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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Iungliberalcn

Schulprogramm, in denen man für die Simultanschule und die Beseitigung der
geistlichen Schulaufsicht eintrat; hierhin gehört der Kampf, der 1906 in Hannover
gegen die verkehrsfeindlichen Steuern, insbesondere die Fahrkartensteuer, geführt
wurde.

Aus derselben Gesinnung entspringen die sozialpolitischen Forderungen der
Jungliberalen: Kaufmannsgerichte, paritätische Arbeitskammern, Reform der
Wohnverhältnisse, Lösung der Agrarfrage wurden gefordert und in eingehenden
Debatten und Entschließungen behandelt. National, liberal und sozial wurden
je länger, je mehr die Schlagworte, mit denen die Bewegung ihre Werbe¬
kraft übte.

Und diese Werbekraft war bei weitem größer, als das rein zahlenmäßige
Anwachsen der jungliberalen Organisation ahnen läßt. Der Reichsverband hat
sich niemals als eine Spitze der Partei angesehen; die Diskussionen und Reso¬
lutionen seiner Vertretertage sollen nichts anderes sein als die Diskussionen
und Resolutionen der landschaftlich organisierten Verbände, nur daß das Alter
und nicht der Heimatsstaat oder die Provinz das unterscheidende Kriterium
war. Wenn die jungliberalen Vertretertage einen ungeahnt starken Widerhall
in der Presse und in der öffentlichen Meinung fanden, so mögen die Intelligenz
und die Energie der geistigen Führer der Bewegung hierzu nicht wenig bei¬
getragen haben. Aber das Wesentliche war doch: hier war eine Organisation
entstanden, die offen aussprach, was Tausende und Abertausende von Männern
dachten, die ihrer Gesinnung nach zur nationalliberalen Partei gehörten, und
was -- infolge des eigenartigen Aufbaues der Parteiinteressen -- doch nirgends
sonst eine weithin schallende Resonanz fand. So kam es, daß die Reichstags¬
wahl von 1903, die erste nach der Begründung des Neichsverbandes, der
Partei ein Mehr von dreihunderttausend Stimmen brachte. So kam es, daß
die Jungliberalen in ihren Kämpfen, sei es mit der Reichstags-, sei es mit
der Landtagsfraktion, niemals allein standen, daß es sich niemals in diesen
vierzehn Jahren um einen Kampf zwischen Alt und Jung handelte, sondern
daß stets die Jungen mit einem Teil der Alten auf derselben Seite waren.

Das soll nach dem Willen der Mehrheit des Zentralvorstandes nun anders
werden. Der Verlauf des Delegiertentages wird lehren, ob die Partei dies
lebensgefährliche Experiment wagen, und wenn sie es wagt, ob sie es über¬
dauern wird.




Die Iungliberalcn

Schulprogramm, in denen man für die Simultanschule und die Beseitigung der
geistlichen Schulaufsicht eintrat; hierhin gehört der Kampf, der 1906 in Hannover
gegen die verkehrsfeindlichen Steuern, insbesondere die Fahrkartensteuer, geführt
wurde.

Aus derselben Gesinnung entspringen die sozialpolitischen Forderungen der
Jungliberalen: Kaufmannsgerichte, paritätische Arbeitskammern, Reform der
Wohnverhältnisse, Lösung der Agrarfrage wurden gefordert und in eingehenden
Debatten und Entschließungen behandelt. National, liberal und sozial wurden
je länger, je mehr die Schlagworte, mit denen die Bewegung ihre Werbe¬
kraft übte.

Und diese Werbekraft war bei weitem größer, als das rein zahlenmäßige
Anwachsen der jungliberalen Organisation ahnen läßt. Der Reichsverband hat
sich niemals als eine Spitze der Partei angesehen; die Diskussionen und Reso¬
lutionen seiner Vertretertage sollen nichts anderes sein als die Diskussionen
und Resolutionen der landschaftlich organisierten Verbände, nur daß das Alter
und nicht der Heimatsstaat oder die Provinz das unterscheidende Kriterium
war. Wenn die jungliberalen Vertretertage einen ungeahnt starken Widerhall
in der Presse und in der öffentlichen Meinung fanden, so mögen die Intelligenz
und die Energie der geistigen Führer der Bewegung hierzu nicht wenig bei¬
getragen haben. Aber das Wesentliche war doch: hier war eine Organisation
entstanden, die offen aussprach, was Tausende und Abertausende von Männern
dachten, die ihrer Gesinnung nach zur nationalliberalen Partei gehörten, und
was — infolge des eigenartigen Aufbaues der Parteiinteressen — doch nirgends
sonst eine weithin schallende Resonanz fand. So kam es, daß die Reichstags¬
wahl von 1903, die erste nach der Begründung des Neichsverbandes, der
Partei ein Mehr von dreihunderttausend Stimmen brachte. So kam es, daß
die Jungliberalen in ihren Kämpfen, sei es mit der Reichstags-, sei es mit
der Landtagsfraktion, niemals allein standen, daß es sich niemals in diesen
vierzehn Jahren um einen Kampf zwischen Alt und Jung handelte, sondern
daß stets die Jungen mit einem Teil der Alten auf derselben Seite waren.

Das soll nach dem Willen der Mehrheit des Zentralvorstandes nun anders
werden. Der Verlauf des Delegiertentages wird lehren, ob die Partei dies
lebensgefährliche Experiment wagen, und wenn sie es wagt, ob sie es über¬
dauern wird.




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[0170] Die Iungliberalcn Schulprogramm, in denen man für die Simultanschule und die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht eintrat; hierhin gehört der Kampf, der 1906 in Hannover gegen die verkehrsfeindlichen Steuern, insbesondere die Fahrkartensteuer, geführt wurde. Aus derselben Gesinnung entspringen die sozialpolitischen Forderungen der Jungliberalen: Kaufmannsgerichte, paritätische Arbeitskammern, Reform der Wohnverhältnisse, Lösung der Agrarfrage wurden gefordert und in eingehenden Debatten und Entschließungen behandelt. National, liberal und sozial wurden je länger, je mehr die Schlagworte, mit denen die Bewegung ihre Werbe¬ kraft übte. Und diese Werbekraft war bei weitem größer, als das rein zahlenmäßige Anwachsen der jungliberalen Organisation ahnen läßt. Der Reichsverband hat sich niemals als eine Spitze der Partei angesehen; die Diskussionen und Reso¬ lutionen seiner Vertretertage sollen nichts anderes sein als die Diskussionen und Resolutionen der landschaftlich organisierten Verbände, nur daß das Alter und nicht der Heimatsstaat oder die Provinz das unterscheidende Kriterium war. Wenn die jungliberalen Vertretertage einen ungeahnt starken Widerhall in der Presse und in der öffentlichen Meinung fanden, so mögen die Intelligenz und die Energie der geistigen Führer der Bewegung hierzu nicht wenig bei¬ getragen haben. Aber das Wesentliche war doch: hier war eine Organisation entstanden, die offen aussprach, was Tausende und Abertausende von Männern dachten, die ihrer Gesinnung nach zur nationalliberalen Partei gehörten, und was — infolge des eigenartigen Aufbaues der Parteiinteressen — doch nirgends sonst eine weithin schallende Resonanz fand. So kam es, daß die Reichstags¬ wahl von 1903, die erste nach der Begründung des Neichsverbandes, der Partei ein Mehr von dreihunderttausend Stimmen brachte. So kam es, daß die Jungliberalen in ihren Kämpfen, sei es mit der Reichstags-, sei es mit der Landtagsfraktion, niemals allein standen, daß es sich niemals in diesen vierzehn Jahren um einen Kampf zwischen Alt und Jung handelte, sondern daß stets die Jungen mit einem Teil der Alten auf derselben Seite waren. Das soll nach dem Willen der Mehrheit des Zentralvorstandes nun anders werden. Der Verlauf des Delegiertentages wird lehren, ob die Partei dies lebensgefährliche Experiment wagen, und wenn sie es wagt, ob sie es über¬ dauern wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/170>, abgerufen am 17.06.2024.