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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie?

und Handwerkertag im Jahre 1904, die Reichsregiemug um den Erlaß
gesetzlicher Bestimmungen dahin zu ersuchen, daß alle Großbetriebe, die hand¬
werksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigten, zu den Wohlfahrtseinrichtungen
der Innungen und Handwerkskammern beitragspflichtig sein sollten. In außer¬
ordentlich charakteristischen Weise äußerte sich auf dem fünften deutschen
Handwerks- und Gewerbekammertage zu Lübeck im Jahre 1904 der Reichstags¬
abgeordnete Euler mit folgenden Worten zu dieser Frage: "Es ist nötig, daß
den Handwerkskammern ein gewisser Einfluß durch die Beauftragten gegeben
wird in der Frage: was ist Fabrik, was ist Handwerk? Für uns Handwerker
ist es klar, daß ein Handwerksbetrieb, auch wenn er mit hundert und
mehr Arbeitern besetzt ist, immer ein Handwerksbetrieb bleibt. Ich habe
die Überzeugung, man wird fünf, vielleicht zehn, vielleicht auch fünfzehn
Jahre und noch länger nach der Grenze zwischen Fabrik und Handwerk suchen,
sie aber selbst bei der besten Blendlaterne nicht finden. Zunächst will man
sie nicht finden, wenigstens nicht im Interesse des Handwerks. Man findet
sie aber leicht, wenn es gegen das Handwerk und für die Großindustrie, die
Fabriken geht . . . Wir müssen also dahin streben, daß es hier in die Reichs-
gesetzgebung eingefügt wird, daß diese Betriebe, soweit sie handwerksmäßig
ausbilden oder handwerksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigen, zu den
Innungen und Handwerkskammern beitragen müssen." Der Handwerks- und
Gewerbekammertag zu Lübeck schloß sich dieser Forderung durch eine Resolution
an, und dem gleichen Beispiele folgte im Jahre 1907 auch der zu Eisenach
abgehaltene Handwerkstag, auf dem der nachfolgende Beschlußantrag angenommen
wurde: "Das Handwerk muß sein tiefstes Bedauern darüber aussprechen,
daß die Mehrzahl der deutschen Fabrikanten die Sorgen wie die Opfer
für die Ausbildung ihres Arbeitermaterials dem um seine Existenz schwer
ringenden Handwerk überläßt. Der Handwerkstag beschließt daher, mit
allen Mitteln dahin zu wirken, daß auch die Großindustrie zu deu
Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerkskammern, soweit die¬
selben das Gesellen- und Lehrlingswesen betreffen, mit Beiträgen heran¬
gezogen und die Bestimmungen der Gewerbeordnung dahin abgerundet werden,
daß jeder Gewerbebetrieb, ohne Rücksicht auf Umfang, die Zahl der Arbeiter,
die maschinelle Einrichtung usw. Beiträge an die Innungen und Handwerks¬
kammern zu leiste" hat."

Diese Forderung, die industriellen Betriebe zu den Beitragskosten sür die
Zwangsinnungen und die Handwerkskammern heranzuziehen, ist seitdem immer
nachdrücklicher verfolgt morden und hat im Reichstage die Unterstützung aller
rechtsstehenden Parteien, der Nationälliberalen und auch des Zentrums gefunden,
von denen diesbezügliche Initiativanträge bereits mehrfach gestellt worden sind.
Aber auch in der Praxis ist den Wünschen im Wege der Auslegung und Hand-
habung der Gesetzesbestimmungen die Zuständigkeit der Handwerkerorgauisationen
über die Grenzen des Handwerkes hinaus auf Mittel- und Großbetriebe


Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie?

und Handwerkertag im Jahre 1904, die Reichsregiemug um den Erlaß
gesetzlicher Bestimmungen dahin zu ersuchen, daß alle Großbetriebe, die hand¬
werksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigten, zu den Wohlfahrtseinrichtungen
der Innungen und Handwerkskammern beitragspflichtig sein sollten. In außer¬
ordentlich charakteristischen Weise äußerte sich auf dem fünften deutschen
Handwerks- und Gewerbekammertage zu Lübeck im Jahre 1904 der Reichstags¬
abgeordnete Euler mit folgenden Worten zu dieser Frage: „Es ist nötig, daß
den Handwerkskammern ein gewisser Einfluß durch die Beauftragten gegeben
wird in der Frage: was ist Fabrik, was ist Handwerk? Für uns Handwerker
ist es klar, daß ein Handwerksbetrieb, auch wenn er mit hundert und
mehr Arbeitern besetzt ist, immer ein Handwerksbetrieb bleibt. Ich habe
die Überzeugung, man wird fünf, vielleicht zehn, vielleicht auch fünfzehn
Jahre und noch länger nach der Grenze zwischen Fabrik und Handwerk suchen,
sie aber selbst bei der besten Blendlaterne nicht finden. Zunächst will man
sie nicht finden, wenigstens nicht im Interesse des Handwerks. Man findet
sie aber leicht, wenn es gegen das Handwerk und für die Großindustrie, die
Fabriken geht . . . Wir müssen also dahin streben, daß es hier in die Reichs-
gesetzgebung eingefügt wird, daß diese Betriebe, soweit sie handwerksmäßig
ausbilden oder handwerksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigen, zu den
Innungen und Handwerkskammern beitragen müssen." Der Handwerks- und
Gewerbekammertag zu Lübeck schloß sich dieser Forderung durch eine Resolution
an, und dem gleichen Beispiele folgte im Jahre 1907 auch der zu Eisenach
abgehaltene Handwerkstag, auf dem der nachfolgende Beschlußantrag angenommen
wurde: „Das Handwerk muß sein tiefstes Bedauern darüber aussprechen,
daß die Mehrzahl der deutschen Fabrikanten die Sorgen wie die Opfer
für die Ausbildung ihres Arbeitermaterials dem um seine Existenz schwer
ringenden Handwerk überläßt. Der Handwerkstag beschließt daher, mit
allen Mitteln dahin zu wirken, daß auch die Großindustrie zu deu
Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerkskammern, soweit die¬
selben das Gesellen- und Lehrlingswesen betreffen, mit Beiträgen heran¬
gezogen und die Bestimmungen der Gewerbeordnung dahin abgerundet werden,
daß jeder Gewerbebetrieb, ohne Rücksicht auf Umfang, die Zahl der Arbeiter,
die maschinelle Einrichtung usw. Beiträge an die Innungen und Handwerks¬
kammern zu leiste« hat."

Diese Forderung, die industriellen Betriebe zu den Beitragskosten sür die
Zwangsinnungen und die Handwerkskammern heranzuziehen, ist seitdem immer
nachdrücklicher verfolgt morden und hat im Reichstage die Unterstützung aller
rechtsstehenden Parteien, der Nationälliberalen und auch des Zentrums gefunden,
von denen diesbezügliche Initiativanträge bereits mehrfach gestellt worden sind.
Aber auch in der Praxis ist den Wünschen im Wege der Auslegung und Hand-
habung der Gesetzesbestimmungen die Zuständigkeit der Handwerkerorgauisationen
über die Grenzen des Handwerkes hinaus auf Mittel- und Großbetriebe


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[0185] Förderung des Handwerks auf Kosten der Industrie? und Handwerkertag im Jahre 1904, die Reichsregiemug um den Erlaß gesetzlicher Bestimmungen dahin zu ersuchen, daß alle Großbetriebe, die hand¬ werksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigten, zu den Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerkskammern beitragspflichtig sein sollten. In außer¬ ordentlich charakteristischen Weise äußerte sich auf dem fünften deutschen Handwerks- und Gewerbekammertage zu Lübeck im Jahre 1904 der Reichstags¬ abgeordnete Euler mit folgenden Worten zu dieser Frage: „Es ist nötig, daß den Handwerkskammern ein gewisser Einfluß durch die Beauftragten gegeben wird in der Frage: was ist Fabrik, was ist Handwerk? Für uns Handwerker ist es klar, daß ein Handwerksbetrieb, auch wenn er mit hundert und mehr Arbeitern besetzt ist, immer ein Handwerksbetrieb bleibt. Ich habe die Überzeugung, man wird fünf, vielleicht zehn, vielleicht auch fünfzehn Jahre und noch länger nach der Grenze zwischen Fabrik und Handwerk suchen, sie aber selbst bei der besten Blendlaterne nicht finden. Zunächst will man sie nicht finden, wenigstens nicht im Interesse des Handwerks. Man findet sie aber leicht, wenn es gegen das Handwerk und für die Großindustrie, die Fabriken geht . . . Wir müssen also dahin streben, daß es hier in die Reichs- gesetzgebung eingefügt wird, daß diese Betriebe, soweit sie handwerksmäßig ausbilden oder handwerksmäßig vorgebildete Arbeiter beschäftigen, zu den Innungen und Handwerkskammern beitragen müssen." Der Handwerks- und Gewerbekammertag zu Lübeck schloß sich dieser Forderung durch eine Resolution an, und dem gleichen Beispiele folgte im Jahre 1907 auch der zu Eisenach abgehaltene Handwerkstag, auf dem der nachfolgende Beschlußantrag angenommen wurde: „Das Handwerk muß sein tiefstes Bedauern darüber aussprechen, daß die Mehrzahl der deutschen Fabrikanten die Sorgen wie die Opfer für die Ausbildung ihres Arbeitermaterials dem um seine Existenz schwer ringenden Handwerk überläßt. Der Handwerkstag beschließt daher, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß auch die Großindustrie zu deu Wohlfahrtseinrichtungen der Innungen und Handwerkskammern, soweit die¬ selben das Gesellen- und Lehrlingswesen betreffen, mit Beiträgen heran¬ gezogen und die Bestimmungen der Gewerbeordnung dahin abgerundet werden, daß jeder Gewerbebetrieb, ohne Rücksicht auf Umfang, die Zahl der Arbeiter, die maschinelle Einrichtung usw. Beiträge an die Innungen und Handwerks¬ kammern zu leiste« hat." Diese Forderung, die industriellen Betriebe zu den Beitragskosten sür die Zwangsinnungen und die Handwerkskammern heranzuziehen, ist seitdem immer nachdrücklicher verfolgt morden und hat im Reichstage die Unterstützung aller rechtsstehenden Parteien, der Nationälliberalen und auch des Zentrums gefunden, von denen diesbezügliche Initiativanträge bereits mehrfach gestellt worden sind. Aber auch in der Praxis ist den Wünschen im Wege der Auslegung und Hand- habung der Gesetzesbestimmungen die Zuständigkeit der Handwerkerorgauisationen über die Grenzen des Handwerkes hinaus auf Mittel- und Großbetriebe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/185>, abgerufen am 17.06.2024.