kraft
in der Auffassung der Christusgestalt einerseits und die religiös - praktischen
Folgerungen, die sich daraus ergeben, treten in Hauptmanns Werk besonders
klar und deutlich hervor.


Grenzboten I 1912 48
Prophet oder Künstler?

und gegen ihn wirksam werden wie ehemals, wie vor zweitausend Jahren."
Ein Gelehrter würde die logische Notwendigkeit dieser Behauptung durch Ver¬
standesschlüsse, durch wissenschaftliche Beweisführung darzulegen suchen, und ein
Moraltheologe würde als Grund und Ausgangspunkt für seine Folgerungen
wohl die moralische und ethische Minderwertigkeit der Durchschnittsmenschheit
betonen und ihre Schuld am Untergange des ethisch wertvollen Individuums,
des Propheten, heißt er nun Christus oder Emanuel Ouint.

Hauptmann, der Künstler, setzt an die Stelle der abstrakten, Wissenschaft'
lichen Beweisführung die künstlerische Wirklichkeit, und in dieser Wirklichkeit wirkt
zunächst als treibende Ursache aller Erscheinungen nicht das abstrakte Verhältnis
moralischer, ethischer und gesellschaftlicher Werte zueinander, sondern das psycho¬
logische Gesetz. Für den Künstler trägt die Schuld an der Wahrheit jenes
ersten Problemsatzes nicht unsere Zeit — oder jene vor zweitausend Jahren —
und ihre Verderbtheit, sondern das Schicksal des Heilandes und seines Nach-
folgers Emanuel Quint ist eine psychologische Notwendigkeit, eine Folge aus
der individuellen psychischen Struktur des Christus einerseits und der Struktur
des menschlichen Durchschnitts und unserer Gesellschaft anderseits. Unter dem
Gesichtswinkel dieses psychologischen Gesetzes betrachtet, erhält die „närrische"
Erscheinung Emanuel Quirls und sein Christusschicksal erst ihren Sinn, dieses
Schicksal, das mit der beklemmenden und verwirrenden Treue des Spiegelbildes
die Erscheinungen wiederholt, die schon vor zweitausend Jahren einmal Wirk¬
lichkeit besaßen, es wird aus dem Einzelfall zu einem typischen Vorgang gemacht,
aus dem Einzelnen und Zufälligen in die Sphäre des Typischen gehoben.

Stellt nun aber der Künstler auf Grund seiner intuitiver Erkenntnis vom
Wesen des Heilandes und der Welt das Christusleben als typisch, als etwas
immer Notwendiges dar, so beantwortet er dadurch zugleich eine Frage von
hervorragender religiöser und theologischer Bedeutung in verneinenden Sinne.
Er behauptet einerseits, daß die christliche Kirche, so wie sie heute ist, ja daß
jede äußere kirchliche Gemeinschaft, von Christus nicht gewollt ist, während sie
doch anderseits wieder ein notwendiges Produkt aus dem Durchschnittscharakter
der Menschen ist, und anderseits behauptet er dadurch, daß eine Nachfolge
Christi im wahren, von ihm, dem Künstler, intuitio erkannten Sinne Christi
heute und immerdar unmöglich ist, weil sie das Individuum aus der Gesellschaft
hinaus und dadurch gegen die Gesellschaft führt und Vernichtung des Individuums
mit sich bringt. So führt die künstlerisch - intuitive Erfassung und Darstellung
des religiösen Propheten wieder hinaus aus dem Gebiet der reinen Kunst und
zur Beantwortung rein religiöser und theologischer Fragen.

Diese beiden Berührungspunkte zwischen Kunst und Religion, die künstlerisch¬
intuitive Darstellung eines religiösen Schwärmers und seiner intuitiver Kraft
in der Auffassung der Christusgestalt einerseits und die religiös - praktischen
Folgerungen, die sich daraus ergeben, treten in Hauptmanns Werk besonders
klar und deutlich hervor.


Grenzboten I 1912 48
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[0381] Prophet oder Künstler? und gegen ihn wirksam werden wie ehemals, wie vor zweitausend Jahren." Ein Gelehrter würde die logische Notwendigkeit dieser Behauptung durch Ver¬ standesschlüsse, durch wissenschaftliche Beweisführung darzulegen suchen, und ein Moraltheologe würde als Grund und Ausgangspunkt für seine Folgerungen wohl die moralische und ethische Minderwertigkeit der Durchschnittsmenschheit betonen und ihre Schuld am Untergange des ethisch wertvollen Individuums, des Propheten, heißt er nun Christus oder Emanuel Ouint. Hauptmann, der Künstler, setzt an die Stelle der abstrakten, Wissenschaft' lichen Beweisführung die künstlerische Wirklichkeit, und in dieser Wirklichkeit wirkt zunächst als treibende Ursache aller Erscheinungen nicht das abstrakte Verhältnis moralischer, ethischer und gesellschaftlicher Werte zueinander, sondern das psycho¬ logische Gesetz. Für den Künstler trägt die Schuld an der Wahrheit jenes ersten Problemsatzes nicht unsere Zeit — oder jene vor zweitausend Jahren — und ihre Verderbtheit, sondern das Schicksal des Heilandes und seines Nach- folgers Emanuel Quint ist eine psychologische Notwendigkeit, eine Folge aus der individuellen psychischen Struktur des Christus einerseits und der Struktur des menschlichen Durchschnitts und unserer Gesellschaft anderseits. Unter dem Gesichtswinkel dieses psychologischen Gesetzes betrachtet, erhält die „närrische" Erscheinung Emanuel Quirls und sein Christusschicksal erst ihren Sinn, dieses Schicksal, das mit der beklemmenden und verwirrenden Treue des Spiegelbildes die Erscheinungen wiederholt, die schon vor zweitausend Jahren einmal Wirk¬ lichkeit besaßen, es wird aus dem Einzelfall zu einem typischen Vorgang gemacht, aus dem Einzelnen und Zufälligen in die Sphäre des Typischen gehoben. Stellt nun aber der Künstler auf Grund seiner intuitiver Erkenntnis vom Wesen des Heilandes und der Welt das Christusleben als typisch, als etwas immer Notwendiges dar, so beantwortet er dadurch zugleich eine Frage von hervorragender religiöser und theologischer Bedeutung in verneinenden Sinne. Er behauptet einerseits, daß die christliche Kirche, so wie sie heute ist, ja daß jede äußere kirchliche Gemeinschaft, von Christus nicht gewollt ist, während sie doch anderseits wieder ein notwendiges Produkt aus dem Durchschnittscharakter der Menschen ist, und anderseits behauptet er dadurch, daß eine Nachfolge Christi im wahren, von ihm, dem Künstler, intuitio erkannten Sinne Christi heute und immerdar unmöglich ist, weil sie das Individuum aus der Gesellschaft hinaus und dadurch gegen die Gesellschaft führt und Vernichtung des Individuums mit sich bringt. So führt die künstlerisch - intuitive Erfassung und Darstellung des religiösen Propheten wieder hinaus aus dem Gebiet der reinen Kunst und zur Beantwortung rein religiöser und theologischer Fragen. Diese beiden Berührungspunkte zwischen Kunst und Religion, die künstlerisch¬ intuitive Darstellung eines religiösen Schwärmers und seiner intuitiver Kraft in der Auffassung der Christusgestalt einerseits und die religiös - praktischen Folgerungen, die sich daraus ergeben, treten in Hauptmanns Werk besonders klar und deutlich hervor. Grenzboten I 1912 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/381>, abgerufen am 16.05.2024.