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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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.Konservativen oder Landbündlern, Hansabündlern oder Jndustriebündlern und
Mitgliedern des Zentralverbandes deutscher Industrieller geschrieben sein: von
dem großen Ideal, das die nationalliberale Partei einst zusammenführte und
sie zur ausschlaggebenden im Reich erhob, davon scheinen nur wenige noch
etwas zu wissen. Was den Fernerstehenden sich als ein Kauf zwischen Jung-
und Altliberalen darstellt, bei dem die Alten Hüter der guten Tradition scheinen,
das ist in Wirklichkeit das Ringen des deutschen Einheitsgedankens gegen das
Vordrängen der partikularen Bestrebungen der wirtschaftlichen Organisationen.
Die nationalliberale Partei hat noch die Kraft besessen, und zwar -- das muß
ausdrücklich hervorgehoben werden -- dank Bassermanns Initiative, sich vom
Einfluß des Bundes der Landwirte zu befreien, nun wird sie zeigen müssen,
ob sie noch genügend stark ist, sich auch von andern wirtschaftlichen Verbänden
so unabhängig zu halten, daß sie trotz einer den Bedürfnissen der ein¬
zelnen Gewerbe Rechnung tragenden Wirtschaftspolitik auch nationale Politik
im Sinne Bismarcks und Benningsens zu treiben vermag. Dazu aber wird
sie der Mitwirkung derjenigen Kreise bedürfen, von denen Poensgen zutreffend
sagt: "Sie lassen sich noch nicht so sehr von wirtschaftlichen und persönlichen
Interessen leiten und pflegen bei ihrer politischen Tätigkeit mehr den Idealismus
gelten zu lassen."

Mancher meiner Leser wird in diesen Worten tadelnd eine weitgehende Kon¬
zession an den Demos finden. In der Tat liegt in ihnen eine Berücksichtigung
der Masse, eine Anerkennung der Macht der Zahl, aber durchaus keine Abkehr vom
aristokratischen Prinzip. Denn in ihnen liegt noch etwas mehr: nämlich
die Anerkennung eines durch die Reichsverfassung festgelegten Zustandes.
Im Lande des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit direkter und geheimer
Stimmabgabe ist die Macht der größeren Zahl gewissermaßen verfassungsmäßig
garantiert, und wir können sie zum Nutzen des Staatsganzen, wie wir ihn
verstehen, nur gebrauchen, wenn wir die Massen, das ist eben die "größere"
Zahl, mit unseren Ideen erfüllen. Das Postulat von der Autorität, das sich
auf ererbte Rechte oder Standesvorzüge stützt, hat in unserem kritischen Zeit¬
alter weder im politischen noch im gesellschaftlichen Leben eine tiefer gehende
Bedeutung. Heute gilt, was greifbar nützlich erscheint, und eine gewisse
Autorität üben nur diejenigen aus, die ihre Mitmenschen von der Nützlichkeit
und dem Wert von Ideen und Einrichtungen sachlich zu überzeugen vermögen.
Wer sonnt in dem aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht hervor¬
gegangenen Reichstag Einfluß gewinnen will, muß sich schon dazu bequemen,
in die Massen zu gehen, in den Massen zu arbeiten und sie hinter sich zu
bringen. Das aber ist nicht möglich durch Propagierung solcher Forderungen,
die wie die Programme der einzelnen Wirtschaftsverbände nur einzelnen Gruppen
auf den Leib zugeschnitten sind, die Interessen der anderen aber mehr oder
minder empfindlich verletzen müssen. Gegenüber solchen Forderungen wird das
organisierte Proletariat stets die Oberhand haben, eben weil es die größere


Grenzboten II 19t2 Is
Reichsspiegcl

.Konservativen oder Landbündlern, Hansabündlern oder Jndustriebündlern und
Mitgliedern des Zentralverbandes deutscher Industrieller geschrieben sein: von
dem großen Ideal, das die nationalliberale Partei einst zusammenführte und
sie zur ausschlaggebenden im Reich erhob, davon scheinen nur wenige noch
etwas zu wissen. Was den Fernerstehenden sich als ein Kauf zwischen Jung-
und Altliberalen darstellt, bei dem die Alten Hüter der guten Tradition scheinen,
das ist in Wirklichkeit das Ringen des deutschen Einheitsgedankens gegen das
Vordrängen der partikularen Bestrebungen der wirtschaftlichen Organisationen.
Die nationalliberale Partei hat noch die Kraft besessen, und zwar — das muß
ausdrücklich hervorgehoben werden — dank Bassermanns Initiative, sich vom
Einfluß des Bundes der Landwirte zu befreien, nun wird sie zeigen müssen,
ob sie noch genügend stark ist, sich auch von andern wirtschaftlichen Verbänden
so unabhängig zu halten, daß sie trotz einer den Bedürfnissen der ein¬
zelnen Gewerbe Rechnung tragenden Wirtschaftspolitik auch nationale Politik
im Sinne Bismarcks und Benningsens zu treiben vermag. Dazu aber wird
sie der Mitwirkung derjenigen Kreise bedürfen, von denen Poensgen zutreffend
sagt: „Sie lassen sich noch nicht so sehr von wirtschaftlichen und persönlichen
Interessen leiten und pflegen bei ihrer politischen Tätigkeit mehr den Idealismus
gelten zu lassen."

Mancher meiner Leser wird in diesen Worten tadelnd eine weitgehende Kon¬
zession an den Demos finden. In der Tat liegt in ihnen eine Berücksichtigung
der Masse, eine Anerkennung der Macht der Zahl, aber durchaus keine Abkehr vom
aristokratischen Prinzip. Denn in ihnen liegt noch etwas mehr: nämlich
die Anerkennung eines durch die Reichsverfassung festgelegten Zustandes.
Im Lande des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit direkter und geheimer
Stimmabgabe ist die Macht der größeren Zahl gewissermaßen verfassungsmäßig
garantiert, und wir können sie zum Nutzen des Staatsganzen, wie wir ihn
verstehen, nur gebrauchen, wenn wir die Massen, das ist eben die „größere"
Zahl, mit unseren Ideen erfüllen. Das Postulat von der Autorität, das sich
auf ererbte Rechte oder Standesvorzüge stützt, hat in unserem kritischen Zeit¬
alter weder im politischen noch im gesellschaftlichen Leben eine tiefer gehende
Bedeutung. Heute gilt, was greifbar nützlich erscheint, und eine gewisse
Autorität üben nur diejenigen aus, die ihre Mitmenschen von der Nützlichkeit
und dem Wert von Ideen und Einrichtungen sachlich zu überzeugen vermögen.
Wer sonnt in dem aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht hervor¬
gegangenen Reichstag Einfluß gewinnen will, muß sich schon dazu bequemen,
in die Massen zu gehen, in den Massen zu arbeiten und sie hinter sich zu
bringen. Das aber ist nicht möglich durch Propagierung solcher Forderungen,
die wie die Programme der einzelnen Wirtschaftsverbände nur einzelnen Gruppen
auf den Leib zugeschnitten sind, die Interessen der anderen aber mehr oder
minder empfindlich verletzen müssen. Gegenüber solchen Forderungen wird das
organisierte Proletariat stets die Oberhand haben, eben weil es die größere


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[0157] Reichsspiegcl .Konservativen oder Landbündlern, Hansabündlern oder Jndustriebündlern und Mitgliedern des Zentralverbandes deutscher Industrieller geschrieben sein: von dem großen Ideal, das die nationalliberale Partei einst zusammenführte und sie zur ausschlaggebenden im Reich erhob, davon scheinen nur wenige noch etwas zu wissen. Was den Fernerstehenden sich als ein Kauf zwischen Jung- und Altliberalen darstellt, bei dem die Alten Hüter der guten Tradition scheinen, das ist in Wirklichkeit das Ringen des deutschen Einheitsgedankens gegen das Vordrängen der partikularen Bestrebungen der wirtschaftlichen Organisationen. Die nationalliberale Partei hat noch die Kraft besessen, und zwar — das muß ausdrücklich hervorgehoben werden — dank Bassermanns Initiative, sich vom Einfluß des Bundes der Landwirte zu befreien, nun wird sie zeigen müssen, ob sie noch genügend stark ist, sich auch von andern wirtschaftlichen Verbänden so unabhängig zu halten, daß sie trotz einer den Bedürfnissen der ein¬ zelnen Gewerbe Rechnung tragenden Wirtschaftspolitik auch nationale Politik im Sinne Bismarcks und Benningsens zu treiben vermag. Dazu aber wird sie der Mitwirkung derjenigen Kreise bedürfen, von denen Poensgen zutreffend sagt: „Sie lassen sich noch nicht so sehr von wirtschaftlichen und persönlichen Interessen leiten und pflegen bei ihrer politischen Tätigkeit mehr den Idealismus gelten zu lassen." Mancher meiner Leser wird in diesen Worten tadelnd eine weitgehende Kon¬ zession an den Demos finden. In der Tat liegt in ihnen eine Berücksichtigung der Masse, eine Anerkennung der Macht der Zahl, aber durchaus keine Abkehr vom aristokratischen Prinzip. Denn in ihnen liegt noch etwas mehr: nämlich die Anerkennung eines durch die Reichsverfassung festgelegten Zustandes. Im Lande des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit direkter und geheimer Stimmabgabe ist die Macht der größeren Zahl gewissermaßen verfassungsmäßig garantiert, und wir können sie zum Nutzen des Staatsganzen, wie wir ihn verstehen, nur gebrauchen, wenn wir die Massen, das ist eben die „größere" Zahl, mit unseren Ideen erfüllen. Das Postulat von der Autorität, das sich auf ererbte Rechte oder Standesvorzüge stützt, hat in unserem kritischen Zeit¬ alter weder im politischen noch im gesellschaftlichen Leben eine tiefer gehende Bedeutung. Heute gilt, was greifbar nützlich erscheint, und eine gewisse Autorität üben nur diejenigen aus, die ihre Mitmenschen von der Nützlichkeit und dem Wert von Ideen und Einrichtungen sachlich zu überzeugen vermögen. Wer sonnt in dem aus dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht hervor¬ gegangenen Reichstag Einfluß gewinnen will, muß sich schon dazu bequemen, in die Massen zu gehen, in den Massen zu arbeiten und sie hinter sich zu bringen. Das aber ist nicht möglich durch Propagierung solcher Forderungen, die wie die Programme der einzelnen Wirtschaftsverbände nur einzelnen Gruppen auf den Leib zugeschnitten sind, die Interessen der anderen aber mehr oder minder empfindlich verletzen müssen. Gegenüber solchen Forderungen wird das organisierte Proletariat stets die Oberhand haben, eben weil es die größere Grenzboten II 19t2 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/157>, abgerufen am 17.06.2024.