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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

knapp zehn Bogen "Die Entwicklung der deut¬
schen Literatur seit 1830" (R. Voigtländer,
Leipzig). Der Versuch ist ausgezeichnet ge¬
lungen. Jedes Eingehen auf die Lebens-
geschichte der Einzelnen ist selbstverständlich
vermieden, das Ziel des Ganzen ist eine
Einführung in die großen Dichter und ihre
Werke. Zu diesem Zweck wird jeder Epoche
eine knappe, aber sehr deutliche Schilderung
der Zeitverhältnisse vorausgestellt. Vielleicht
wäre es richtiger gewesen, den Abschnitt "Die
Zeitstimmung nach dem Jahre 1860" in zwei
Teile zu zerlegen, um den Umschwung, den
die glücklichen Feldzüge brachten, deutlicher
hervorzuheben. Es würde dann das Bild noch
klarer werden, indem die großen realistischen
Erzähler jenseits der Grenzen blieben, die der
Krieg 1870 und seine Folgen in unserer Lite¬
ratur gezogen haben. Die Gesamtanschauung
des letzten Abschnittes kann ich freilich nicht
gelten lassen, und sie wird im Grunde durch
Witkowski selbst widerlegt. Er sagt: "Die
Entwicklung unserer deutschen Literatur seit
1830 war ein Irren im Dunkel, nur von der
Vergangenheit trügerisch erhellt, von den
Funken stärkerer Talente für Augenblicke über¬
strahlt." Da ist doch nur richtig, wenn man,
mit Witkowski selbst zu sprechen, nur die
Vvrdergrundliteratur der Jahre von 1850 bis
1870 im Auge hat. Sieht man auf die Er¬
scheinungen, die er selbst in den Kapiteln
"Die dramatische Dichtung bis 1860" und
"Die großen realistischen Erzähler" vortrefflich
charakterisiert, so ergibt sich klar, daß in dem
silbernen Zeitalter unserer Dichtung ein großes
Geschlecht von Meistern vorhanden war, das
überall genau um die letzten Werte und Wir¬
kungen der Kunst Bescheid wußte, das ganz
national bestimmt war und uns einen heute
noch längst nicht ausgeschöpften Reichtum von
Dichtungen beschieden hat; ich nenne in Wit-
kowskis eigener Reihenfolge: Hebbel, Ludwig,
Freytag, Keller, Storm, Reuter, Groth, Raabe,
Luise v. Franaois, Marie v. Ebner-Eschenvach,
Saar, Meyer, Busch, Anzengruber. Dn aber
diese alle trotz jener an den Schluß gestellten
Gesamtanschauung liebevoll und sicher dar¬
gestellt werden, so wirkt Witkowski hier schließlich
gerade in dem Sinne, den das Schlußwort
nicht wahr haben will. Das Buch ist als
Ergänzung zu jeder umfangreicheren Lite-

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raturgeschichte aufs wärmste zu empfehlen. --
Karl Reuschel hat die "Geschichte der deutschen
Literatur" von Ferdinand Schultz völlig neu
bearbeitet und das zuerst 1889 erschienene
Werk bis auf die Gegenwart fortgeführt
(Dresden, L. Ehlermann). Er will anderen
Zwecken dienen als Witkowski und gibt des¬
halb immer bei allen bedeutenden Dichtern
auch möglichst viel von den Lcbensgeschicken,
soweit sie für ihre Dichtung wichtig sind. Der
Hauptnachdruck liegt, wie das jetzt Wohl all¬
gemein anerkannt ist, auf der Geschichie un¬
serer Dichtung seit Lessing, sie nimmt zwei
Dritteile des Bandes in Anspruch und hier¬
von wieder die Entwicklung seit der Romantik
die gute Hälfte. Bei den Dichtern, denen er
nicht, wie Lessing, Hebbel oder Keller oder
gar Goethe und Schiller, eine knappe Analyse
aller Hauptwerke widmen kann, bemüht sich
Reuschel mit Glück, auf Einzelheiten hinzu¬
weisen, die den Zugang zu der Persönlichkeit
am klarsten eröffnen. So hebt er bei Marie
v. Ebner-Eschenbach das "Gemeindekind" und
einige Erzählungen, bei Saar fünf der Meister-
novellcn ans Osterreich hervor. Oft trifft er
einen besonders glücklichen charakteristischen
Zug, so wenn er von Fontanes knlvinistischcm
Fatalismus spricht. Freilich verführt dann
die Knappheit auch wieder manchmal zur
Blässe, wenn etwa vom "Uriel Acostn" gesagt
wird, er beleuchte die religiöse Frage, oder
von Kleists Novellen, daß der Dichter einmal
"die Schönheitslinie überschreite". Glücklich
scheint mir auch die immer schwierige Heraus¬
hebung der wichtigsten Erscheinungen unter
den Neuesten. Nur Hütte ich gern Dehmel
vor George und mit energischeren Nachdruck
behandelt gesehen. Im ganzen liegt der Ton
hier auf der geschichtlichen Entwicklung, die
wiederum nie für die Literatur allein als
etwas für sich Dastehendes gegeben, sondern
mit der ganzen Zeit in Beziehung gebracht
wird. Besonders erfreulich ist die starke Her¬
vorhebung einzelner immer noch nicht genug
gewürdigter Dichter wie Carl Spitteler. Der
volkstümliche Zweck des Werkes tritt überall
klar hervor. Es ist in seiner Art gleich¬
falls eine wertvolle und sicherlich dauerhafte
Einführung. Das Buch ist mit guten Bild¬
nissen aller wichtigeren Dichter geschmückt.

or. Heinrich Spiew- [Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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knapp zehn Bogen „Die Entwicklung der deut¬
schen Literatur seit 1830" (R. Voigtländer,
Leipzig). Der Versuch ist ausgezeichnet ge¬
lungen. Jedes Eingehen auf die Lebens-
geschichte der Einzelnen ist selbstverständlich
vermieden, das Ziel des Ganzen ist eine
Einführung in die großen Dichter und ihre
Werke. Zu diesem Zweck wird jeder Epoche
eine knappe, aber sehr deutliche Schilderung
der Zeitverhältnisse vorausgestellt. Vielleicht
wäre es richtiger gewesen, den Abschnitt „Die
Zeitstimmung nach dem Jahre 1860" in zwei
Teile zu zerlegen, um den Umschwung, den
die glücklichen Feldzüge brachten, deutlicher
hervorzuheben. Es würde dann das Bild noch
klarer werden, indem die großen realistischen
Erzähler jenseits der Grenzen blieben, die der
Krieg 1870 und seine Folgen in unserer Lite¬
ratur gezogen haben. Die Gesamtanschauung
des letzten Abschnittes kann ich freilich nicht
gelten lassen, und sie wird im Grunde durch
Witkowski selbst widerlegt. Er sagt: „Die
Entwicklung unserer deutschen Literatur seit
1830 war ein Irren im Dunkel, nur von der
Vergangenheit trügerisch erhellt, von den
Funken stärkerer Talente für Augenblicke über¬
strahlt." Da ist doch nur richtig, wenn man,
mit Witkowski selbst zu sprechen, nur die
Vvrdergrundliteratur der Jahre von 1850 bis
1870 im Auge hat. Sieht man auf die Er¬
scheinungen, die er selbst in den Kapiteln
„Die dramatische Dichtung bis 1860" und
„Die großen realistischen Erzähler" vortrefflich
charakterisiert, so ergibt sich klar, daß in dem
silbernen Zeitalter unserer Dichtung ein großes
Geschlecht von Meistern vorhanden war, das
überall genau um die letzten Werte und Wir¬
kungen der Kunst Bescheid wußte, das ganz
national bestimmt war und uns einen heute
noch längst nicht ausgeschöpften Reichtum von
Dichtungen beschieden hat; ich nenne in Wit-
kowskis eigener Reihenfolge: Hebbel, Ludwig,
Freytag, Keller, Storm, Reuter, Groth, Raabe,
Luise v. Franaois, Marie v. Ebner-Eschenvach,
Saar, Meyer, Busch, Anzengruber. Dn aber
diese alle trotz jener an den Schluß gestellten
Gesamtanschauung liebevoll und sicher dar¬
gestellt werden, so wirkt Witkowski hier schließlich
gerade in dem Sinne, den das Schlußwort
nicht wahr haben will. Das Buch ist als
Ergänzung zu jeder umfangreicheren Lite-

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raturgeschichte aufs wärmste zu empfehlen. —
Karl Reuschel hat die „Geschichte der deutschen
Literatur" von Ferdinand Schultz völlig neu
bearbeitet und das zuerst 1889 erschienene
Werk bis auf die Gegenwart fortgeführt
(Dresden, L. Ehlermann). Er will anderen
Zwecken dienen als Witkowski und gibt des¬
halb immer bei allen bedeutenden Dichtern
auch möglichst viel von den Lcbensgeschicken,
soweit sie für ihre Dichtung wichtig sind. Der
Hauptnachdruck liegt, wie das jetzt Wohl all¬
gemein anerkannt ist, auf der Geschichie un¬
serer Dichtung seit Lessing, sie nimmt zwei
Dritteile des Bandes in Anspruch und hier¬
von wieder die Entwicklung seit der Romantik
die gute Hälfte. Bei den Dichtern, denen er
nicht, wie Lessing, Hebbel oder Keller oder
gar Goethe und Schiller, eine knappe Analyse
aller Hauptwerke widmen kann, bemüht sich
Reuschel mit Glück, auf Einzelheiten hinzu¬
weisen, die den Zugang zu der Persönlichkeit
am klarsten eröffnen. So hebt er bei Marie
v. Ebner-Eschenbach das „Gemeindekind" und
einige Erzählungen, bei Saar fünf der Meister-
novellcn ans Osterreich hervor. Oft trifft er
einen besonders glücklichen charakteristischen
Zug, so wenn er von Fontanes knlvinistischcm
Fatalismus spricht. Freilich verführt dann
die Knappheit auch wieder manchmal zur
Blässe, wenn etwa vom „Uriel Acostn" gesagt
wird, er beleuchte die religiöse Frage, oder
von Kleists Novellen, daß der Dichter einmal
„die Schönheitslinie überschreite". Glücklich
scheint mir auch die immer schwierige Heraus¬
hebung der wichtigsten Erscheinungen unter
den Neuesten. Nur Hütte ich gern Dehmel
vor George und mit energischeren Nachdruck
behandelt gesehen. Im ganzen liegt der Ton
hier auf der geschichtlichen Entwicklung, die
wiederum nie für die Literatur allein als
etwas für sich Dastehendes gegeben, sondern
mit der ganzen Zeit in Beziehung gebracht
wird. Besonders erfreulich ist die starke Her¬
vorhebung einzelner immer noch nicht genug
gewürdigter Dichter wie Carl Spitteler. Der
volkstümliche Zweck des Werkes tritt überall
klar hervor. Es ist in seiner Art gleich¬
falls eine wertvolle und sicherlich dauerhafte
Einführung. Das Buch ist mit guten Bild¬
nissen aller wichtigeren Dichter geschmückt.

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[0153] Maßgebliches und Unmaßgebliches knapp zehn Bogen „Die Entwicklung der deut¬ schen Literatur seit 1830" (R. Voigtländer, Leipzig). Der Versuch ist ausgezeichnet ge¬ lungen. Jedes Eingehen auf die Lebens- geschichte der Einzelnen ist selbstverständlich vermieden, das Ziel des Ganzen ist eine Einführung in die großen Dichter und ihre Werke. Zu diesem Zweck wird jeder Epoche eine knappe, aber sehr deutliche Schilderung der Zeitverhältnisse vorausgestellt. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, den Abschnitt „Die Zeitstimmung nach dem Jahre 1860" in zwei Teile zu zerlegen, um den Umschwung, den die glücklichen Feldzüge brachten, deutlicher hervorzuheben. Es würde dann das Bild noch klarer werden, indem die großen realistischen Erzähler jenseits der Grenzen blieben, die der Krieg 1870 und seine Folgen in unserer Lite¬ ratur gezogen haben. Die Gesamtanschauung des letzten Abschnittes kann ich freilich nicht gelten lassen, und sie wird im Grunde durch Witkowski selbst widerlegt. Er sagt: „Die Entwicklung unserer deutschen Literatur seit 1830 war ein Irren im Dunkel, nur von der Vergangenheit trügerisch erhellt, von den Funken stärkerer Talente für Augenblicke über¬ strahlt." Da ist doch nur richtig, wenn man, mit Witkowski selbst zu sprechen, nur die Vvrdergrundliteratur der Jahre von 1850 bis 1870 im Auge hat. Sieht man auf die Er¬ scheinungen, die er selbst in den Kapiteln „Die dramatische Dichtung bis 1860" und „Die großen realistischen Erzähler" vortrefflich charakterisiert, so ergibt sich klar, daß in dem silbernen Zeitalter unserer Dichtung ein großes Geschlecht von Meistern vorhanden war, das überall genau um die letzten Werte und Wir¬ kungen der Kunst Bescheid wußte, das ganz national bestimmt war und uns einen heute noch längst nicht ausgeschöpften Reichtum von Dichtungen beschieden hat; ich nenne in Wit- kowskis eigener Reihenfolge: Hebbel, Ludwig, Freytag, Keller, Storm, Reuter, Groth, Raabe, Luise v. Franaois, Marie v. Ebner-Eschenvach, Saar, Meyer, Busch, Anzengruber. Dn aber diese alle trotz jener an den Schluß gestellten Gesamtanschauung liebevoll und sicher dar¬ gestellt werden, so wirkt Witkowski hier schließlich gerade in dem Sinne, den das Schlußwort nicht wahr haben will. Das Buch ist als Ergänzung zu jeder umfangreicheren Lite- raturgeschichte aufs wärmste zu empfehlen. — Karl Reuschel hat die „Geschichte der deutschen Literatur" von Ferdinand Schultz völlig neu bearbeitet und das zuerst 1889 erschienene Werk bis auf die Gegenwart fortgeführt (Dresden, L. Ehlermann). Er will anderen Zwecken dienen als Witkowski und gibt des¬ halb immer bei allen bedeutenden Dichtern auch möglichst viel von den Lcbensgeschicken, soweit sie für ihre Dichtung wichtig sind. Der Hauptnachdruck liegt, wie das jetzt Wohl all¬ gemein anerkannt ist, auf der Geschichie un¬ serer Dichtung seit Lessing, sie nimmt zwei Dritteile des Bandes in Anspruch und hier¬ von wieder die Entwicklung seit der Romantik die gute Hälfte. Bei den Dichtern, denen er nicht, wie Lessing, Hebbel oder Keller oder gar Goethe und Schiller, eine knappe Analyse aller Hauptwerke widmen kann, bemüht sich Reuschel mit Glück, auf Einzelheiten hinzu¬ weisen, die den Zugang zu der Persönlichkeit am klarsten eröffnen. So hebt er bei Marie v. Ebner-Eschenbach das „Gemeindekind" und einige Erzählungen, bei Saar fünf der Meister- novellcn ans Osterreich hervor. Oft trifft er einen besonders glücklichen charakteristischen Zug, so wenn er von Fontanes knlvinistischcm Fatalismus spricht. Freilich verführt dann die Knappheit auch wieder manchmal zur Blässe, wenn etwa vom „Uriel Acostn" gesagt wird, er beleuchte die religiöse Frage, oder von Kleists Novellen, daß der Dichter einmal „die Schönheitslinie überschreite". Glücklich scheint mir auch die immer schwierige Heraus¬ hebung der wichtigsten Erscheinungen unter den Neuesten. Nur Hütte ich gern Dehmel vor George und mit energischeren Nachdruck behandelt gesehen. Im ganzen liegt der Ton hier auf der geschichtlichen Entwicklung, die wiederum nie für die Literatur allein als etwas für sich Dastehendes gegeben, sondern mit der ganzen Zeit in Beziehung gebracht wird. Besonders erfreulich ist die starke Her¬ vorhebung einzelner immer noch nicht genug gewürdigter Dichter wie Carl Spitteler. Der volkstümliche Zweck des Werkes tritt überall klar hervor. Es ist in seiner Art gleich¬ falls eine wertvolle und sicherlich dauerhafte Einführung. Das Buch ist mit guten Bild¬ nissen aller wichtigeren Dichter geschmückt. or. Heinrich Spiew-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/153>, abgerufen am 17.06.2024.