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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Dahin gehört vor allem die Tatsache, daß der parlamentarische Einfluß der
Sozialdemokratie in keinem Parlamente so groß ist wie im Parlament des
Reiches, da diese Partei mit keinem bestehenden Wahlrecht so ausgezeichnete
Geschäfte macht wie mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Wahlrecht. Je weiter daher der Aufgabenkreis des Reiches gezogen wird, je
mehr es seine Kompetenzen ausdehnt, um so größer wird der Einfluß der Sozial¬
demokratie auf die deutsche Gesetzgebung und die politischen Verhältnisse des
Reiches. Nicht aus nationalen Erwägungen heraus fordert die Sozialdemokratie
z. B. eine reichsgesetzliche Regelung des Schulwesens -- das Schulwesen stellt
einen der wichtigsten Aufgabenkreise der Einzelstaaten dar -- und ein Reichs¬
schulministerium, sondern lediglich aus taktischen Gründen. Taktische Erwägungen
allein bestimmen die unitarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie, und sie
werden sich jedesmal feststellen lassen, sobald sie sich in unitarischem Sinne
betätigt. Wenn die Sozialdemokratie dagegen in unitarischer Richtung wirkende
Bestrebungen, wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch, ablehnt, so sind dafür
ausschließlich ihre politischen und wirtschaftlichen Grundanschauungen, nicht aber
ihr Föderalismus, an dem sie ihrer ganzen Natur nach nicht das geringste
Interesse haben kann, maßgebend.

Ich habe versucht, hier in Kürze die grundsätzliche Stellung der wichtigsten
Parteien unitarischen und föderalistischen Tendenzen gegenüber darzulegen. Zu
berücksichtigen bleibt dabei, daß wir heute eine Partei, die ihr einziges und
größtes Ziel in der weiteren nud völligen Ausgestaltung des Reiches zu einem
Einheitsstaat im eigentlichen Sinne des Wortes sieht, nicht mehr haben. Jede
Partei, auch die nationalliberale, vertritt entsprechend den komplizierten poli¬
tischen und wirtschaftlichen Verhältnissen des modernen Staates viele und vielerlei
Bestrebungen. Einzelne dieser Bestrebungen können zuzeiten so große Bedeutung
erlangen, daß sie andere, selbst entscheidende Grundsätze einer Partei vorüber¬
gehend völlig in den Hintergrund drängen. Wenn z. B. das Zentrum mit
seinem Toleranzantrag für ein Reichsreligionsgesetz -- als solches charakterisiert
sich dieser Antrag in Tat und Wahrheit -- eintritt, so setzt sie sich damit in
Gegensatz zu ihren stark ausgeprägten föderalistischen Tendenzen, da die Religion
und das Kirchenwesen ebenso wie das Schulwesen zu den wichtigsten einzel¬
staatlichen Kompetenzen gehören. In der Tat hat auch Fürst Bülow bei der
Beratung des Toleranzantrages (19W) als wesentlichsten Einwand gegen ihn
das staatsrechtliche Bedenken, daß er in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung
eingreife, geltend gemacht. Derartige Abweichungen von der Regel sind aus
politischen und wirtschaftlichen Rücksichten möglich; sie können aber das gezeichnete
Bild im ganzen nicht verändern.




Dahin gehört vor allem die Tatsache, daß der parlamentarische Einfluß der
Sozialdemokratie in keinem Parlamente so groß ist wie im Parlament des
Reiches, da diese Partei mit keinem bestehenden Wahlrecht so ausgezeichnete
Geschäfte macht wie mit dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Wahlrecht. Je weiter daher der Aufgabenkreis des Reiches gezogen wird, je
mehr es seine Kompetenzen ausdehnt, um so größer wird der Einfluß der Sozial¬
demokratie auf die deutsche Gesetzgebung und die politischen Verhältnisse des
Reiches. Nicht aus nationalen Erwägungen heraus fordert die Sozialdemokratie
z. B. eine reichsgesetzliche Regelung des Schulwesens — das Schulwesen stellt
einen der wichtigsten Aufgabenkreise der Einzelstaaten dar — und ein Reichs¬
schulministerium, sondern lediglich aus taktischen Gründen. Taktische Erwägungen
allein bestimmen die unitarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie, und sie
werden sich jedesmal feststellen lassen, sobald sie sich in unitarischem Sinne
betätigt. Wenn die Sozialdemokratie dagegen in unitarischer Richtung wirkende
Bestrebungen, wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch, ablehnt, so sind dafür
ausschließlich ihre politischen und wirtschaftlichen Grundanschauungen, nicht aber
ihr Föderalismus, an dem sie ihrer ganzen Natur nach nicht das geringste
Interesse haben kann, maßgebend.

Ich habe versucht, hier in Kürze die grundsätzliche Stellung der wichtigsten
Parteien unitarischen und föderalistischen Tendenzen gegenüber darzulegen. Zu
berücksichtigen bleibt dabei, daß wir heute eine Partei, die ihr einziges und
größtes Ziel in der weiteren nud völligen Ausgestaltung des Reiches zu einem
Einheitsstaat im eigentlichen Sinne des Wortes sieht, nicht mehr haben. Jede
Partei, auch die nationalliberale, vertritt entsprechend den komplizierten poli¬
tischen und wirtschaftlichen Verhältnissen des modernen Staates viele und vielerlei
Bestrebungen. Einzelne dieser Bestrebungen können zuzeiten so große Bedeutung
erlangen, daß sie andere, selbst entscheidende Grundsätze einer Partei vorüber¬
gehend völlig in den Hintergrund drängen. Wenn z. B. das Zentrum mit
seinem Toleranzantrag für ein Reichsreligionsgesetz — als solches charakterisiert
sich dieser Antrag in Tat und Wahrheit — eintritt, so setzt sie sich damit in
Gegensatz zu ihren stark ausgeprägten föderalistischen Tendenzen, da die Religion
und das Kirchenwesen ebenso wie das Schulwesen zu den wichtigsten einzel¬
staatlichen Kompetenzen gehören. In der Tat hat auch Fürst Bülow bei der
Beratung des Toleranzantrages (19W) als wesentlichsten Einwand gegen ihn
das staatsrechtliche Bedenken, daß er in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung
eingreife, geltend gemacht. Derartige Abweichungen von der Regel sind aus
politischen und wirtschaftlichen Rücksichten möglich; sie können aber das gezeichnete
Bild im ganzen nicht verändern.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/22>, abgerufen am 17.06.2024.