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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Franz Weilers Martyrium

einen Wand längs hintereinander, an der gegenüberliegenden, in die die Tür
zum Hausgang gebrochen ist, ein Kleiderschrank und ein Büchergestell. Auf der
Schmalseite nach dem Hofe zu das einzige Fenster, an der rückwärtigen eine
Kommode. Vor jedem Bett ein Stuhl, die Buben legen ihre Kleider darauf.
Die zwei älteren Brüder schlafen beisammen und die zwei jüngeren. Franz
und Jakob haben das Bett am Fenster.

Franz ruft beim Ausziehen halblaut den Bruder an:

"Jakob! . . . Jakob!"

Keine Antwort. Der schläft schon fest.

Franz hat als älterer den vorderen Platz. Heute hätte er aus Furcht gern
den Hinteren gehabt. Hinten hätte er sich sicherer gefühlt. Aber er will den
Bruder nicht wecken. Der könnte lärmen, und das könnte die Mutter veranlassen
hereinzukommen.

Der Bub betet zuerst zum Schutzengel.

Hat er heute Sünden getan? Wieder fragt er sich: war das mit der Mutter
eine Sünde? Er sinnt eine Weile. Aber sein Sinnen verliert sich in Schläfrigkeit.
Er schrickt aus und betet weiter. Ein Vaterunser und Avemaria. Danach das
eigentliche Nachtgebet. Bei der Stelle:

schaudert er zusammen. Er stellt sich das vor, und es friert ihn. Da verjagt
er das Bild. Sein Gebet beschließt er mit dem Vers:

Das Gute, was sie mir getan! Franz betet den Vers morgens und abends.
Jedesmal überlegt er dabei, was seine Eltern ihm Gutes tun. Seine feine,
weiche Seele sucht geistige Wohltaten und findet keine. Franz denkt: aber sie
geben dir zu essen und zu trinken, und sie kleiden dich. Darauf erwidert seine
zweite Stimme: aber dafür schaffst du ihnen doch auch. So türmen sich die
Rätsel. Franz möchte sie zusammenstoßen. Es geht nicht. Dann sagt er sich:
das vierte Gebot befiehlt, man soll auch für die Eltern beten. Der liebe Gott
sagt's, und die Rätsel versinken.


Franz Weilers Martyrium

einen Wand längs hintereinander, an der gegenüberliegenden, in die die Tür
zum Hausgang gebrochen ist, ein Kleiderschrank und ein Büchergestell. Auf der
Schmalseite nach dem Hofe zu das einzige Fenster, an der rückwärtigen eine
Kommode. Vor jedem Bett ein Stuhl, die Buben legen ihre Kleider darauf.
Die zwei älteren Brüder schlafen beisammen und die zwei jüngeren. Franz
und Jakob haben das Bett am Fenster.

Franz ruft beim Ausziehen halblaut den Bruder an:

„Jakob! . . . Jakob!"

Keine Antwort. Der schläft schon fest.

Franz hat als älterer den vorderen Platz. Heute hätte er aus Furcht gern
den Hinteren gehabt. Hinten hätte er sich sicherer gefühlt. Aber er will den
Bruder nicht wecken. Der könnte lärmen, und das könnte die Mutter veranlassen
hereinzukommen.

Der Bub betet zuerst zum Schutzengel.

Hat er heute Sünden getan? Wieder fragt er sich: war das mit der Mutter
eine Sünde? Er sinnt eine Weile. Aber sein Sinnen verliert sich in Schläfrigkeit.
Er schrickt aus und betet weiter. Ein Vaterunser und Avemaria. Danach das
eigentliche Nachtgebet. Bei der Stelle:

schaudert er zusammen. Er stellt sich das vor, und es friert ihn. Da verjagt
er das Bild. Sein Gebet beschließt er mit dem Vers:

Das Gute, was sie mir getan! Franz betet den Vers morgens und abends.
Jedesmal überlegt er dabei, was seine Eltern ihm Gutes tun. Seine feine,
weiche Seele sucht geistige Wohltaten und findet keine. Franz denkt: aber sie
geben dir zu essen und zu trinken, und sie kleiden dich. Darauf erwidert seine
zweite Stimme: aber dafür schaffst du ihnen doch auch. So türmen sich die
Rätsel. Franz möchte sie zusammenstoßen. Es geht nicht. Dann sagt er sich:
das vierte Gebot befiehlt, man soll auch für die Eltern beten. Der liebe Gott
sagt's, und die Rätsel versinken.


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[0627] Franz Weilers Martyrium einen Wand längs hintereinander, an der gegenüberliegenden, in die die Tür zum Hausgang gebrochen ist, ein Kleiderschrank und ein Büchergestell. Auf der Schmalseite nach dem Hofe zu das einzige Fenster, an der rückwärtigen eine Kommode. Vor jedem Bett ein Stuhl, die Buben legen ihre Kleider darauf. Die zwei älteren Brüder schlafen beisammen und die zwei jüngeren. Franz und Jakob haben das Bett am Fenster. Franz ruft beim Ausziehen halblaut den Bruder an: „Jakob! . . . Jakob!" Keine Antwort. Der schläft schon fest. Franz hat als älterer den vorderen Platz. Heute hätte er aus Furcht gern den Hinteren gehabt. Hinten hätte er sich sicherer gefühlt. Aber er will den Bruder nicht wecken. Der könnte lärmen, und das könnte die Mutter veranlassen hereinzukommen. Der Bub betet zuerst zum Schutzengel. Hat er heute Sünden getan? Wieder fragt er sich: war das mit der Mutter eine Sünde? Er sinnt eine Weile. Aber sein Sinnen verliert sich in Schläfrigkeit. Er schrickt aus und betet weiter. Ein Vaterunser und Avemaria. Danach das eigentliche Nachtgebet. Bei der Stelle: schaudert er zusammen. Er stellt sich das vor, und es friert ihn. Da verjagt er das Bild. Sein Gebet beschließt er mit dem Vers: Das Gute, was sie mir getan! Franz betet den Vers morgens und abends. Jedesmal überlegt er dabei, was seine Eltern ihm Gutes tun. Seine feine, weiche Seele sucht geistige Wohltaten und findet keine. Franz denkt: aber sie geben dir zu essen und zu trinken, und sie kleiden dich. Darauf erwidert seine zweite Stimme: aber dafür schaffst du ihnen doch auch. So türmen sich die Rätsel. Franz möchte sie zusammenstoßen. Es geht nicht. Dann sagt er sich: das vierte Gebot befiehlt, man soll auch für die Eltern beten. Der liebe Gott sagt's, und die Rätsel versinken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/627>, abgerufen am 16.05.2024.