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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy

viel Vorliebe für Lakaien und keine kindliche wie Raimund! --, wie sich das
geistige Proletariat aller Stände, zumeist jedoch des kleinbürgerlichen, nach Geld
sehnt, um Geld beschwindelt, für Geld vergnügt, das ist eigentlich der ganze
Inhalt der Dutzende von Stücken, die Nestroy im Vormärz nicht anders schrieb
als im Nachmärz. Will man eine Entwicklung herausfinden, so ist es diese,
daß Nestroy im Jahre 1833 sich noch des Raimundschen Geisterrahmens bedient,
um den Auf- und Abstieg seiner vom Glück begünstigten Handwerker im "Lum-
pazivagabundus" darzustellen, und daß er schon im Jahre 1835 in der Posse
"Zu ebener Erde und im ersten Stock" den Glückswechsel des Kapitalisten und
der Trödlerfamilie ohne allen Geisterapparat schilderte und von nun an ganz
im Wirklichen blieb.

Um dieses Fußens im Wirklichen willen hat Nestroy allerhand Lob¬
preisungen eingeheimst, als sei er einer der ersten "Neuen", ein Verkünder der
aufs Wirkliche gerichteten neuen Zeit. Und man hat übersehen, wie eng und
flach diese Wirklichkeit Nestroys ist, welch ein kleiner und niedriger Bruchteil,
nicht nur der ganzen Welt, sondern auch der österreichischen und der Wiener
Welt. Selbst den Kreis der Vaterstadt hat Nestroy nicht entfernt ausgefüllt,
nur was flach und niedrig an ihr war, hielt er fest.

Was den Mann zu seiner Zeit so groß und einflußreich machte, daß der
Kulturhistoriker ihn nicht außer acht lassen kann, hat mit seinem schriftstellerischen
Schaffen wenig zu tun. Nestroy, dessen Schauspielerkunst nur in ihrer Würde
und Reinheit, nie aber in ihrer Wirksamkeit angezweifelt worden ist, war der
bedeutendste Spaßmacher seiner Zeit und hatte, als im übrigen noch die freie
Meinungsäußerung im Argen lag, das Vorrecht des Narren: kritisierenden Spaß
zu treiben. Da sagte er denn oft von der Bühne herab improvisierend höhnische
Worte, die in der Luft lagen und nicht die vielen ihnen heute geöffneten Wege
ins Allgemeine besaßen. Er war das lebendigste, unverstümmeltste Witzblatt
seiner Zeit, auch das beweglichste, da ihn ja keine Überzeugungen hinderten,
da es ihm auf den Witz allein ankam. Geriet er doch einmal mit der Polizei
in Zwistigkeit, so war schon damals eine Strafe keine üble Reklame, war zu¬
gleich auch ein Sporn zu schlauerer Geschicklichkeit. In seinen Couplets, in
seinen Scherzen, in mancher überlieferten Nestroy-Anekdote findet der Kultur¬
historiker wertvollen Stoff -- aber die Persönlichkeit Nestroys ist eine allzu
geringe und so ist auch von dichterischer Leistung bei ihm zu wenig die Rede,
als daß er in der Geschichte der Literatur mehr als ein winzigstes Winkelchen,
als daß er die Ehre verdiente, Raimunds Antipode zu heißen. Sucht man zu
Raimund würdigen Gegensatz, so muß man zu den Bedeutenden des Landes
gehen, zu Kürnberger und Schlögl und Bahr, zu den Persönlichkeiten und nicht
SU einer Allegorie, zu dem fleischgewordenen Witz.




Raimund und Nestroy

viel Vorliebe für Lakaien und keine kindliche wie Raimund! —, wie sich das
geistige Proletariat aller Stände, zumeist jedoch des kleinbürgerlichen, nach Geld
sehnt, um Geld beschwindelt, für Geld vergnügt, das ist eigentlich der ganze
Inhalt der Dutzende von Stücken, die Nestroy im Vormärz nicht anders schrieb
als im Nachmärz. Will man eine Entwicklung herausfinden, so ist es diese,
daß Nestroy im Jahre 1833 sich noch des Raimundschen Geisterrahmens bedient,
um den Auf- und Abstieg seiner vom Glück begünstigten Handwerker im „Lum-
pazivagabundus" darzustellen, und daß er schon im Jahre 1835 in der Posse
„Zu ebener Erde und im ersten Stock" den Glückswechsel des Kapitalisten und
der Trödlerfamilie ohne allen Geisterapparat schilderte und von nun an ganz
im Wirklichen blieb.

Um dieses Fußens im Wirklichen willen hat Nestroy allerhand Lob¬
preisungen eingeheimst, als sei er einer der ersten „Neuen", ein Verkünder der
aufs Wirkliche gerichteten neuen Zeit. Und man hat übersehen, wie eng und
flach diese Wirklichkeit Nestroys ist, welch ein kleiner und niedriger Bruchteil,
nicht nur der ganzen Welt, sondern auch der österreichischen und der Wiener
Welt. Selbst den Kreis der Vaterstadt hat Nestroy nicht entfernt ausgefüllt,
nur was flach und niedrig an ihr war, hielt er fest.

Was den Mann zu seiner Zeit so groß und einflußreich machte, daß der
Kulturhistoriker ihn nicht außer acht lassen kann, hat mit seinem schriftstellerischen
Schaffen wenig zu tun. Nestroy, dessen Schauspielerkunst nur in ihrer Würde
und Reinheit, nie aber in ihrer Wirksamkeit angezweifelt worden ist, war der
bedeutendste Spaßmacher seiner Zeit und hatte, als im übrigen noch die freie
Meinungsäußerung im Argen lag, das Vorrecht des Narren: kritisierenden Spaß
zu treiben. Da sagte er denn oft von der Bühne herab improvisierend höhnische
Worte, die in der Luft lagen und nicht die vielen ihnen heute geöffneten Wege
ins Allgemeine besaßen. Er war das lebendigste, unverstümmeltste Witzblatt
seiner Zeit, auch das beweglichste, da ihn ja keine Überzeugungen hinderten,
da es ihm auf den Witz allein ankam. Geriet er doch einmal mit der Polizei
in Zwistigkeit, so war schon damals eine Strafe keine üble Reklame, war zu¬
gleich auch ein Sporn zu schlauerer Geschicklichkeit. In seinen Couplets, in
seinen Scherzen, in mancher überlieferten Nestroy-Anekdote findet der Kultur¬
historiker wertvollen Stoff — aber die Persönlichkeit Nestroys ist eine allzu
geringe und so ist auch von dichterischer Leistung bei ihm zu wenig die Rede,
als daß er in der Geschichte der Literatur mehr als ein winzigstes Winkelchen,
als daß er die Ehre verdiente, Raimunds Antipode zu heißen. Sucht man zu
Raimund würdigen Gegensatz, so muß man zu den Bedeutenden des Landes
gehen, zu Kürnberger und Schlögl und Bahr, zu den Persönlichkeiten und nicht
SU einer Allegorie, zu dem fleischgewordenen Witz.




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[0447] Raimund und Nestroy viel Vorliebe für Lakaien und keine kindliche wie Raimund! —, wie sich das geistige Proletariat aller Stände, zumeist jedoch des kleinbürgerlichen, nach Geld sehnt, um Geld beschwindelt, für Geld vergnügt, das ist eigentlich der ganze Inhalt der Dutzende von Stücken, die Nestroy im Vormärz nicht anders schrieb als im Nachmärz. Will man eine Entwicklung herausfinden, so ist es diese, daß Nestroy im Jahre 1833 sich noch des Raimundschen Geisterrahmens bedient, um den Auf- und Abstieg seiner vom Glück begünstigten Handwerker im „Lum- pazivagabundus" darzustellen, und daß er schon im Jahre 1835 in der Posse „Zu ebener Erde und im ersten Stock" den Glückswechsel des Kapitalisten und der Trödlerfamilie ohne allen Geisterapparat schilderte und von nun an ganz im Wirklichen blieb. Um dieses Fußens im Wirklichen willen hat Nestroy allerhand Lob¬ preisungen eingeheimst, als sei er einer der ersten „Neuen", ein Verkünder der aufs Wirkliche gerichteten neuen Zeit. Und man hat übersehen, wie eng und flach diese Wirklichkeit Nestroys ist, welch ein kleiner und niedriger Bruchteil, nicht nur der ganzen Welt, sondern auch der österreichischen und der Wiener Welt. Selbst den Kreis der Vaterstadt hat Nestroy nicht entfernt ausgefüllt, nur was flach und niedrig an ihr war, hielt er fest. Was den Mann zu seiner Zeit so groß und einflußreich machte, daß der Kulturhistoriker ihn nicht außer acht lassen kann, hat mit seinem schriftstellerischen Schaffen wenig zu tun. Nestroy, dessen Schauspielerkunst nur in ihrer Würde und Reinheit, nie aber in ihrer Wirksamkeit angezweifelt worden ist, war der bedeutendste Spaßmacher seiner Zeit und hatte, als im übrigen noch die freie Meinungsäußerung im Argen lag, das Vorrecht des Narren: kritisierenden Spaß zu treiben. Da sagte er denn oft von der Bühne herab improvisierend höhnische Worte, die in der Luft lagen und nicht die vielen ihnen heute geöffneten Wege ins Allgemeine besaßen. Er war das lebendigste, unverstümmeltste Witzblatt seiner Zeit, auch das beweglichste, da ihn ja keine Überzeugungen hinderten, da es ihm auf den Witz allein ankam. Geriet er doch einmal mit der Polizei in Zwistigkeit, so war schon damals eine Strafe keine üble Reklame, war zu¬ gleich auch ein Sporn zu schlauerer Geschicklichkeit. In seinen Couplets, in seinen Scherzen, in mancher überlieferten Nestroy-Anekdote findet der Kultur¬ historiker wertvollen Stoff — aber die Persönlichkeit Nestroys ist eine allzu geringe und so ist auch von dichterischer Leistung bei ihm zu wenig die Rede, als daß er in der Geschichte der Literatur mehr als ein winzigstes Winkelchen, als daß er die Ehre verdiente, Raimunds Antipode zu heißen. Sucht man zu Raimund würdigen Gegensatz, so muß man zu den Bedeutenden des Landes gehen, zu Kürnberger und Schlögl und Bahr, zu den Persönlichkeiten und nicht SU einer Allegorie, zu dem fleischgewordenen Witz.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/447>, abgerufen am 15.05.2024.