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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Glücksgcdanre bei Hermann Hesse

zu seiner schwärmerischen Liebe zur Natur. Ein Brief an den Pater des
benachbarten Klosters, den der Knabe für den Vater verfaßt und der seine
ungewöhnlichen Fähigkeiten verrät, läßt dem Empfänger seine Ausbildung zum
gelehrten Berufe erwünscht erscheinen.

Das erste Ereignis von einschneidender Bedeutung in seinem Leben ist der
Tod der Mutter; er ist willens, bei dem vereinsamten Vater daheim zu bleiben,
doch ein "unbewußt mächtiger Zwang" treibt ihn "der großen Weite der Welt"
entgegen. In Zürich taucht er nun zum erstenmal in den Strudel der Gro߬
stadt, gewinnt durch seinen Freund Richard Fühlung mit Künstler- und Schrift¬
stellerkreisen und erlebt selbst mit ein paar kleinen Novellen den ersten literarischen
Erfolg, dem sich bald andere anschließen. Die unglückliche Liebe zu der schönen
Malerin Erminia Aglietti und der Schmutz und das Laster der französischen
Hauptstadt lassen in ihm Selbstmordgedanken wach werden, die nur die
Erinnerung an den heldenhaften Todeskampf der Mutter verscheuchen kann.
Einem Aufenthalt in Basel macht wieder eine unglückliche Liebe ein Ende;
ein kurzer Besuch in der Heimat hilft Peter Camenzind zwar über
den ersten Schmerz hinweg, zeigt ihm aber zugleich, daß auch hier seines
Bleibens nicht länger ist. Die Schönheit der Heimat seines geliebten Franz
von Assise und der ungezwungene Verkehr dort mit lieben, schlichten Leuten
lassen die Liebeswunden völlig verharschen, bis dem Ruhelosen die Liebe seiner
Wirtin Annunziata Nardini, die er nicht erwidern kann, auch diesen köstlichen
Aufenthalt in Assise verleidet. Nach Basel zurückgekehrt genießt er das Glück,
in dem armen Krüppel Boppi einen trefflichen Freund zu finden, der ihm jedoch
bald wieder durch den Tod entrissen wird. Nichts hält ihn mehr in der Stadt
zurück; ein Ruf in die Heimat zum erkrankten Vater fesselt ihn schließlich dauernd
an die heimatliche Scholle. Dort geht er, ein Bauer unter Bauern, seiner
täglichen Handarbeit nach, schafft als Mitglied des Gemeinderates segens¬
reiches für sein kleines Heimatsdörfchen und genießt in der Erinnerung an all
"das Vergangene und doch Unverlorene seines Lebens samt allen den lieben
Menschenbildern, von der schlanken Rosi Girtanner bis auf den armen Boppi"
ein reiches Glück.

So hat sich denn Peter Camenzinds glühende Sehnsucht nach dem Glück
erfüllt. Ein bißchen anders freilich sieht das erreichte Glück aus als das Ideal,
das er sich so in Gedanken -- und er hat viel über das Wesen des Glückes
nachgedacht -- davon zurecht gezimmert hatte! Aber auch dieses war ja zu
verschiedenen Zeiten seines Lebens ein verschiedenes gewesen. In seiner Jugend
hatte er immer das Gefühl gehabt, "das Leben müsse ihm irgend einmal ein
besonders lachendes Glück vor die Füße spülen, einen Ruhm, eine Liebe viel¬
leicht, eine Befriedigung seiner Sehnsucht und eine Erhöhung seines Wesens,"
damals "war er noch der Page gewesen, der von Edeldamen und Ritterschlag
und großen Ehren träumt," und erst allmählich kam er zu der Einsicht, "daß
das Glück mit der Erfüllung äußerer Wünsche wenig zu tun habe," daß diese


Der Glücksgcdanre bei Hermann Hesse

zu seiner schwärmerischen Liebe zur Natur. Ein Brief an den Pater des
benachbarten Klosters, den der Knabe für den Vater verfaßt und der seine
ungewöhnlichen Fähigkeiten verrät, läßt dem Empfänger seine Ausbildung zum
gelehrten Berufe erwünscht erscheinen.

Das erste Ereignis von einschneidender Bedeutung in seinem Leben ist der
Tod der Mutter; er ist willens, bei dem vereinsamten Vater daheim zu bleiben,
doch ein „unbewußt mächtiger Zwang" treibt ihn „der großen Weite der Welt"
entgegen. In Zürich taucht er nun zum erstenmal in den Strudel der Gro߬
stadt, gewinnt durch seinen Freund Richard Fühlung mit Künstler- und Schrift¬
stellerkreisen und erlebt selbst mit ein paar kleinen Novellen den ersten literarischen
Erfolg, dem sich bald andere anschließen. Die unglückliche Liebe zu der schönen
Malerin Erminia Aglietti und der Schmutz und das Laster der französischen
Hauptstadt lassen in ihm Selbstmordgedanken wach werden, die nur die
Erinnerung an den heldenhaften Todeskampf der Mutter verscheuchen kann.
Einem Aufenthalt in Basel macht wieder eine unglückliche Liebe ein Ende;
ein kurzer Besuch in der Heimat hilft Peter Camenzind zwar über
den ersten Schmerz hinweg, zeigt ihm aber zugleich, daß auch hier seines
Bleibens nicht länger ist. Die Schönheit der Heimat seines geliebten Franz
von Assise und der ungezwungene Verkehr dort mit lieben, schlichten Leuten
lassen die Liebeswunden völlig verharschen, bis dem Ruhelosen die Liebe seiner
Wirtin Annunziata Nardini, die er nicht erwidern kann, auch diesen köstlichen
Aufenthalt in Assise verleidet. Nach Basel zurückgekehrt genießt er das Glück,
in dem armen Krüppel Boppi einen trefflichen Freund zu finden, der ihm jedoch
bald wieder durch den Tod entrissen wird. Nichts hält ihn mehr in der Stadt
zurück; ein Ruf in die Heimat zum erkrankten Vater fesselt ihn schließlich dauernd
an die heimatliche Scholle. Dort geht er, ein Bauer unter Bauern, seiner
täglichen Handarbeit nach, schafft als Mitglied des Gemeinderates segens¬
reiches für sein kleines Heimatsdörfchen und genießt in der Erinnerung an all
„das Vergangene und doch Unverlorene seines Lebens samt allen den lieben
Menschenbildern, von der schlanken Rosi Girtanner bis auf den armen Boppi"
ein reiches Glück.

So hat sich denn Peter Camenzinds glühende Sehnsucht nach dem Glück
erfüllt. Ein bißchen anders freilich sieht das erreichte Glück aus als das Ideal,
das er sich so in Gedanken — und er hat viel über das Wesen des Glückes
nachgedacht — davon zurecht gezimmert hatte! Aber auch dieses war ja zu
verschiedenen Zeiten seines Lebens ein verschiedenes gewesen. In seiner Jugend
hatte er immer das Gefühl gehabt, „das Leben müsse ihm irgend einmal ein
besonders lachendes Glück vor die Füße spülen, einen Ruhm, eine Liebe viel¬
leicht, eine Befriedigung seiner Sehnsucht und eine Erhöhung seines Wesens,"
damals „war er noch der Page gewesen, der von Edeldamen und Ritterschlag
und großen Ehren träumt," und erst allmählich kam er zu der Einsicht, „daß
das Glück mit der Erfüllung äußerer Wünsche wenig zu tun habe," daß diese


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[0490] Der Glücksgcdanre bei Hermann Hesse zu seiner schwärmerischen Liebe zur Natur. Ein Brief an den Pater des benachbarten Klosters, den der Knabe für den Vater verfaßt und der seine ungewöhnlichen Fähigkeiten verrät, läßt dem Empfänger seine Ausbildung zum gelehrten Berufe erwünscht erscheinen. Das erste Ereignis von einschneidender Bedeutung in seinem Leben ist der Tod der Mutter; er ist willens, bei dem vereinsamten Vater daheim zu bleiben, doch ein „unbewußt mächtiger Zwang" treibt ihn „der großen Weite der Welt" entgegen. In Zürich taucht er nun zum erstenmal in den Strudel der Gro߬ stadt, gewinnt durch seinen Freund Richard Fühlung mit Künstler- und Schrift¬ stellerkreisen und erlebt selbst mit ein paar kleinen Novellen den ersten literarischen Erfolg, dem sich bald andere anschließen. Die unglückliche Liebe zu der schönen Malerin Erminia Aglietti und der Schmutz und das Laster der französischen Hauptstadt lassen in ihm Selbstmordgedanken wach werden, die nur die Erinnerung an den heldenhaften Todeskampf der Mutter verscheuchen kann. Einem Aufenthalt in Basel macht wieder eine unglückliche Liebe ein Ende; ein kurzer Besuch in der Heimat hilft Peter Camenzind zwar über den ersten Schmerz hinweg, zeigt ihm aber zugleich, daß auch hier seines Bleibens nicht länger ist. Die Schönheit der Heimat seines geliebten Franz von Assise und der ungezwungene Verkehr dort mit lieben, schlichten Leuten lassen die Liebeswunden völlig verharschen, bis dem Ruhelosen die Liebe seiner Wirtin Annunziata Nardini, die er nicht erwidern kann, auch diesen köstlichen Aufenthalt in Assise verleidet. Nach Basel zurückgekehrt genießt er das Glück, in dem armen Krüppel Boppi einen trefflichen Freund zu finden, der ihm jedoch bald wieder durch den Tod entrissen wird. Nichts hält ihn mehr in der Stadt zurück; ein Ruf in die Heimat zum erkrankten Vater fesselt ihn schließlich dauernd an die heimatliche Scholle. Dort geht er, ein Bauer unter Bauern, seiner täglichen Handarbeit nach, schafft als Mitglied des Gemeinderates segens¬ reiches für sein kleines Heimatsdörfchen und genießt in der Erinnerung an all „das Vergangene und doch Unverlorene seines Lebens samt allen den lieben Menschenbildern, von der schlanken Rosi Girtanner bis auf den armen Boppi" ein reiches Glück. So hat sich denn Peter Camenzinds glühende Sehnsucht nach dem Glück erfüllt. Ein bißchen anders freilich sieht das erreichte Glück aus als das Ideal, das er sich so in Gedanken — und er hat viel über das Wesen des Glückes nachgedacht — davon zurecht gezimmert hatte! Aber auch dieses war ja zu verschiedenen Zeiten seines Lebens ein verschiedenes gewesen. In seiner Jugend hatte er immer das Gefühl gehabt, „das Leben müsse ihm irgend einmal ein besonders lachendes Glück vor die Füße spülen, einen Ruhm, eine Liebe viel¬ leicht, eine Befriedigung seiner Sehnsucht und eine Erhöhung seines Wesens," damals „war er noch der Page gewesen, der von Edeldamen und Ritterschlag und großen Ehren träumt," und erst allmählich kam er zu der Einsicht, „daß das Glück mit der Erfüllung äußerer Wünsche wenig zu tun habe," daß diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/490>, abgerufen am 16.05.2024.