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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Das Problem der Mahlreform in Ungarn

der Kaiser ließ die Resolution nicht zu, Graf Khuen demissionierte. Apponui,
Andrassy, Tisza, die drei Grafen, die Ungarns Geschicke lenken, hatten ihren
Zweck erreicht: man war wieder mitten drin in einem staatsrechtlichen Streit,
man kämpfte um die "Rechte der Nation", wie seit Jahrhunderten. Das
mußte die Aufmerksamkeit von der Wahlrechtsfrage ablenken. Der Monarch
gab nicht nach, da er diesmal eine starke Stütze am Kriegsminister und öster¬
reichischen Ministerpräsidenten fand und wohl auch das Gefühl hatte, er schulde
es seinem Nachfolger, Kronrechte nicht preiszugeben. Diesmal war also nichts
herauszupressen. Die Gefahr bestand aber, daß der Kaiser nun einen Staats¬
mann ans Ruder berufen könnte, den: es mit dem allgemeinen Wahlrecht
einigermaßen ernst sei; bis zu einem gewissen Grade ist dies beim jetzigen
Finanzminister Lukacs der Fall. Darum führte Graf Khuen sein letztes
Schelmenstück auf, indem er Vorgänge in der Audienz beim Kaiser, überdies
teilweise entstellt, der Öffentlichkeit preisgab, um so den loyalen Helden in
einem sentimentalen Rührstück spielen zu können, gleichzeitig aber die Macht
nicht aus der Hand der Grafen zu lassen, zu deren Willensvollstrecker er all¬
mählich herabgesunken ist. Die Wehrreform ist dadurch nicht einen Schritt weiter
gekommen, im Gegenteil; aber auch die Wahlreform scheint wieder etwas in
die Ferne gerückt. Immerhin dürfte dieses Stückchen Balkanpolitik trotz aller
Langmut und allem Ruhebedürfnis des Kaisers dem Fasse doch den Boden
ausschlagen. In wenigen Wochen wird Graf Khuen dem Kaiser melden müssen,
daß er außerstande sei, die Wehrreform so rechtzeitig zu erledigen, daß mit der
Aushebung eines erhöhten Nekrutenkontingents für diesen Herbst noch begonnen
werden könne. Und dann wird doch nichts anderes übrig bleiben als ein
Provisorium, Erledigung der Wahlreform und dann erst Beratung der Wehr¬
reform, wie es von der Justhpartei stets vorgeschlagen worden ist.

Freilich, das eine vermag man heute schon zusagen: die Wahlreformfrage
wird deshalb von der Tagesordnung nicht verschwinden, denn darüber kann kein
Zweifel bestehen, daß diese Wahlreform nur einen Schritt zum allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht bedeuten wird. Aber der Stein wird
ins Rollen kommen, und niemand kann voraussagen, wo er einst zur
Ruhe kommt.




Das Problem der Mahlreform in Ungarn

der Kaiser ließ die Resolution nicht zu, Graf Khuen demissionierte. Apponui,
Andrassy, Tisza, die drei Grafen, die Ungarns Geschicke lenken, hatten ihren
Zweck erreicht: man war wieder mitten drin in einem staatsrechtlichen Streit,
man kämpfte um die „Rechte der Nation", wie seit Jahrhunderten. Das
mußte die Aufmerksamkeit von der Wahlrechtsfrage ablenken. Der Monarch
gab nicht nach, da er diesmal eine starke Stütze am Kriegsminister und öster¬
reichischen Ministerpräsidenten fand und wohl auch das Gefühl hatte, er schulde
es seinem Nachfolger, Kronrechte nicht preiszugeben. Diesmal war also nichts
herauszupressen. Die Gefahr bestand aber, daß der Kaiser nun einen Staats¬
mann ans Ruder berufen könnte, den: es mit dem allgemeinen Wahlrecht
einigermaßen ernst sei; bis zu einem gewissen Grade ist dies beim jetzigen
Finanzminister Lukacs der Fall. Darum führte Graf Khuen sein letztes
Schelmenstück auf, indem er Vorgänge in der Audienz beim Kaiser, überdies
teilweise entstellt, der Öffentlichkeit preisgab, um so den loyalen Helden in
einem sentimentalen Rührstück spielen zu können, gleichzeitig aber die Macht
nicht aus der Hand der Grafen zu lassen, zu deren Willensvollstrecker er all¬
mählich herabgesunken ist. Die Wehrreform ist dadurch nicht einen Schritt weiter
gekommen, im Gegenteil; aber auch die Wahlreform scheint wieder etwas in
die Ferne gerückt. Immerhin dürfte dieses Stückchen Balkanpolitik trotz aller
Langmut und allem Ruhebedürfnis des Kaisers dem Fasse doch den Boden
ausschlagen. In wenigen Wochen wird Graf Khuen dem Kaiser melden müssen,
daß er außerstande sei, die Wehrreform so rechtzeitig zu erledigen, daß mit der
Aushebung eines erhöhten Nekrutenkontingents für diesen Herbst noch begonnen
werden könne. Und dann wird doch nichts anderes übrig bleiben als ein
Provisorium, Erledigung der Wahlreform und dann erst Beratung der Wehr¬
reform, wie es von der Justhpartei stets vorgeschlagen worden ist.

Freilich, das eine vermag man heute schon zusagen: die Wahlreformfrage
wird deshalb von der Tagesordnung nicht verschwinden, denn darüber kann kein
Zweifel bestehen, daß diese Wahlreform nur einen Schritt zum allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht bedeuten wird. Aber der Stein wird
ins Rollen kommen, und niemand kann voraussagen, wo er einst zur
Ruhe kommt.




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[0134] Das Problem der Mahlreform in Ungarn der Kaiser ließ die Resolution nicht zu, Graf Khuen demissionierte. Apponui, Andrassy, Tisza, die drei Grafen, die Ungarns Geschicke lenken, hatten ihren Zweck erreicht: man war wieder mitten drin in einem staatsrechtlichen Streit, man kämpfte um die „Rechte der Nation", wie seit Jahrhunderten. Das mußte die Aufmerksamkeit von der Wahlrechtsfrage ablenken. Der Monarch gab nicht nach, da er diesmal eine starke Stütze am Kriegsminister und öster¬ reichischen Ministerpräsidenten fand und wohl auch das Gefühl hatte, er schulde es seinem Nachfolger, Kronrechte nicht preiszugeben. Diesmal war also nichts herauszupressen. Die Gefahr bestand aber, daß der Kaiser nun einen Staats¬ mann ans Ruder berufen könnte, den: es mit dem allgemeinen Wahlrecht einigermaßen ernst sei; bis zu einem gewissen Grade ist dies beim jetzigen Finanzminister Lukacs der Fall. Darum führte Graf Khuen sein letztes Schelmenstück auf, indem er Vorgänge in der Audienz beim Kaiser, überdies teilweise entstellt, der Öffentlichkeit preisgab, um so den loyalen Helden in einem sentimentalen Rührstück spielen zu können, gleichzeitig aber die Macht nicht aus der Hand der Grafen zu lassen, zu deren Willensvollstrecker er all¬ mählich herabgesunken ist. Die Wehrreform ist dadurch nicht einen Schritt weiter gekommen, im Gegenteil; aber auch die Wahlreform scheint wieder etwas in die Ferne gerückt. Immerhin dürfte dieses Stückchen Balkanpolitik trotz aller Langmut und allem Ruhebedürfnis des Kaisers dem Fasse doch den Boden ausschlagen. In wenigen Wochen wird Graf Khuen dem Kaiser melden müssen, daß er außerstande sei, die Wehrreform so rechtzeitig zu erledigen, daß mit der Aushebung eines erhöhten Nekrutenkontingents für diesen Herbst noch begonnen werden könne. Und dann wird doch nichts anderes übrig bleiben als ein Provisorium, Erledigung der Wahlreform und dann erst Beratung der Wehr¬ reform, wie es von der Justhpartei stets vorgeschlagen worden ist. Freilich, das eine vermag man heute schon zusagen: die Wahlreformfrage wird deshalb von der Tagesordnung nicht verschwinden, denn darüber kann kein Zweifel bestehen, daß diese Wahlreform nur einen Schritt zum allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht bedeuten wird. Aber der Stein wird ins Rollen kommen, und niemand kann voraussagen, wo er einst zur Ruhe kommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/134>, abgerufen am 02.06.2024.