Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz]

Als ich vor zwei Jahrzehnte" "leine kleine
Waldschule übernahm, fand ich bereits eine
Schülerbibliothek bar, An jedem Sonnabend
beluden sich die Kinder mit vier oder fünf
Bände", die sie heinischleppte". Ich fragte
mich: Welche" Gewinn mögen die Kinder
davon haben?

Am nächsten Sonnabend "ahn ich Ge¬
legenheit, i" der letzte" deutschen Wochen¬
stunde nach dem Gelesenen zu fragen. Die
Kinder sahen mich erstaunt, ja verdutzt an.
Offenbar hatte sie noch niemand nach den?
"Verstehest du auch was du liesest" gefragt,
sondern sie hatten bisher ihre Bücher wie
ihre Butterbrode verschlungen, ohne über das
Genossene nachzudenken. Das mußte anders
werden.

Zunächst gab ich jedem Kinde immer nur
ein Buch mit. Dann fragte ich: Kein" mir
jemand aus seinem Buche etwas erzählen?
Anfangs meldete sich niemand, bald aber
erhoben sich schüchtern einige Finger. Es
ging "och in Sprüngen ohne Zusamme"sang,
aber dann stellte sich auch schou die Freude am
Erzählen ein. Wohl ergänzte ich zuweilen; aber
im ganzen lies; ich den Kindern beim Erzählen
freie Hand. Das Korrigieren von Fehlern
sprachlicher und sachlicher Art verschob ich auf
den Schluß und das geschah auch nie in
tadelnder Weise. Überhaupt kam es mir
oarcmf an, dieser "Erzählstnnde", die man
auch Bibliotheksstunde nennen konnte, den
belehrenden Charakter einer Unterrichtsstunde
zu nehmen, durch die erzählende plaudernde
Form die Kinder aus ihrem Schneckenhäuschen
hervorzulocken. Das gelang, indem ich selbst
zum Erzähler und eifrigen Hörer wurde, mich
zu den Kindern setzte und in ihrer Sprache
redete. Bald bemerkte ich, wie sich die.Kinder
auf die Erzählstuude freuten, wie sie immer
eifriger in der Benutzung ihrer Bücher wurden.
Ich ließ mir zum Beginn regelmäßig Nummer
und Titel des Buches sagen; dann bestimmte
ich ein Drittel oder höchstens die Hälfte der
Kinder als Erzähler. Fünf bis zehn Minuten
ist Erzähldaner, oft aber lasse ich einen be¬
sonders eifrigen Erzähler auch länger erzählen.
Ich habe Kinder gehabt, die stundenlang
weiter erzählt hätte", wenn ich ihrem Rede¬
strom Raum gegeben. Oft schneide ich gar
zu sehr in die Breite gehenden Kindern das

[Spaltenumbruch]

Wort ab mit der Aufforderung: Sage in
wenigen Sätzen, wie die Geschichte verläuft
und enden Das reißt die Gedanken zu¬
sammen, hilft das Nebensächliche nnsscheiden
und dus Wichtige hervorkehren.

Interessant ist's, wie verschieden jedes Kind
an den Stoff herantritt und sich zu ihm in
Beziehung setzt. Man wirdkanm zwei gleichartige
Erzähler finden. Dieser Unterschied tritt be¬
sonders auffallend bei den Geschlechtern zutage.
Die Knaben bringen Tatsachen, Handlungen,
die Mädchen lieben die epische Breite.
Das macht sich auch schou in der Auswahl
der Bücher bemerkbar. Während die Jungen
mit Vorliebe Kämpfe, Reiseabenteuer, gute
geschichtliche Erzählungen, iuteresscuit "ut
spannend geschriebene Biographien, vor allem
auch Stammes-, Heimath- n"d Ortssagen
bevorzuge", lieben die Mädchen mehr Fa-
milienerzählunge", naturgeschichtliche Vor¬
gänge und Märchen. Der Psychologe findet in
der "Erzählstunde" ein reiches Veobnchtuugs-
feld. Der Erzieher erhält manchen Aufschluß
über die Charaktereigentümlichkeit, der Lehrer
manchen Wink über schwankende Vorstellungs¬
reihe", die der Ergänzung, der intensiverer
Anschauung bedürfen.

Es ist wichtig, die Auswahl der Bücher
nicht durchaus ven .Kindern allein zu über¬
lassen, eS muß das Alter, es muß die Auf¬
nahmefähigkeit, die Reife berücksichtigt werden.
In erziehlicher Hinsicht läßt sich hier manche
Lücke schließen. Ich Pflege träumerischen
Kindern, die sich gar zu leicht selbst verlieren,
Bücher mit frischer tatkräftiger Handlung in
die Hände zu spielen. Sie ahnen natürlich
nichts von meiner Absicht, aber ich habe doch
.schon mehrmals erfahren, wie hier das Buch
mehr vermochte als Eltern und Lehrer. Was
von den Kinder" gesagt wird, gilt in ver¬
stärkte!" Maße von den Jugendlichen und selbst
den Eltern. Ein kluger Lehrer und Bibliothekar
kann durch el" fesselndes überzeugendes Buch
Neigungen undLnster verderblicher Art vieleher
und wirkungsvoller bekämpfen als durch Persön¬
lichen Zuspruch. -- Es ist richtig, daß man
jetzt der Tendenzschriftstellerci den Krieg er¬
klärt. Das Wort: Man merkt die Absicht
und wird verstimmt, besteht zu Recht. Aber
die verschwiegene und darum nur so tiefer
dringende Moral, wie sie z. B. unsere deutscheu

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Als ich vor zwei Jahrzehnte» »leine kleine
Waldschule übernahm, fand ich bereits eine
Schülerbibliothek bar, An jedem Sonnabend
beluden sich die Kinder mit vier oder fünf
Bände», die sie heinischleppte». Ich fragte
mich: Welche» Gewinn mögen die Kinder
davon haben?

Am nächsten Sonnabend »ahn ich Ge¬
legenheit, i» der letzte» deutschen Wochen¬
stunde nach dem Gelesenen zu fragen. Die
Kinder sahen mich erstaunt, ja verdutzt an.
Offenbar hatte sie noch niemand nach den?
„Verstehest du auch was du liesest" gefragt,
sondern sie hatten bisher ihre Bücher wie
ihre Butterbrode verschlungen, ohne über das
Genossene nachzudenken. Das mußte anders
werden.

Zunächst gab ich jedem Kinde immer nur
ein Buch mit. Dann fragte ich: Kein» mir
jemand aus seinem Buche etwas erzählen?
Anfangs meldete sich niemand, bald aber
erhoben sich schüchtern einige Finger. Es
ging »och in Sprüngen ohne Zusamme»sang,
aber dann stellte sich auch schou die Freude am
Erzählen ein. Wohl ergänzte ich zuweilen; aber
im ganzen lies; ich den Kindern beim Erzählen
freie Hand. Das Korrigieren von Fehlern
sprachlicher und sachlicher Art verschob ich auf
den Schluß und das geschah auch nie in
tadelnder Weise. Überhaupt kam es mir
oarcmf an, dieser „Erzählstnnde", die man
auch Bibliotheksstunde nennen konnte, den
belehrenden Charakter einer Unterrichtsstunde
zu nehmen, durch die erzählende plaudernde
Form die Kinder aus ihrem Schneckenhäuschen
hervorzulocken. Das gelang, indem ich selbst
zum Erzähler und eifrigen Hörer wurde, mich
zu den Kindern setzte und in ihrer Sprache
redete. Bald bemerkte ich, wie sich die.Kinder
auf die Erzählstuude freuten, wie sie immer
eifriger in der Benutzung ihrer Bücher wurden.
Ich ließ mir zum Beginn regelmäßig Nummer
und Titel des Buches sagen; dann bestimmte
ich ein Drittel oder höchstens die Hälfte der
Kinder als Erzähler. Fünf bis zehn Minuten
ist Erzähldaner, oft aber lasse ich einen be¬
sonders eifrigen Erzähler auch länger erzählen.
Ich habe Kinder gehabt, die stundenlang
weiter erzählt hätte», wenn ich ihrem Rede¬
strom Raum gegeben. Oft schneide ich gar
zu sehr in die Breite gehenden Kindern das

[Spaltenumbruch]

Wort ab mit der Aufforderung: Sage in
wenigen Sätzen, wie die Geschichte verläuft
und enden Das reißt die Gedanken zu¬
sammen, hilft das Nebensächliche nnsscheiden
und dus Wichtige hervorkehren.

Interessant ist's, wie verschieden jedes Kind
an den Stoff herantritt und sich zu ihm in
Beziehung setzt. Man wirdkanm zwei gleichartige
Erzähler finden. Dieser Unterschied tritt be¬
sonders auffallend bei den Geschlechtern zutage.
Die Knaben bringen Tatsachen, Handlungen,
die Mädchen lieben die epische Breite.
Das macht sich auch schou in der Auswahl
der Bücher bemerkbar. Während die Jungen
mit Vorliebe Kämpfe, Reiseabenteuer, gute
geschichtliche Erzählungen, iuteresscuit »ut
spannend geschriebene Biographien, vor allem
auch Stammes-, Heimath- n»d Ortssagen
bevorzuge», lieben die Mädchen mehr Fa-
milienerzählunge», naturgeschichtliche Vor¬
gänge und Märchen. Der Psychologe findet in
der „Erzählstunde" ein reiches Veobnchtuugs-
feld. Der Erzieher erhält manchen Aufschluß
über die Charaktereigentümlichkeit, der Lehrer
manchen Wink über schwankende Vorstellungs¬
reihe», die der Ergänzung, der intensiverer
Anschauung bedürfen.

Es ist wichtig, die Auswahl der Bücher
nicht durchaus ven .Kindern allein zu über¬
lassen, eS muß das Alter, es muß die Auf¬
nahmefähigkeit, die Reife berücksichtigt werden.
In erziehlicher Hinsicht läßt sich hier manche
Lücke schließen. Ich Pflege träumerischen
Kindern, die sich gar zu leicht selbst verlieren,
Bücher mit frischer tatkräftiger Handlung in
die Hände zu spielen. Sie ahnen natürlich
nichts von meiner Absicht, aber ich habe doch
.schon mehrmals erfahren, wie hier das Buch
mehr vermochte als Eltern und Lehrer. Was
von den Kinder» gesagt wird, gilt in ver¬
stärkte!» Maße von den Jugendlichen und selbst
den Eltern. Ein kluger Lehrer und Bibliothekar
kann durch el» fesselndes überzeugendes Buch
Neigungen undLnster verderblicher Art vieleher
und wirkungsvoller bekämpfen als durch Persön¬
lichen Zuspruch. — Es ist richtig, daß man
jetzt der Tendenzschriftstellerci den Krieg er¬
klärt. Das Wort: Man merkt die Absicht
und wird verstimmt, besteht zu Recht. Aber
die verschwiegene und darum nur so tiefer
dringende Moral, wie sie z. B. unsere deutscheu

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0204" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321287"/>
              <fw type="header" place="top"/><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_827"> Als ich vor zwei Jahrzehnte» »leine kleine<lb/>
Waldschule übernahm, fand ich bereits eine<lb/>
Schülerbibliothek bar, An jedem Sonnabend<lb/>
beluden sich die Kinder mit vier oder fünf<lb/>
Bände», die sie heinischleppte». Ich fragte<lb/>
mich: Welche» Gewinn mögen die Kinder<lb/>
davon haben?</p>
              <p xml:id="ID_828"> Am nächsten Sonnabend »ahn ich Ge¬<lb/>
legenheit, i» der letzte» deutschen Wochen¬<lb/>
stunde nach dem Gelesenen zu fragen. Die<lb/>
Kinder sahen mich erstaunt, ja verdutzt an.<lb/>
Offenbar hatte sie noch niemand nach den?<lb/>
&#x201E;Verstehest du auch was du liesest" gefragt,<lb/>
sondern sie hatten bisher ihre Bücher wie<lb/>
ihre Butterbrode verschlungen, ohne über das<lb/>
Genossene nachzudenken. Das mußte anders<lb/>
werden.</p>
              <p xml:id="ID_829" next="#ID_830"> Zunächst gab ich jedem Kinde immer nur<lb/>
ein Buch mit. Dann fragte ich: Kein» mir<lb/>
jemand aus seinem Buche etwas erzählen?<lb/>
Anfangs meldete sich niemand, bald aber<lb/>
erhoben sich schüchtern einige Finger. Es<lb/>
ging »och in Sprüngen ohne Zusamme»sang,<lb/>
aber dann stellte sich auch schou die Freude am<lb/>
Erzählen ein. Wohl ergänzte ich zuweilen; aber<lb/>
im ganzen lies; ich den Kindern beim Erzählen<lb/>
freie Hand. Das Korrigieren von Fehlern<lb/>
sprachlicher und sachlicher Art verschob ich auf<lb/>
den Schluß und das geschah auch nie in<lb/>
tadelnder Weise. Überhaupt kam es mir<lb/>
oarcmf an, dieser &#x201E;Erzählstnnde", die man<lb/>
auch Bibliotheksstunde nennen konnte, den<lb/>
belehrenden Charakter einer Unterrichtsstunde<lb/>
zu nehmen, durch die erzählende plaudernde<lb/>
Form die Kinder aus ihrem Schneckenhäuschen<lb/>
hervorzulocken. Das gelang, indem ich selbst<lb/>
zum Erzähler und eifrigen Hörer wurde, mich<lb/>
zu den Kindern setzte und in ihrer Sprache<lb/>
redete. Bald bemerkte ich, wie sich die.Kinder<lb/>
auf die Erzählstuude freuten, wie sie immer<lb/>
eifriger in der Benutzung ihrer Bücher wurden.<lb/>
Ich ließ mir zum Beginn regelmäßig Nummer<lb/>
und Titel des Buches sagen; dann bestimmte<lb/>
ich ein Drittel oder höchstens die Hälfte der<lb/>
Kinder als Erzähler. Fünf bis zehn Minuten<lb/>
ist Erzähldaner, oft aber lasse ich einen be¬<lb/>
sonders eifrigen Erzähler auch länger erzählen.<lb/>
Ich habe Kinder gehabt, die stundenlang<lb/>
weiter erzählt hätte», wenn ich ihrem Rede¬<lb/>
strom Raum gegeben. Oft schneide ich gar<lb/>
zu sehr in die Breite gehenden Kindern das</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_830" prev="#ID_829"> Wort ab mit der Aufforderung: Sage in<lb/>
wenigen Sätzen, wie die Geschichte verläuft<lb/>
und enden Das reißt die Gedanken zu¬<lb/>
sammen, hilft das Nebensächliche nnsscheiden<lb/>
und dus Wichtige hervorkehren.</p>
              <p xml:id="ID_831"> Interessant ist's, wie verschieden jedes Kind<lb/>
an den Stoff herantritt und sich zu ihm in<lb/>
Beziehung setzt. Man wirdkanm zwei gleichartige<lb/>
Erzähler finden. Dieser Unterschied tritt be¬<lb/>
sonders auffallend bei den Geschlechtern zutage.<lb/>
Die Knaben bringen Tatsachen, Handlungen,<lb/>
die Mädchen lieben die epische Breite.<lb/>
Das macht sich auch schou in der Auswahl<lb/>
der Bücher bemerkbar. Während die Jungen<lb/>
mit Vorliebe Kämpfe, Reiseabenteuer, gute<lb/>
geschichtliche Erzählungen, iuteresscuit »ut<lb/>
spannend geschriebene Biographien, vor allem<lb/>
auch Stammes-, Heimath- n»d Ortssagen<lb/>
bevorzuge», lieben die Mädchen mehr Fa-<lb/>
milienerzählunge», naturgeschichtliche Vor¬<lb/>
gänge und Märchen. Der Psychologe findet in<lb/>
der &#x201E;Erzählstunde" ein reiches Veobnchtuugs-<lb/>
feld. Der Erzieher erhält manchen Aufschluß<lb/>
über die Charaktereigentümlichkeit, der Lehrer<lb/>
manchen Wink über schwankende Vorstellungs¬<lb/>
reihe», die der Ergänzung, der intensiverer<lb/>
Anschauung bedürfen.</p>
              <p xml:id="ID_832" next="#ID_833"> Es ist wichtig, die Auswahl der Bücher<lb/>
nicht durchaus ven .Kindern allein zu über¬<lb/>
lassen, eS muß das Alter, es muß die Auf¬<lb/>
nahmefähigkeit, die Reife berücksichtigt werden.<lb/>
In erziehlicher Hinsicht läßt sich hier manche<lb/>
Lücke schließen. Ich Pflege träumerischen<lb/>
Kindern, die sich gar zu leicht selbst verlieren,<lb/>
Bücher mit frischer tatkräftiger Handlung in<lb/>
die Hände zu spielen. Sie ahnen natürlich<lb/>
nichts von meiner Absicht, aber ich habe doch<lb/>
.schon mehrmals erfahren, wie hier das Buch<lb/>
mehr vermochte als Eltern und Lehrer. Was<lb/>
von den Kinder» gesagt wird, gilt in ver¬<lb/>
stärkte!» Maße von den Jugendlichen und selbst<lb/>
den Eltern. Ein kluger Lehrer und Bibliothekar<lb/>
kann durch el» fesselndes überzeugendes Buch<lb/>
Neigungen undLnster verderblicher Art vieleher<lb/>
und wirkungsvoller bekämpfen als durch Persön¬<lb/>
lichen Zuspruch. &#x2014; Es ist richtig, daß man<lb/>
jetzt der Tendenzschriftstellerci den Krieg er¬<lb/>
klärt. Das Wort: Man merkt die Absicht<lb/>
und wird verstimmt, besteht zu Recht. Aber<lb/>
die verschwiegene und darum nur so tiefer<lb/>
dringende Moral, wie sie z. B. unsere deutscheu</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0204] Als ich vor zwei Jahrzehnte» »leine kleine Waldschule übernahm, fand ich bereits eine Schülerbibliothek bar, An jedem Sonnabend beluden sich die Kinder mit vier oder fünf Bände», die sie heinischleppte». Ich fragte mich: Welche» Gewinn mögen die Kinder davon haben? Am nächsten Sonnabend »ahn ich Ge¬ legenheit, i» der letzte» deutschen Wochen¬ stunde nach dem Gelesenen zu fragen. Die Kinder sahen mich erstaunt, ja verdutzt an. Offenbar hatte sie noch niemand nach den? „Verstehest du auch was du liesest" gefragt, sondern sie hatten bisher ihre Bücher wie ihre Butterbrode verschlungen, ohne über das Genossene nachzudenken. Das mußte anders werden. Zunächst gab ich jedem Kinde immer nur ein Buch mit. Dann fragte ich: Kein» mir jemand aus seinem Buche etwas erzählen? Anfangs meldete sich niemand, bald aber erhoben sich schüchtern einige Finger. Es ging »och in Sprüngen ohne Zusamme»sang, aber dann stellte sich auch schou die Freude am Erzählen ein. Wohl ergänzte ich zuweilen; aber im ganzen lies; ich den Kindern beim Erzählen freie Hand. Das Korrigieren von Fehlern sprachlicher und sachlicher Art verschob ich auf den Schluß und das geschah auch nie in tadelnder Weise. Überhaupt kam es mir oarcmf an, dieser „Erzählstnnde", die man auch Bibliotheksstunde nennen konnte, den belehrenden Charakter einer Unterrichtsstunde zu nehmen, durch die erzählende plaudernde Form die Kinder aus ihrem Schneckenhäuschen hervorzulocken. Das gelang, indem ich selbst zum Erzähler und eifrigen Hörer wurde, mich zu den Kindern setzte und in ihrer Sprache redete. Bald bemerkte ich, wie sich die.Kinder auf die Erzählstuude freuten, wie sie immer eifriger in der Benutzung ihrer Bücher wurden. Ich ließ mir zum Beginn regelmäßig Nummer und Titel des Buches sagen; dann bestimmte ich ein Drittel oder höchstens die Hälfte der Kinder als Erzähler. Fünf bis zehn Minuten ist Erzähldaner, oft aber lasse ich einen be¬ sonders eifrigen Erzähler auch länger erzählen. Ich habe Kinder gehabt, die stundenlang weiter erzählt hätte», wenn ich ihrem Rede¬ strom Raum gegeben. Oft schneide ich gar zu sehr in die Breite gehenden Kindern das Wort ab mit der Aufforderung: Sage in wenigen Sätzen, wie die Geschichte verläuft und enden Das reißt die Gedanken zu¬ sammen, hilft das Nebensächliche nnsscheiden und dus Wichtige hervorkehren. Interessant ist's, wie verschieden jedes Kind an den Stoff herantritt und sich zu ihm in Beziehung setzt. Man wirdkanm zwei gleichartige Erzähler finden. Dieser Unterschied tritt be¬ sonders auffallend bei den Geschlechtern zutage. Die Knaben bringen Tatsachen, Handlungen, die Mädchen lieben die epische Breite. Das macht sich auch schou in der Auswahl der Bücher bemerkbar. Während die Jungen mit Vorliebe Kämpfe, Reiseabenteuer, gute geschichtliche Erzählungen, iuteresscuit »ut spannend geschriebene Biographien, vor allem auch Stammes-, Heimath- n»d Ortssagen bevorzuge», lieben die Mädchen mehr Fa- milienerzählunge», naturgeschichtliche Vor¬ gänge und Märchen. Der Psychologe findet in der „Erzählstunde" ein reiches Veobnchtuugs- feld. Der Erzieher erhält manchen Aufschluß über die Charaktereigentümlichkeit, der Lehrer manchen Wink über schwankende Vorstellungs¬ reihe», die der Ergänzung, der intensiverer Anschauung bedürfen. Es ist wichtig, die Auswahl der Bücher nicht durchaus ven .Kindern allein zu über¬ lassen, eS muß das Alter, es muß die Auf¬ nahmefähigkeit, die Reife berücksichtigt werden. In erziehlicher Hinsicht läßt sich hier manche Lücke schließen. Ich Pflege träumerischen Kindern, die sich gar zu leicht selbst verlieren, Bücher mit frischer tatkräftiger Handlung in die Hände zu spielen. Sie ahnen natürlich nichts von meiner Absicht, aber ich habe doch .schon mehrmals erfahren, wie hier das Buch mehr vermochte als Eltern und Lehrer. Was von den Kinder» gesagt wird, gilt in ver¬ stärkte!» Maße von den Jugendlichen und selbst den Eltern. Ein kluger Lehrer und Bibliothekar kann durch el» fesselndes überzeugendes Buch Neigungen undLnster verderblicher Art vieleher und wirkungsvoller bekämpfen als durch Persön¬ lichen Zuspruch. — Es ist richtig, daß man jetzt der Tendenzschriftstellerci den Krieg er¬ klärt. Das Wort: Man merkt die Absicht und wird verstimmt, besteht zu Recht. Aber die verschwiegene und darum nur so tiefer dringende Moral, wie sie z. B. unsere deutscheu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/204
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/204>, abgerufen am 17.06.2024.