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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Rußland, Frankreich und Deutschland

Der Verfasser geht davon aus, daß der Krieg 1.870 das europäische Gleich¬
gewicht tief erschüttert habe. In Nußland habe man schon bei Beginn des
Krieges dunkel geahnt, daß es zwischen dein geeinten Deutschland und Rußland
anders werden würde als bisher. Während bis dahin die freundschaftlichen
Gefühle der blutsverwandten Dynastien auch die Politik der Regierungen
bestimmt hatten, forderten jetzt die Gefühle und Stimmungen der Nationalitäten
ihr Recht. Dennoch tritt der Verfasser entschieden der französischen Auffassung
entgegen, die einen besonders starken Ausdruck in den Aufzeichnungen Emile
Olliviers über die Entstehung des Krieges von 1870 gefunden hat, nämlich der
Meinung, als ob Kaiser Alexander der Zweite nur aus persönlicher Neigung
und politischer Kurzsichtigkeit die bekannte deutschfreundliche Haltung während
des Krieges eingenommen habe. Ssaburow weist nach, daß gerade das russische
Interesse diese Haltung erfordert habe. Der Pariser Vertrag von 1856 hatte
zwischen Frankreich, Österreich und England eine dauernde Koalition aufgerichtet,
die sich gegen ein wichtiges russisches Lebensinteresse richtete. Nur Preußen
hatte sich an diesen besonderen Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Ab¬
machungen über die Verhältnisse im Schwarzen Meere nicht beteiligt. Alexander
der Zweite, der unter den Eindrücken der Ergebnisse des Krimkrieges zur
Regierung gelangt war, hatte gerade im russischen Interesse keine Veran¬
lassung, die Politik seines Vaters fortzusetzen und Österreich gegen das auf¬
steigende Preußen zu beschützen. Er empfand mit Recht die Niederlagen
Österreichs 1859 und 1866 als Schläge, die gegen den Vertrag von 1856
geführt wurden. Ähnliche Erwägungen lagen auch 1870 der russischen Politik
zugrunde. "Österreich in dem bevorstehenden Kampfe neutral zu erhalten, war
in diesem Augenblick für Rußland eine Notwendigkeit; man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß bei dem damaligen Stand der Dinge die preußischen Siege
auch die unsrigen waren." Dieser Auffassung des Kaisers und der maßgebenden
Politiker Rußlands stellten sich schon damals die "patriotischen Beklemmungen"
des erwachenden russischen Nationalismus entgegen. Die junge Generation
betrachtete den Krimkrieg nur noch als Geschichte. Er war für sie keine persön¬
liche Erfahrung, die ihre politischen Ideen beeinflussen konnte. Unmittelbar
empfanden diese Jüngeren nur die Störung des europäischen Gleichgewichts,
die in ihnen die Vorstellung erzeugte, als ob das benachbarte neue Kaiserreich
nach der gänzlichen Zerschmetterung Frankreichs nun Nußland vollständig isolieren
und zur Ohnmacht verurteilen werde. Den Männern dagegen, die einen
Einblick in die politische Praxis der vorhergegangenen Epoche gewonnen
hatten, erschien im Gegenteil das Bündnis mit Preußen notwendiger als je.
Das vergrößerte und befestigte Preußen war jetzt endlich ein nützlicher Bundes¬
genosse geworden, wie man ihn lange ersehnt hatte und für die Orientpolitik
brauchte. Ssaburow gibt hier seiner Überzeugung von der Richtigkeit der
Politik Alexanders des Zweiten einen sehr entschiedenen Ausdruck. Er schreibt
wörtlich:


Rußland, Frankreich und Deutschland

Der Verfasser geht davon aus, daß der Krieg 1.870 das europäische Gleich¬
gewicht tief erschüttert habe. In Nußland habe man schon bei Beginn des
Krieges dunkel geahnt, daß es zwischen dein geeinten Deutschland und Rußland
anders werden würde als bisher. Während bis dahin die freundschaftlichen
Gefühle der blutsverwandten Dynastien auch die Politik der Regierungen
bestimmt hatten, forderten jetzt die Gefühle und Stimmungen der Nationalitäten
ihr Recht. Dennoch tritt der Verfasser entschieden der französischen Auffassung
entgegen, die einen besonders starken Ausdruck in den Aufzeichnungen Emile
Olliviers über die Entstehung des Krieges von 1870 gefunden hat, nämlich der
Meinung, als ob Kaiser Alexander der Zweite nur aus persönlicher Neigung
und politischer Kurzsichtigkeit die bekannte deutschfreundliche Haltung während
des Krieges eingenommen habe. Ssaburow weist nach, daß gerade das russische
Interesse diese Haltung erfordert habe. Der Pariser Vertrag von 1856 hatte
zwischen Frankreich, Österreich und England eine dauernde Koalition aufgerichtet,
die sich gegen ein wichtiges russisches Lebensinteresse richtete. Nur Preußen
hatte sich an diesen besonderen Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Ab¬
machungen über die Verhältnisse im Schwarzen Meere nicht beteiligt. Alexander
der Zweite, der unter den Eindrücken der Ergebnisse des Krimkrieges zur
Regierung gelangt war, hatte gerade im russischen Interesse keine Veran¬
lassung, die Politik seines Vaters fortzusetzen und Österreich gegen das auf¬
steigende Preußen zu beschützen. Er empfand mit Recht die Niederlagen
Österreichs 1859 und 1866 als Schläge, die gegen den Vertrag von 1856
geführt wurden. Ähnliche Erwägungen lagen auch 1870 der russischen Politik
zugrunde. „Österreich in dem bevorstehenden Kampfe neutral zu erhalten, war
in diesem Augenblick für Rußland eine Notwendigkeit; man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß bei dem damaligen Stand der Dinge die preußischen Siege
auch die unsrigen waren." Dieser Auffassung des Kaisers und der maßgebenden
Politiker Rußlands stellten sich schon damals die „patriotischen Beklemmungen"
des erwachenden russischen Nationalismus entgegen. Die junge Generation
betrachtete den Krimkrieg nur noch als Geschichte. Er war für sie keine persön¬
liche Erfahrung, die ihre politischen Ideen beeinflussen konnte. Unmittelbar
empfanden diese Jüngeren nur die Störung des europäischen Gleichgewichts,
die in ihnen die Vorstellung erzeugte, als ob das benachbarte neue Kaiserreich
nach der gänzlichen Zerschmetterung Frankreichs nun Nußland vollständig isolieren
und zur Ohnmacht verurteilen werde. Den Männern dagegen, die einen
Einblick in die politische Praxis der vorhergegangenen Epoche gewonnen
hatten, erschien im Gegenteil das Bündnis mit Preußen notwendiger als je.
Das vergrößerte und befestigte Preußen war jetzt endlich ein nützlicher Bundes¬
genosse geworden, wie man ihn lange ersehnt hatte und für die Orientpolitik
brauchte. Ssaburow gibt hier seiner Überzeugung von der Richtigkeit der
Politik Alexanders des Zweiten einen sehr entschiedenen Ausdruck. Er schreibt
wörtlich:


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[0110] Rußland, Frankreich und Deutschland Der Verfasser geht davon aus, daß der Krieg 1.870 das europäische Gleich¬ gewicht tief erschüttert habe. In Nußland habe man schon bei Beginn des Krieges dunkel geahnt, daß es zwischen dein geeinten Deutschland und Rußland anders werden würde als bisher. Während bis dahin die freundschaftlichen Gefühle der blutsverwandten Dynastien auch die Politik der Regierungen bestimmt hatten, forderten jetzt die Gefühle und Stimmungen der Nationalitäten ihr Recht. Dennoch tritt der Verfasser entschieden der französischen Auffassung entgegen, die einen besonders starken Ausdruck in den Aufzeichnungen Emile Olliviers über die Entstehung des Krieges von 1870 gefunden hat, nämlich der Meinung, als ob Kaiser Alexander der Zweite nur aus persönlicher Neigung und politischer Kurzsichtigkeit die bekannte deutschfreundliche Haltung während des Krieges eingenommen habe. Ssaburow weist nach, daß gerade das russische Interesse diese Haltung erfordert habe. Der Pariser Vertrag von 1856 hatte zwischen Frankreich, Österreich und England eine dauernde Koalition aufgerichtet, die sich gegen ein wichtiges russisches Lebensinteresse richtete. Nur Preußen hatte sich an diesen besonderen Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung der Ab¬ machungen über die Verhältnisse im Schwarzen Meere nicht beteiligt. Alexander der Zweite, der unter den Eindrücken der Ergebnisse des Krimkrieges zur Regierung gelangt war, hatte gerade im russischen Interesse keine Veran¬ lassung, die Politik seines Vaters fortzusetzen und Österreich gegen das auf¬ steigende Preußen zu beschützen. Er empfand mit Recht die Niederlagen Österreichs 1859 und 1866 als Schläge, die gegen den Vertrag von 1856 geführt wurden. Ähnliche Erwägungen lagen auch 1870 der russischen Politik zugrunde. „Österreich in dem bevorstehenden Kampfe neutral zu erhalten, war in diesem Augenblick für Rußland eine Notwendigkeit; man kann ohne Über¬ treibung sagen, daß bei dem damaligen Stand der Dinge die preußischen Siege auch die unsrigen waren." Dieser Auffassung des Kaisers und der maßgebenden Politiker Rußlands stellten sich schon damals die „patriotischen Beklemmungen" des erwachenden russischen Nationalismus entgegen. Die junge Generation betrachtete den Krimkrieg nur noch als Geschichte. Er war für sie keine persön¬ liche Erfahrung, die ihre politischen Ideen beeinflussen konnte. Unmittelbar empfanden diese Jüngeren nur die Störung des europäischen Gleichgewichts, die in ihnen die Vorstellung erzeugte, als ob das benachbarte neue Kaiserreich nach der gänzlichen Zerschmetterung Frankreichs nun Nußland vollständig isolieren und zur Ohnmacht verurteilen werde. Den Männern dagegen, die einen Einblick in die politische Praxis der vorhergegangenen Epoche gewonnen hatten, erschien im Gegenteil das Bündnis mit Preußen notwendiger als je. Das vergrößerte und befestigte Preußen war jetzt endlich ein nützlicher Bundes¬ genosse geworden, wie man ihn lange ersehnt hatte und für die Orientpolitik brauchte. Ssaburow gibt hier seiner Überzeugung von der Richtigkeit der Politik Alexanders des Zweiten einen sehr entschiedenen Ausdruck. Er schreibt wörtlich:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/110>, abgerufen am 17.06.2024.