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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Das Problem der Ivahlrcform in Ungarn

bezug auf die nationale Zugehörigkeit gehandhabt wird, gegen die Zuverlässigkeit
dieser Ziffern begründete Einwendungen erheben ließen, will ich sie, da es für die
vorliegende Frage nicht von besonderem Gewicht ist, gelten lassen. Kroatien,
wo die Magyaren nur durch eine kleine Zahl von Beamten hauptsächlich bei
der Eisenbahnverwaltung vertreten sind, entsendet auf Grund des ungarisch¬
kroatischen Ausgleiches vom Jahre 1868 vierzig Abgeordnete in den ungarischen
Reichstag, die allerdings bei bestimmten Fragen kein Stimmrecht haben. Das
ergäbe aber schon bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht eine Minderheit für
das magyarische Volk im ungarischen Abgeordnetenhause. Nun betrachten sich
aber die Magyaren als das Staatsvolk Ungarns schlechthin. Ihre Sprache ist
die Staatssprache, sie nehmen nicht die Hegemonie, sondern die Suprematie
über die nichtmagyarischen Völker des Landes in Anspruch, und das kaum ver¬
hüllte Ziel ihrer Politik ist es, aus Ungarn einen magyarischen Nationalstaat
zu machen, was natürlich nur durch die Assimilierung der nichtmagyarischen
Bewohner des Landes zu erreichen ist. Bis zum Jahre 1848 hatte Ungarn
eine rein ständische Verfassung: der Landtag bestand nur aus den Vertretern
des Adels, neben dem einige Städtevertreter gar keine Rolle spielten. Der
Adel aber war magyarisch oder magyarisiert; letzteres war ohne Anwendung
von Zwang eine Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse. Als nun in den Jahren 1848
und 1867 diese ständische Verfassung dem äußeren Scheine nach in eine moderne
Repräsentativverfassung verwandelt wurde, war die magyarische Suprematie
natürlich durch jedes wirklich demokratische Wahlrecht gefährdet, und so wurde
ein Wahlrecht geschaffen, das diese Suprematie gewährleisten sollte. Dem
diente zunächst die Wahlgeometrie: in den von Magyaren bewohnten Gegenden
wurden sehr kleine, in den von Nichtmagyaren bewohnten sehr große Wahlkreise
abgegrenzt; die Städte, in denen der Einfluß der Regierung stärker ist und die
Magyarisierung raschere Fortschritte macht, wurden bevorzugt; die Stimmen mußten
in einem einzigen Wahlort öffentlich abgegeben werden. Das Ziel wurde bei der
allgemeinen Korruption und Beeinflussung derWahlen durch Gewalt und Terrorismus
auch vollkommen erreicht. Im gegenwärtigen Reichstag sitzen, wenn man von den
dreizehn siebenbürger Sachsen absieht, die der Regierungspartei angehören,
und den vierzig Kroaten, die überhaupt nicht gewählt sind, weil der kroatische
Landtag seit Jahren nicht getagt hat und daher die Abgeordneten für den
Reichstag nicht wählen konnte, ganze acht Vertreter der Nationalitätenpartei,
d. h. Abgeordnete, die sich die Verfechtung der nationalen Interessen der nicht¬
magyarischen Nationalitäten zur Aufgabe gemacht haben.

Es gibt ja nun eine nicht kleine Anzahl magyarischer Politiker, die der
Meinung sind, daß es ganz gut in Ewigkeit so fortgehen könnte. Der Adel
beherrscht heute nicht mehr allein die Staatsmaschine; die regierende Schicht hat
sich erweitert, sie hat das städtische Bürgertum, Kaufleute und Industrielle und das
ständig anschwellende Heer der Beamten in sich ausgenommen, mit denen zusammen
der Adel nun das bildet, was man in Ungarn unter "Gentry" versteht. Die


Das Problem der Ivahlrcform in Ungarn

bezug auf die nationale Zugehörigkeit gehandhabt wird, gegen die Zuverlässigkeit
dieser Ziffern begründete Einwendungen erheben ließen, will ich sie, da es für die
vorliegende Frage nicht von besonderem Gewicht ist, gelten lassen. Kroatien,
wo die Magyaren nur durch eine kleine Zahl von Beamten hauptsächlich bei
der Eisenbahnverwaltung vertreten sind, entsendet auf Grund des ungarisch¬
kroatischen Ausgleiches vom Jahre 1868 vierzig Abgeordnete in den ungarischen
Reichstag, die allerdings bei bestimmten Fragen kein Stimmrecht haben. Das
ergäbe aber schon bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht eine Minderheit für
das magyarische Volk im ungarischen Abgeordnetenhause. Nun betrachten sich
aber die Magyaren als das Staatsvolk Ungarns schlechthin. Ihre Sprache ist
die Staatssprache, sie nehmen nicht die Hegemonie, sondern die Suprematie
über die nichtmagyarischen Völker des Landes in Anspruch, und das kaum ver¬
hüllte Ziel ihrer Politik ist es, aus Ungarn einen magyarischen Nationalstaat
zu machen, was natürlich nur durch die Assimilierung der nichtmagyarischen
Bewohner des Landes zu erreichen ist. Bis zum Jahre 1848 hatte Ungarn
eine rein ständische Verfassung: der Landtag bestand nur aus den Vertretern
des Adels, neben dem einige Städtevertreter gar keine Rolle spielten. Der
Adel aber war magyarisch oder magyarisiert; letzteres war ohne Anwendung
von Zwang eine Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse. Als nun in den Jahren 1848
und 1867 diese ständische Verfassung dem äußeren Scheine nach in eine moderne
Repräsentativverfassung verwandelt wurde, war die magyarische Suprematie
natürlich durch jedes wirklich demokratische Wahlrecht gefährdet, und so wurde
ein Wahlrecht geschaffen, das diese Suprematie gewährleisten sollte. Dem
diente zunächst die Wahlgeometrie: in den von Magyaren bewohnten Gegenden
wurden sehr kleine, in den von Nichtmagyaren bewohnten sehr große Wahlkreise
abgegrenzt; die Städte, in denen der Einfluß der Regierung stärker ist und die
Magyarisierung raschere Fortschritte macht, wurden bevorzugt; die Stimmen mußten
in einem einzigen Wahlort öffentlich abgegeben werden. Das Ziel wurde bei der
allgemeinen Korruption und Beeinflussung derWahlen durch Gewalt und Terrorismus
auch vollkommen erreicht. Im gegenwärtigen Reichstag sitzen, wenn man von den
dreizehn siebenbürger Sachsen absieht, die der Regierungspartei angehören,
und den vierzig Kroaten, die überhaupt nicht gewählt sind, weil der kroatische
Landtag seit Jahren nicht getagt hat und daher die Abgeordneten für den
Reichstag nicht wählen konnte, ganze acht Vertreter der Nationalitätenpartei,
d. h. Abgeordnete, die sich die Verfechtung der nationalen Interessen der nicht¬
magyarischen Nationalitäten zur Aufgabe gemacht haben.

Es gibt ja nun eine nicht kleine Anzahl magyarischer Politiker, die der
Meinung sind, daß es ganz gut in Ewigkeit so fortgehen könnte. Der Adel
beherrscht heute nicht mehr allein die Staatsmaschine; die regierende Schicht hat
sich erweitert, sie hat das städtische Bürgertum, Kaufleute und Industrielle und das
ständig anschwellende Heer der Beamten in sich ausgenommen, mit denen zusammen
der Adel nun das bildet, was man in Ungarn unter „Gentry" versteht. Die


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[0129] Das Problem der Ivahlrcform in Ungarn bezug auf die nationale Zugehörigkeit gehandhabt wird, gegen die Zuverlässigkeit dieser Ziffern begründete Einwendungen erheben ließen, will ich sie, da es für die vorliegende Frage nicht von besonderem Gewicht ist, gelten lassen. Kroatien, wo die Magyaren nur durch eine kleine Zahl von Beamten hauptsächlich bei der Eisenbahnverwaltung vertreten sind, entsendet auf Grund des ungarisch¬ kroatischen Ausgleiches vom Jahre 1868 vierzig Abgeordnete in den ungarischen Reichstag, die allerdings bei bestimmten Fragen kein Stimmrecht haben. Das ergäbe aber schon bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht eine Minderheit für das magyarische Volk im ungarischen Abgeordnetenhause. Nun betrachten sich aber die Magyaren als das Staatsvolk Ungarns schlechthin. Ihre Sprache ist die Staatssprache, sie nehmen nicht die Hegemonie, sondern die Suprematie über die nichtmagyarischen Völker des Landes in Anspruch, und das kaum ver¬ hüllte Ziel ihrer Politik ist es, aus Ungarn einen magyarischen Nationalstaat zu machen, was natürlich nur durch die Assimilierung der nichtmagyarischen Bewohner des Landes zu erreichen ist. Bis zum Jahre 1848 hatte Ungarn eine rein ständische Verfassung: der Landtag bestand nur aus den Vertretern des Adels, neben dem einige Städtevertreter gar keine Rolle spielten. Der Adel aber war magyarisch oder magyarisiert; letzteres war ohne Anwendung von Zwang eine Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse. Als nun in den Jahren 1848 und 1867 diese ständische Verfassung dem äußeren Scheine nach in eine moderne Repräsentativverfassung verwandelt wurde, war die magyarische Suprematie natürlich durch jedes wirklich demokratische Wahlrecht gefährdet, und so wurde ein Wahlrecht geschaffen, das diese Suprematie gewährleisten sollte. Dem diente zunächst die Wahlgeometrie: in den von Magyaren bewohnten Gegenden wurden sehr kleine, in den von Nichtmagyaren bewohnten sehr große Wahlkreise abgegrenzt; die Städte, in denen der Einfluß der Regierung stärker ist und die Magyarisierung raschere Fortschritte macht, wurden bevorzugt; die Stimmen mußten in einem einzigen Wahlort öffentlich abgegeben werden. Das Ziel wurde bei der allgemeinen Korruption und Beeinflussung derWahlen durch Gewalt und Terrorismus auch vollkommen erreicht. Im gegenwärtigen Reichstag sitzen, wenn man von den dreizehn siebenbürger Sachsen absieht, die der Regierungspartei angehören, und den vierzig Kroaten, die überhaupt nicht gewählt sind, weil der kroatische Landtag seit Jahren nicht getagt hat und daher die Abgeordneten für den Reichstag nicht wählen konnte, ganze acht Vertreter der Nationalitätenpartei, d. h. Abgeordnete, die sich die Verfechtung der nationalen Interessen der nicht¬ magyarischen Nationalitäten zur Aufgabe gemacht haben. Es gibt ja nun eine nicht kleine Anzahl magyarischer Politiker, die der Meinung sind, daß es ganz gut in Ewigkeit so fortgehen könnte. Der Adel beherrscht heute nicht mehr allein die Staatsmaschine; die regierende Schicht hat sich erweitert, sie hat das städtische Bürgertum, Kaufleute und Industrielle und das ständig anschwellende Heer der Beamten in sich ausgenommen, mit denen zusammen der Adel nun das bildet, was man in Ungarn unter „Gentry" versteht. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/129>, abgerufen am 11.06.2024.