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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ungarn, Deutschland und Deutschtum

und den beiderseitigen Interessen in der Gegenwart entspräche. Es ist für uns
hier in Ungarn schon ein Gemeinplatz, daß das magyarische Volk dringend auf
die Freundschaft der Deutschen angewiesen ist, und man spricht auch keine neue
Wahrheit aus, wenn man feststellt, daß das deutsche Volk und Reich in dieser
Welt so wenig Freunde, will sagen, Jnteressengenossen hat, daß es die Freund¬
schaft selbst eines so kleinen Volkstums wie des magyarischen nicht so leicht
entbehren kann. Die Form des gegenseitigen Verhältnisses ist nicht so eng,
daß sie als eine die Individualität beengende Fessel empfunden werden könnte.
Die Anforderungen, die man an einander stellt, berühren die Bewegungsfreiheit
hüben und drüben nicht so sehr, um sie einzuschränken. Das ist beispielsweise
bei dem Verhältnis Ungarns zu Österreich der Fall; daher die nie aufhörenden
Reibungen zwischen diesen beiden zu einer staatsrechtlichen Gemeinschaft ver¬
bundenen Staaten.

Die Freundschaft zwischen Ungarn und dem Deutschen Reich ist, sagte ich,
entwicklungsbedürftig. Sie ist auch entwicklungsfähig, denn alle Vorbedingungen
dazu sind gegeben, und keines der Hindernisse, die sich zeigen, ist unüberwindlich.
Die große und entscheidende Wendung in der Geschichte Ungarns wurde vor
neunhundert Jahren vollzogen, als König Stefan sich mit vollem Bewußtsein
von Byzanz ab und nach Westen wandte, um an deutsches Christentum und
deutsche Kultur Anschluß zu finden. Seither hat Ungarn unausgesetzt unter
deutschem Einfluß gestanden: unter politischem, dessen es sich, auch in der älteren
Zeit, oft nur mit Mühe erwehren konnte, und unter kulturellen, dein es sich
stets gerne hingab. Der politische Einfluß erfuhr seit der Zeit der engeren
Verbindung mit denhabsburgischenErbländerneineSteigerung, dieimMagyarentum
alle Kräfte des Widerstandes wachrief. Ein Bodensatz jener jahrhundertelangen
Kämpfe ist bis zur Stunde in einer gewissen populären Abneigung gegen den
"Deutschen" in der magyarischen Volksseele zurückgeblieben. Aber dieser "Deutsche",
dem nach dem alten Volkslied der Magyare nicht trauen soll, wenn er von ihm
auch eine Schrift, so groß wie ein Husarenmantel, und mit einem Siegel darauf,
so groß wie der Mond, bekäme, der "Deutsche", der ein Filou ist und dem
"die Schwären alle Eingeweide fressen mögen", er ist in Wirklichkeit der Öster¬
reicher der historischen Erinnerung und ist seiner ethnischen Beschaffenheit nach
oft alles andere: Kroäk, Tscheche, Pole, nur nicht deutsch gewesen. Deutschenhaß,
wie man ihn bei den west- und südslawischen Völkerschaften Österreichs findet,
kennt der Magyare nicht. Der Deutsche mit seiner Arbeitssamkeit, seiner wissen¬
schaftlichen Gründlichkeit, seinem hart zugreifenden Wesen, seiner scheinbaren
Verstandeskälte und seinem Mangel an weicher, gefälliger Liebenswürdigkeit ist
ihm nur zuweilen ungemütlich und unheimlich. Der zu orientalischer Lässigkeit
neigende Magyare fühlt die kulturelle Überlegenheit des Deutschtums, und sein
Selbsterhaltungsinstinkt lehnt sich dagegen auf. Darum schwingt neben dem
Gefühl hoher Achtung für deutsches Wesen immer noch als leiser Unterton der
Wunsch mit, sich von der übermächtigen deutschen Kultur frei machen zu können.


Ungarn, Deutschland und Deutschtum

und den beiderseitigen Interessen in der Gegenwart entspräche. Es ist für uns
hier in Ungarn schon ein Gemeinplatz, daß das magyarische Volk dringend auf
die Freundschaft der Deutschen angewiesen ist, und man spricht auch keine neue
Wahrheit aus, wenn man feststellt, daß das deutsche Volk und Reich in dieser
Welt so wenig Freunde, will sagen, Jnteressengenossen hat, daß es die Freund¬
schaft selbst eines so kleinen Volkstums wie des magyarischen nicht so leicht
entbehren kann. Die Form des gegenseitigen Verhältnisses ist nicht so eng,
daß sie als eine die Individualität beengende Fessel empfunden werden könnte.
Die Anforderungen, die man an einander stellt, berühren die Bewegungsfreiheit
hüben und drüben nicht so sehr, um sie einzuschränken. Das ist beispielsweise
bei dem Verhältnis Ungarns zu Österreich der Fall; daher die nie aufhörenden
Reibungen zwischen diesen beiden zu einer staatsrechtlichen Gemeinschaft ver¬
bundenen Staaten.

Die Freundschaft zwischen Ungarn und dem Deutschen Reich ist, sagte ich,
entwicklungsbedürftig. Sie ist auch entwicklungsfähig, denn alle Vorbedingungen
dazu sind gegeben, und keines der Hindernisse, die sich zeigen, ist unüberwindlich.
Die große und entscheidende Wendung in der Geschichte Ungarns wurde vor
neunhundert Jahren vollzogen, als König Stefan sich mit vollem Bewußtsein
von Byzanz ab und nach Westen wandte, um an deutsches Christentum und
deutsche Kultur Anschluß zu finden. Seither hat Ungarn unausgesetzt unter
deutschem Einfluß gestanden: unter politischem, dessen es sich, auch in der älteren
Zeit, oft nur mit Mühe erwehren konnte, und unter kulturellen, dein es sich
stets gerne hingab. Der politische Einfluß erfuhr seit der Zeit der engeren
Verbindung mit denhabsburgischenErbländerneineSteigerung, dieimMagyarentum
alle Kräfte des Widerstandes wachrief. Ein Bodensatz jener jahrhundertelangen
Kämpfe ist bis zur Stunde in einer gewissen populären Abneigung gegen den
„Deutschen" in der magyarischen Volksseele zurückgeblieben. Aber dieser „Deutsche",
dem nach dem alten Volkslied der Magyare nicht trauen soll, wenn er von ihm
auch eine Schrift, so groß wie ein Husarenmantel, und mit einem Siegel darauf,
so groß wie der Mond, bekäme, der „Deutsche", der ein Filou ist und dem
„die Schwären alle Eingeweide fressen mögen", er ist in Wirklichkeit der Öster¬
reicher der historischen Erinnerung und ist seiner ethnischen Beschaffenheit nach
oft alles andere: Kroäk, Tscheche, Pole, nur nicht deutsch gewesen. Deutschenhaß,
wie man ihn bei den west- und südslawischen Völkerschaften Österreichs findet,
kennt der Magyare nicht. Der Deutsche mit seiner Arbeitssamkeit, seiner wissen¬
schaftlichen Gründlichkeit, seinem hart zugreifenden Wesen, seiner scheinbaren
Verstandeskälte und seinem Mangel an weicher, gefälliger Liebenswürdigkeit ist
ihm nur zuweilen ungemütlich und unheimlich. Der zu orientalischer Lässigkeit
neigende Magyare fühlt die kulturelle Überlegenheit des Deutschtums, und sein
Selbsterhaltungsinstinkt lehnt sich dagegen auf. Darum schwingt neben dem
Gefühl hoher Achtung für deutsches Wesen immer noch als leiser Unterton der
Wunsch mit, sich von der übermächtigen deutschen Kultur frei machen zu können.


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[0510] Ungarn, Deutschland und Deutschtum und den beiderseitigen Interessen in der Gegenwart entspräche. Es ist für uns hier in Ungarn schon ein Gemeinplatz, daß das magyarische Volk dringend auf die Freundschaft der Deutschen angewiesen ist, und man spricht auch keine neue Wahrheit aus, wenn man feststellt, daß das deutsche Volk und Reich in dieser Welt so wenig Freunde, will sagen, Jnteressengenossen hat, daß es die Freund¬ schaft selbst eines so kleinen Volkstums wie des magyarischen nicht so leicht entbehren kann. Die Form des gegenseitigen Verhältnisses ist nicht so eng, daß sie als eine die Individualität beengende Fessel empfunden werden könnte. Die Anforderungen, die man an einander stellt, berühren die Bewegungsfreiheit hüben und drüben nicht so sehr, um sie einzuschränken. Das ist beispielsweise bei dem Verhältnis Ungarns zu Österreich der Fall; daher die nie aufhörenden Reibungen zwischen diesen beiden zu einer staatsrechtlichen Gemeinschaft ver¬ bundenen Staaten. Die Freundschaft zwischen Ungarn und dem Deutschen Reich ist, sagte ich, entwicklungsbedürftig. Sie ist auch entwicklungsfähig, denn alle Vorbedingungen dazu sind gegeben, und keines der Hindernisse, die sich zeigen, ist unüberwindlich. Die große und entscheidende Wendung in der Geschichte Ungarns wurde vor neunhundert Jahren vollzogen, als König Stefan sich mit vollem Bewußtsein von Byzanz ab und nach Westen wandte, um an deutsches Christentum und deutsche Kultur Anschluß zu finden. Seither hat Ungarn unausgesetzt unter deutschem Einfluß gestanden: unter politischem, dessen es sich, auch in der älteren Zeit, oft nur mit Mühe erwehren konnte, und unter kulturellen, dein es sich stets gerne hingab. Der politische Einfluß erfuhr seit der Zeit der engeren Verbindung mit denhabsburgischenErbländerneineSteigerung, dieimMagyarentum alle Kräfte des Widerstandes wachrief. Ein Bodensatz jener jahrhundertelangen Kämpfe ist bis zur Stunde in einer gewissen populären Abneigung gegen den „Deutschen" in der magyarischen Volksseele zurückgeblieben. Aber dieser „Deutsche", dem nach dem alten Volkslied der Magyare nicht trauen soll, wenn er von ihm auch eine Schrift, so groß wie ein Husarenmantel, und mit einem Siegel darauf, so groß wie der Mond, bekäme, der „Deutsche", der ein Filou ist und dem „die Schwären alle Eingeweide fressen mögen", er ist in Wirklichkeit der Öster¬ reicher der historischen Erinnerung und ist seiner ethnischen Beschaffenheit nach oft alles andere: Kroäk, Tscheche, Pole, nur nicht deutsch gewesen. Deutschenhaß, wie man ihn bei den west- und südslawischen Völkerschaften Österreichs findet, kennt der Magyare nicht. Der Deutsche mit seiner Arbeitssamkeit, seiner wissen¬ schaftlichen Gründlichkeit, seinem hart zugreifenden Wesen, seiner scheinbaren Verstandeskälte und seinem Mangel an weicher, gefälliger Liebenswürdigkeit ist ihm nur zuweilen ungemütlich und unheimlich. Der zu orientalischer Lässigkeit neigende Magyare fühlt die kulturelle Überlegenheit des Deutschtums, und sein Selbsterhaltungsinstinkt lehnt sich dagegen auf. Darum schwingt neben dem Gefühl hoher Achtung für deutsches Wesen immer noch als leiser Unterton der Wunsch mit, sich von der übermächtigen deutschen Kultur frei machen zu können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/510>, abgerufen am 15.05.2024.