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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

der Streitenden zwar einen höheren Prozentsatz der Belegschaften darstellte, aber
nach Köpfen gerechnet der jetzigen Ausstandsbewegung ungefähr gleich kam.
Nach amtlicher Feststellung bezifferte sich allein der Lohnausfall, den die
Arbeiter in dieser Zeit erlitten, auf etwa 16 Millionen Mark, die Minder¬
förderung der Gruben auf etwa 30 Millionen Mark, der tägliche Ein¬
nahmeausfall der Eisenbahn an Frachten auf nicht weniger als 460000 Mark.
Dazu trat die durch den Kohlenmangel erzwungene Produktionseinschränkung
der Eisenindustrie, die allgemeine Absatzstockung im Handel, der auf dem Konsum
der Arbeitsheere gegründet ist, die allgemeine Kreditnot, die Verluste und Ver¬
schuldung, an deren Folgen nicht nur das Ruhrrevier, sondern weite Kreise
unserer Volkswirtschaft jahrelang kranken mußten. Ähnliches wird sich auch
diesmal wieder ereignen. Allerdings werden die Folgen für die kohlen¬
konsumierenden Industrien erst später zu verspüren sein, denn es sind große
Vorräte, namentlich an Koth, vorhanden, deren Lichtung den Zechen sogar recht
erwünscht sein mag. Aber auf der anderen Seite fehlt die englische' Kohle,
die bei dem letzten Streike den heimischen Ausfall in großem Umfange wett¬
gemacht hat, so daß bei einer längeren Dauer des Streites die Folgen desselben
noch schwerer zu spüren sein werden. Dazu gard es auch unter den Berg¬
arbeitern Sachsens, und es besteht die dringende Gefahr, daß der Aufstand
auch auf das dortige Revier übergreift. Die Industrie befindet sich also in
einer kritischen Lage und hat ein Recht, die nächste Zukunft mit Sorge zu
betrachten. Da kann es auffallend erscheinen, daß die Börse die Situation
anscheinend anders beurteilt. Hat sie doch den Ausbruch des Streites mit einer
regelrechten Hauffe begrüßt. Die Kurse der Montanwerte sind in der letzten
Woche prozentweise gestiegen und erst gegen Wochenschluß hat eine Abschwächung
eingesetzt. Dieses anscheinend widersinnige Verhalten ist natürlich nur auf
börsentechnische Momente zurückzuführen. Die Kurssteigerung war lediglich eine
Folge der Deckungskäufe, welche die Kontremine beim Eintreten des Ereignisses
vornahm. So ist das äußere Bild der Kursbewegung ein irreführendes. Für
irgendwelchen Optimismus, der sich in spekulativer Kauflust Luft machen könnte,
fehlen alle Voraussetzungen. Denn es ist nicht nur der Streik, welcher die
Aussichten augenblicklich trübe erscheinen läßt; noch schwerere Sorge bereiten der
Börse die Geldverhältnisse.

Diese haben eine Entwicklung genommen, die in der gegenwärtigen
Jahreszeit durchaus ungewöhnlich und auffällig ist. Geld ist von Tag zu Tag
teuerer geworden. Der Bedarf an täglichem Geld ist außerordentlich groß, so
daß der Zinssatz für dasselbe bis über 5 Prozent gestiegen ist. Zugleich ist
das Wechselangebot ein so bedeutendes, daß es den Privatdiskontsatz bis in
unmittelbare Nähe der Bankrate gedrängt hat. Die Situation steht also heute
eher danach aus, daß die Reichsbank angesichts der zu erwartenden Ansprüche
am Quartalstermin zu einer Erhöhung, als daß sie zu einer Ermäßigung ihres
Zinsfußes schreiten könnte. Freilich wirft bei dieser Gestaltung des Geldmarktes der


Reichsspiegel

der Streitenden zwar einen höheren Prozentsatz der Belegschaften darstellte, aber
nach Köpfen gerechnet der jetzigen Ausstandsbewegung ungefähr gleich kam.
Nach amtlicher Feststellung bezifferte sich allein der Lohnausfall, den die
Arbeiter in dieser Zeit erlitten, auf etwa 16 Millionen Mark, die Minder¬
förderung der Gruben auf etwa 30 Millionen Mark, der tägliche Ein¬
nahmeausfall der Eisenbahn an Frachten auf nicht weniger als 460000 Mark.
Dazu trat die durch den Kohlenmangel erzwungene Produktionseinschränkung
der Eisenindustrie, die allgemeine Absatzstockung im Handel, der auf dem Konsum
der Arbeitsheere gegründet ist, die allgemeine Kreditnot, die Verluste und Ver¬
schuldung, an deren Folgen nicht nur das Ruhrrevier, sondern weite Kreise
unserer Volkswirtschaft jahrelang kranken mußten. Ähnliches wird sich auch
diesmal wieder ereignen. Allerdings werden die Folgen für die kohlen¬
konsumierenden Industrien erst später zu verspüren sein, denn es sind große
Vorräte, namentlich an Koth, vorhanden, deren Lichtung den Zechen sogar recht
erwünscht sein mag. Aber auf der anderen Seite fehlt die englische' Kohle,
die bei dem letzten Streike den heimischen Ausfall in großem Umfange wett¬
gemacht hat, so daß bei einer längeren Dauer des Streites die Folgen desselben
noch schwerer zu spüren sein werden. Dazu gard es auch unter den Berg¬
arbeitern Sachsens, und es besteht die dringende Gefahr, daß der Aufstand
auch auf das dortige Revier übergreift. Die Industrie befindet sich also in
einer kritischen Lage und hat ein Recht, die nächste Zukunft mit Sorge zu
betrachten. Da kann es auffallend erscheinen, daß die Börse die Situation
anscheinend anders beurteilt. Hat sie doch den Ausbruch des Streites mit einer
regelrechten Hauffe begrüßt. Die Kurse der Montanwerte sind in der letzten
Woche prozentweise gestiegen und erst gegen Wochenschluß hat eine Abschwächung
eingesetzt. Dieses anscheinend widersinnige Verhalten ist natürlich nur auf
börsentechnische Momente zurückzuführen. Die Kurssteigerung war lediglich eine
Folge der Deckungskäufe, welche die Kontremine beim Eintreten des Ereignisses
vornahm. So ist das äußere Bild der Kursbewegung ein irreführendes. Für
irgendwelchen Optimismus, der sich in spekulativer Kauflust Luft machen könnte,
fehlen alle Voraussetzungen. Denn es ist nicht nur der Streik, welcher die
Aussichten augenblicklich trübe erscheinen läßt; noch schwerere Sorge bereiten der
Börse die Geldverhältnisse.

Diese haben eine Entwicklung genommen, die in der gegenwärtigen
Jahreszeit durchaus ungewöhnlich und auffällig ist. Geld ist von Tag zu Tag
teuerer geworden. Der Bedarf an täglichem Geld ist außerordentlich groß, so
daß der Zinssatz für dasselbe bis über 5 Prozent gestiegen ist. Zugleich ist
das Wechselangebot ein so bedeutendes, daß es den Privatdiskontsatz bis in
unmittelbare Nähe der Bankrate gedrängt hat. Die Situation steht also heute
eher danach aus, daß die Reichsbank angesichts der zu erwartenden Ansprüche
am Quartalstermin zu einer Erhöhung, als daß sie zu einer Ermäßigung ihres
Zinsfußes schreiten könnte. Freilich wirft bei dieser Gestaltung des Geldmarktes der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/600>, abgerufen am 15.05.2024.