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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ungarn, Deutschland mit Deutschtum

ohne daß viel Aussicht wäre, daß sie unter deu scharfen Fängen der Staats¬
gewalt zu einer einheitlichen deutschen Kulturgemeinschaft zu erstarken vermöchte.
Die zweite der erwähnten Möglichkeiten, das ruhige Gewährenlassen der deutschen
Bewegung erscheint als das durchaus raisonnablere. Das Wesen der Bewegung
schließt nichts in sich, was dem inneren Bestand des Staates auch uur im
entferntesten gefährlich sein könnte. Föderalistische Bestrebungen sind aus den:
einfachen Grunde ausgeschlossen, weil das Deutschtum nirgends so geschlossen und
ungemischt bei einander wohnt, daß es ein größeres nationales Gebiet für sich
zu bilden imstande wäre, und von Jrredentismus zu sprechen wäre angesichts
der geographischen Lage einfach absurd. Wird den Deutschen in Süd- und
Westungarn dort, wo sie es wünschen -- daß es ihnen direkt angetragen werde,
kann man füglich nicht erwarten --, alles das zugestanden, wogegen unter objektiv
staatlichem Gesichtswinkel nichts eingewendet werden kann, so ist in der unver¬
brüchlichen Loyalität sowie in der ruhigen Besonnenheit und nationalen Denkweise
des Deutschen der produzierenden Stände die volle Gewähr dafür gegeben, daß
die Bewegung von Übertreibungen, Auswüchsen. Ausartungen, von Erregung,
Leidenschaft, Haß und Aufreizung bewahrt bleibt und sich darauf beschränkt, für
die deutsche Bevölkerung ein Recht in Anspruch zu nehmen, das in der Verfassung
Ungarns sowie in guter altmagyarischer Tradition begründet ist: das Recht auf freien
Lebensraum für die Entfaltung der Kulturindividualität auch der Nichtmagyaren.

Es erscheint mir durchaus uicht unmöglich, daß die Erwägung der Nachteile,
die sich aus einer feindseligen Behandlung der nationalen Bestrebungen unter den
Deutschen Süd- und Westungarns ergeben würden, das Magyarentum allmählich
dazu veranlaßt, lieber auf die oben gekennzeichnete Exploitierung des deutschen
Kulturelementes zu magyarischen Kulturzwecken zu verzichten, als die Deutschen
direkt ins magyarenfeindliche Lager zu treiben. Zwischen diesen beiden Extremen,
von denen das erstere unter dem Gesichtspunkt des erwachten deutscheu Selbst¬
gefühles unhaltbar ist und allen Anzeichen nach immer mehr an Realisierbarkeit
verliert, während das letztere nachgerade einzutreten droht, liegt ein breiter,
schöner, gangbarer Weg, der die berechtigten Interessen beider Parteien sichert.
Die Auffassung, die über das VerlMuis der ungarländischen Deutschen zum
ungarischen Staat platzgreifen müßte, wenn eine befriedigende Lösung dieser
Frage erfolgen soll, braucht nicht erst sozusagen künstlich konstruiert zu werden.
Das Paradigma ist schon längst vorhanden und in lebendiger Funktion, nach
dem dies Verhältnis behandelt werden kann: das Beispiel der siebenbürger
Sachsen, die, wie ich schon oben erwähnt habe, ihren mocius vivencii mit dem
ungarischen Staat gefunden und in die Praxis umgesetzt haben. Sie fühlen sich
wohl dabei, und es ist mir nicht bekannt, daß irgendein ernster ungarischer
Staatsmann gegen dessen Fortdauer seine Stimme erhoben hätte. Im Gegenteil
nimmt die sachsenfreundliche Strömung in: Magyarentum sichtlich zu, und wir
sind heute so weit, daß der ungarische Staat nach den verschiedensten Richtungen
hiu alles mögliche tut, um sächsische Interessen zu fördern und den Sachsen in


Grenzboten I 1912 63
Ungarn, Deutschland mit Deutschtum

ohne daß viel Aussicht wäre, daß sie unter deu scharfen Fängen der Staats¬
gewalt zu einer einheitlichen deutschen Kulturgemeinschaft zu erstarken vermöchte.
Die zweite der erwähnten Möglichkeiten, das ruhige Gewährenlassen der deutschen
Bewegung erscheint als das durchaus raisonnablere. Das Wesen der Bewegung
schließt nichts in sich, was dem inneren Bestand des Staates auch uur im
entferntesten gefährlich sein könnte. Föderalistische Bestrebungen sind aus den:
einfachen Grunde ausgeschlossen, weil das Deutschtum nirgends so geschlossen und
ungemischt bei einander wohnt, daß es ein größeres nationales Gebiet für sich
zu bilden imstande wäre, und von Jrredentismus zu sprechen wäre angesichts
der geographischen Lage einfach absurd. Wird den Deutschen in Süd- und
Westungarn dort, wo sie es wünschen — daß es ihnen direkt angetragen werde,
kann man füglich nicht erwarten —, alles das zugestanden, wogegen unter objektiv
staatlichem Gesichtswinkel nichts eingewendet werden kann, so ist in der unver¬
brüchlichen Loyalität sowie in der ruhigen Besonnenheit und nationalen Denkweise
des Deutschen der produzierenden Stände die volle Gewähr dafür gegeben, daß
die Bewegung von Übertreibungen, Auswüchsen. Ausartungen, von Erregung,
Leidenschaft, Haß und Aufreizung bewahrt bleibt und sich darauf beschränkt, für
die deutsche Bevölkerung ein Recht in Anspruch zu nehmen, das in der Verfassung
Ungarns sowie in guter altmagyarischer Tradition begründet ist: das Recht auf freien
Lebensraum für die Entfaltung der Kulturindividualität auch der Nichtmagyaren.

Es erscheint mir durchaus uicht unmöglich, daß die Erwägung der Nachteile,
die sich aus einer feindseligen Behandlung der nationalen Bestrebungen unter den
Deutschen Süd- und Westungarns ergeben würden, das Magyarentum allmählich
dazu veranlaßt, lieber auf die oben gekennzeichnete Exploitierung des deutschen
Kulturelementes zu magyarischen Kulturzwecken zu verzichten, als die Deutschen
direkt ins magyarenfeindliche Lager zu treiben. Zwischen diesen beiden Extremen,
von denen das erstere unter dem Gesichtspunkt des erwachten deutscheu Selbst¬
gefühles unhaltbar ist und allen Anzeichen nach immer mehr an Realisierbarkeit
verliert, während das letztere nachgerade einzutreten droht, liegt ein breiter,
schöner, gangbarer Weg, der die berechtigten Interessen beider Parteien sichert.
Die Auffassung, die über das VerlMuis der ungarländischen Deutschen zum
ungarischen Staat platzgreifen müßte, wenn eine befriedigende Lösung dieser
Frage erfolgen soll, braucht nicht erst sozusagen künstlich konstruiert zu werden.
Das Paradigma ist schon längst vorhanden und in lebendiger Funktion, nach
dem dies Verhältnis behandelt werden kann: das Beispiel der siebenbürger
Sachsen, die, wie ich schon oben erwähnt habe, ihren mocius vivencii mit dem
ungarischen Staat gefunden und in die Praxis umgesetzt haben. Sie fühlen sich
wohl dabei, und es ist mir nicht bekannt, daß irgendein ernster ungarischer
Staatsmann gegen dessen Fortdauer seine Stimme erhoben hätte. Im Gegenteil
nimmt die sachsenfreundliche Strömung in: Magyarentum sichtlich zu, und wir
sind heute so weit, daß der ungarische Staat nach den verschiedensten Richtungen
hiu alles mögliche tut, um sächsische Interessen zu fördern und den Sachsen in


Grenzboten I 1912 63
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[0517] Ungarn, Deutschland mit Deutschtum ohne daß viel Aussicht wäre, daß sie unter deu scharfen Fängen der Staats¬ gewalt zu einer einheitlichen deutschen Kulturgemeinschaft zu erstarken vermöchte. Die zweite der erwähnten Möglichkeiten, das ruhige Gewährenlassen der deutschen Bewegung erscheint als das durchaus raisonnablere. Das Wesen der Bewegung schließt nichts in sich, was dem inneren Bestand des Staates auch uur im entferntesten gefährlich sein könnte. Föderalistische Bestrebungen sind aus den: einfachen Grunde ausgeschlossen, weil das Deutschtum nirgends so geschlossen und ungemischt bei einander wohnt, daß es ein größeres nationales Gebiet für sich zu bilden imstande wäre, und von Jrredentismus zu sprechen wäre angesichts der geographischen Lage einfach absurd. Wird den Deutschen in Süd- und Westungarn dort, wo sie es wünschen — daß es ihnen direkt angetragen werde, kann man füglich nicht erwarten —, alles das zugestanden, wogegen unter objektiv staatlichem Gesichtswinkel nichts eingewendet werden kann, so ist in der unver¬ brüchlichen Loyalität sowie in der ruhigen Besonnenheit und nationalen Denkweise des Deutschen der produzierenden Stände die volle Gewähr dafür gegeben, daß die Bewegung von Übertreibungen, Auswüchsen. Ausartungen, von Erregung, Leidenschaft, Haß und Aufreizung bewahrt bleibt und sich darauf beschränkt, für die deutsche Bevölkerung ein Recht in Anspruch zu nehmen, das in der Verfassung Ungarns sowie in guter altmagyarischer Tradition begründet ist: das Recht auf freien Lebensraum für die Entfaltung der Kulturindividualität auch der Nichtmagyaren. Es erscheint mir durchaus uicht unmöglich, daß die Erwägung der Nachteile, die sich aus einer feindseligen Behandlung der nationalen Bestrebungen unter den Deutschen Süd- und Westungarns ergeben würden, das Magyarentum allmählich dazu veranlaßt, lieber auf die oben gekennzeichnete Exploitierung des deutschen Kulturelementes zu magyarischen Kulturzwecken zu verzichten, als die Deutschen direkt ins magyarenfeindliche Lager zu treiben. Zwischen diesen beiden Extremen, von denen das erstere unter dem Gesichtspunkt des erwachten deutscheu Selbst¬ gefühles unhaltbar ist und allen Anzeichen nach immer mehr an Realisierbarkeit verliert, während das letztere nachgerade einzutreten droht, liegt ein breiter, schöner, gangbarer Weg, der die berechtigten Interessen beider Parteien sichert. Die Auffassung, die über das VerlMuis der ungarländischen Deutschen zum ungarischen Staat platzgreifen müßte, wenn eine befriedigende Lösung dieser Frage erfolgen soll, braucht nicht erst sozusagen künstlich konstruiert zu werden. Das Paradigma ist schon längst vorhanden und in lebendiger Funktion, nach dem dies Verhältnis behandelt werden kann: das Beispiel der siebenbürger Sachsen, die, wie ich schon oben erwähnt habe, ihren mocius vivencii mit dem ungarischen Staat gefunden und in die Praxis umgesetzt haben. Sie fühlen sich wohl dabei, und es ist mir nicht bekannt, daß irgendein ernster ungarischer Staatsmann gegen dessen Fortdauer seine Stimme erhoben hätte. Im Gegenteil nimmt die sachsenfreundliche Strömung in: Magyarentum sichtlich zu, und wir sind heute so weit, daß der ungarische Staat nach den verschiedensten Richtungen hiu alles mögliche tut, um sächsische Interessen zu fördern und den Sachsen in Grenzboten I 1912 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/517>, abgerufen am 04.06.2024.