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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Föderalistische und militärische Parteien

Beaufsichtigung, ja seiner Verwaltung unterwerfen kann, ist es ihm möglich, im
Wege einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Verfassungsänderung seiue
Zuständigkeit auf Kosten der Zuständigkeit der Gliedstaaten mehr und mehr
auszudehnen. In der Tat haben sich die Kompetenzen zwischen Reich und
Einzelstnaten seit dem Jahre 1871 erheblich verschoben, vorzugsweise deshalb,
weil das Reich schrittweise dazu überging, seine ihm durch die Verfassung über¬
tragenen Kompetenzen auch tatsächlich auszuüben. Dabei hat sich etwas abgespielt,
was in jedem Bundesstaate zu beobachten ist: der Kampf zwischen föderalistischen
und uuitarischen Tendenzen, der Kampf um eine Ausgestaltung des Reiches im
Innern zu den?, als was es dem Auslande schon seit langem erscheint: zum
Einheitsstaate.

Wer die Verhandlungen der Parlamente mit einiger Aufmerksamkeit ver¬
folgt, wird wissen, daß gerade in der letzten Zeit miederholt von unitarischen
und föderalistischen Bestrebungen, von der Regelung bisher durch Landesgesetze
geregelter Materien durch Reichsgesetze einerseits, "von der Erhaltung der
Selbständigkeit der Gliedstaaten" anderseits die Rede gewesen ist. Vielleicht
wird die Zukunft weitere Auseinandersetzungen über diese für die Stellung des
Reiches und seiner Einzelstaaten einschneidenden Fragen bringen. Es ist daher
nicht uninteressant, an der Hand der Parteiprogramme, Abstimmungen usw. zu
untersuchen, welche Stellung die wichtigsten Parteien im Parlament des Reiches
und seines größten Gliedstaates grundsätzlich föderalistischen und unitarischen
Bestrebungen gegenüber einnehmen und eingenommen haben.

Ich beginne mit derjenigen Partei, die in. E. am schärfsten unitarischen
Bestrebungen abhold ist: dem Zentrum. Das Zentrum als Partei hat kein
allgemein gültiges, auf die Dauer berechnetes Programm. Es hat gegen Pro¬
gramme von jeher eine starke Abneigung gehabt. Schon in den im Jahre 1861
geschriebenen, den katholischen Wählern Preußens gewidmeten zwölf Briefen:
"Die Fraktion des Centrums (Katholische Fraktion)" heißt es: "Die Fraktion
des Centrums hat kein Programm aufgestellt, einerseits weil sie sich die Lehre
der Geschichte von der Nutzlosigkeit eines solchen zu eigen gemacht hat, anderseits
weil sie verschmäht, das Volk zu täuschen, als wäre sie imstande, durch ein
bloßes Programm das Glück und die Freiheit desselben zu begründen". Trotzdem
gibt es Wahlaufrufe und programmatische Erklärungen genug, die die grund¬
sätzliche Stellung des Zentrums in klaren Worten aussprechen. -- Als "der
Welse" Ludwig Windthorst, von 1851 bis 1853 und 1862 bis 1865 hannoverscher
Justizminister, später der bedeutendste Führer des Zentrums, in den Reichstag
des Norddeutschen Bundes eintrat, "fand er keine Partei vor, der er sich hätte
anschließen können". Er gründete daher mit einigen anderen Abgeordneten



") Um Einwendungen zu vermeiden, hebe ich ausdrücklich hervor, dasz die Fraktion des
Centrums (Katholische Fraktion) im preußischen Abgeordnetenhaus nicht mit dem heutigen
Zentrum identisch ist; aber mit gutem Recht kann man sie als eine Vorläuferin der heutigen
Zentrumsfraktion im Reichstag, die am 13. Dezember 1871 gegründet wurde, bezeichnen.
Föderalistische und militärische Parteien

Beaufsichtigung, ja seiner Verwaltung unterwerfen kann, ist es ihm möglich, im
Wege einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Verfassungsänderung seiue
Zuständigkeit auf Kosten der Zuständigkeit der Gliedstaaten mehr und mehr
auszudehnen. In der Tat haben sich die Kompetenzen zwischen Reich und
Einzelstnaten seit dem Jahre 1871 erheblich verschoben, vorzugsweise deshalb,
weil das Reich schrittweise dazu überging, seine ihm durch die Verfassung über¬
tragenen Kompetenzen auch tatsächlich auszuüben. Dabei hat sich etwas abgespielt,
was in jedem Bundesstaate zu beobachten ist: der Kampf zwischen föderalistischen
und uuitarischen Tendenzen, der Kampf um eine Ausgestaltung des Reiches im
Innern zu den?, als was es dem Auslande schon seit langem erscheint: zum
Einheitsstaate.

Wer die Verhandlungen der Parlamente mit einiger Aufmerksamkeit ver¬
folgt, wird wissen, daß gerade in der letzten Zeit miederholt von unitarischen
und föderalistischen Bestrebungen, von der Regelung bisher durch Landesgesetze
geregelter Materien durch Reichsgesetze einerseits, „von der Erhaltung der
Selbständigkeit der Gliedstaaten" anderseits die Rede gewesen ist. Vielleicht
wird die Zukunft weitere Auseinandersetzungen über diese für die Stellung des
Reiches und seiner Einzelstaaten einschneidenden Fragen bringen. Es ist daher
nicht uninteressant, an der Hand der Parteiprogramme, Abstimmungen usw. zu
untersuchen, welche Stellung die wichtigsten Parteien im Parlament des Reiches
und seines größten Gliedstaates grundsätzlich föderalistischen und unitarischen
Bestrebungen gegenüber einnehmen und eingenommen haben.

Ich beginne mit derjenigen Partei, die in. E. am schärfsten unitarischen
Bestrebungen abhold ist: dem Zentrum. Das Zentrum als Partei hat kein
allgemein gültiges, auf die Dauer berechnetes Programm. Es hat gegen Pro¬
gramme von jeher eine starke Abneigung gehabt. Schon in den im Jahre 1861
geschriebenen, den katholischen Wählern Preußens gewidmeten zwölf Briefen:
„Die Fraktion des Centrums (Katholische Fraktion)" heißt es: „Die Fraktion
des Centrums hat kein Programm aufgestellt, einerseits weil sie sich die Lehre
der Geschichte von der Nutzlosigkeit eines solchen zu eigen gemacht hat, anderseits
weil sie verschmäht, das Volk zu täuschen, als wäre sie imstande, durch ein
bloßes Programm das Glück und die Freiheit desselben zu begründen". Trotzdem
gibt es Wahlaufrufe und programmatische Erklärungen genug, die die grund¬
sätzliche Stellung des Zentrums in klaren Worten aussprechen. — Als „der
Welse" Ludwig Windthorst, von 1851 bis 1853 und 1862 bis 1865 hannoverscher
Justizminister, später der bedeutendste Führer des Zentrums, in den Reichstag
des Norddeutschen Bundes eintrat, „fand er keine Partei vor, der er sich hätte
anschließen können". Er gründete daher mit einigen anderen Abgeordneten



") Um Einwendungen zu vermeiden, hebe ich ausdrücklich hervor, dasz die Fraktion des
Centrums (Katholische Fraktion) im preußischen Abgeordnetenhaus nicht mit dem heutigen
Zentrum identisch ist; aber mit gutem Recht kann man sie als eine Vorläuferin der heutigen
Zentrumsfraktion im Reichstag, die am 13. Dezember 1871 gegründet wurde, bezeichnen.
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[0014] Föderalistische und militärische Parteien Beaufsichtigung, ja seiner Verwaltung unterwerfen kann, ist es ihm möglich, im Wege einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Verfassungsänderung seiue Zuständigkeit auf Kosten der Zuständigkeit der Gliedstaaten mehr und mehr auszudehnen. In der Tat haben sich die Kompetenzen zwischen Reich und Einzelstnaten seit dem Jahre 1871 erheblich verschoben, vorzugsweise deshalb, weil das Reich schrittweise dazu überging, seine ihm durch die Verfassung über¬ tragenen Kompetenzen auch tatsächlich auszuüben. Dabei hat sich etwas abgespielt, was in jedem Bundesstaate zu beobachten ist: der Kampf zwischen föderalistischen und uuitarischen Tendenzen, der Kampf um eine Ausgestaltung des Reiches im Innern zu den?, als was es dem Auslande schon seit langem erscheint: zum Einheitsstaate. Wer die Verhandlungen der Parlamente mit einiger Aufmerksamkeit ver¬ folgt, wird wissen, daß gerade in der letzten Zeit miederholt von unitarischen und föderalistischen Bestrebungen, von der Regelung bisher durch Landesgesetze geregelter Materien durch Reichsgesetze einerseits, „von der Erhaltung der Selbständigkeit der Gliedstaaten" anderseits die Rede gewesen ist. Vielleicht wird die Zukunft weitere Auseinandersetzungen über diese für die Stellung des Reiches und seiner Einzelstaaten einschneidenden Fragen bringen. Es ist daher nicht uninteressant, an der Hand der Parteiprogramme, Abstimmungen usw. zu untersuchen, welche Stellung die wichtigsten Parteien im Parlament des Reiches und seines größten Gliedstaates grundsätzlich föderalistischen und unitarischen Bestrebungen gegenüber einnehmen und eingenommen haben. Ich beginne mit derjenigen Partei, die in. E. am schärfsten unitarischen Bestrebungen abhold ist: dem Zentrum. Das Zentrum als Partei hat kein allgemein gültiges, auf die Dauer berechnetes Programm. Es hat gegen Pro¬ gramme von jeher eine starke Abneigung gehabt. Schon in den im Jahre 1861 geschriebenen, den katholischen Wählern Preußens gewidmeten zwölf Briefen: „Die Fraktion des Centrums (Katholische Fraktion)" heißt es: „Die Fraktion des Centrums hat kein Programm aufgestellt, einerseits weil sie sich die Lehre der Geschichte von der Nutzlosigkeit eines solchen zu eigen gemacht hat, anderseits weil sie verschmäht, das Volk zu täuschen, als wäre sie imstande, durch ein bloßes Programm das Glück und die Freiheit desselben zu begründen". Trotzdem gibt es Wahlaufrufe und programmatische Erklärungen genug, die die grund¬ sätzliche Stellung des Zentrums in klaren Worten aussprechen. — Als „der Welse" Ludwig Windthorst, von 1851 bis 1853 und 1862 bis 1865 hannoverscher Justizminister, später der bedeutendste Führer des Zentrums, in den Reichstag des Norddeutschen Bundes eintrat, „fand er keine Partei vor, der er sich hätte anschließen können". Er gründete daher mit einigen anderen Abgeordneten ") Um Einwendungen zu vermeiden, hebe ich ausdrücklich hervor, dasz die Fraktion des Centrums (Katholische Fraktion) im preußischen Abgeordnetenhaus nicht mit dem heutigen Zentrum identisch ist; aber mit gutem Recht kann man sie als eine Vorläuferin der heutigen Zentrumsfraktion im Reichstag, die am 13. Dezember 1871 gegründet wurde, bezeichnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/14>, abgerufen am 10.06.2024.