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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Parlament und wcchlprüfnngsjustiz

richterliche Handlung zu behandeln, ist nicht mehr nur staatsrechtliche Theorie,
sondern schon in bemerkenswerten Umfange "Praxis" geworden. Die Erkenntnis
von der tiefen Ungerechtigkeit des gegenwärtig noch in den meisten Staaten
geltenden Rechtszustandes dämmert auf.

Das Wort des englischen Verfassungsrechts - l'Ke KinZ cannot alö wronZ!
hat man mit Unrecht auf das Parlament übertragen. Das Parlament kann
Unrecht tun, schweres Unrecht, und es fehlt dann der verantwortliche Minister,
der das Staatsunrecht, das (an sich) auch der König begehen kann, zu vertreten
hat. Ist schon im allgemeinen die Gefahr schweren parlamentarischen Unrechts
mit der Richtertätigkeit des Parlaments verbunden (mag es nun als Oberster
Gerichtshof tätig sein, wie das ttouZe ok I^ora8, oder als Staatsgerichtshof,
wie die französische Lonvention Nationale im Januar 1793), so wächst die
Gefahr da, wo es "in eigener Sache" zu richten hat. Und das ist der Fall
bei den parlamentarischen Wahlprüfungen. Bei den Parteifreunden und Partei¬
gegnern des "protestierten" Abgeordneten liegen alle jene Gründe vor, die in
sämtlichen Zivil- und Strafprozeßordnungen der Kulturstaaten entweder als
"Ausschließungsgründe" oder als "Ablehnungsgründe" (wegen "Befangenheit")
gelten. In einer Zeit, die an das Dogma von der parlamentarischen Unfehl¬
barkeit (die psychologisch erklärliche Reaktion gegen das staatsrechtliche Dogma
von der Unfehlbarkeit des absoluten Königs!) glaubte, lag die Erkenntnis von
der tiefen grundsätzlichen Ungerechtigkeit der parlamentarischen Wahlprüfungs¬
justiz noch unter der "Bewußtseinsschwelle".

Heute aber hieße es Zeitungen nach Berlin tragen, wollte man die bekannten
Gründe, die eine gerechte Wahlprüfungsjustiz des Parlaments (gleichviel welche
Partei oder Parteien die Majorität haben) fast unmöglich machen, wiederholen oder
durch neue vermehren. Alle Abgeordneten aller Parteien, mögen sie konservativ
oder liberal sein, dem Zentrum oder der Sozialdemokratie angehören, leitet
gleichermaßen das Streben, die Wahlproteste ihrer Gesinnungsgenossen möglichst
als begründet zu berücksichtigen, und die ihrer Gegner möglichst als unbegründet
auszuschalten. Und in neuester Zeit scheint denn auch auf dem Kontinent die
Ahnung aufzudämmern, daß parlamentarisches Unrecht ebensowohl möglich ist
wie polizeiliches, und daß gegen jenes ebenso wie gegen dieses der zuverlässigste
und größtmögliche Rechtsschutz, der im Rechtsstaat erreichbar ist, verlangt werden
darf und muß -- die Entscheidung des Richters! Klare sich diese Ahnung bis
zu Heller, allgemeiner Erkenntnis, dann wird der Ruf nach unabhängiger
Wahlprüfungsjustiz immer lauter und häufiger und unterschiedslos von allen
Parteien erhoben werden!




Parlament und wcchlprüfnngsjustiz

richterliche Handlung zu behandeln, ist nicht mehr nur staatsrechtliche Theorie,
sondern schon in bemerkenswerten Umfange „Praxis" geworden. Die Erkenntnis
von der tiefen Ungerechtigkeit des gegenwärtig noch in den meisten Staaten
geltenden Rechtszustandes dämmert auf.

Das Wort des englischen Verfassungsrechts - l'Ke KinZ cannot alö wronZ!
hat man mit Unrecht auf das Parlament übertragen. Das Parlament kann
Unrecht tun, schweres Unrecht, und es fehlt dann der verantwortliche Minister,
der das Staatsunrecht, das (an sich) auch der König begehen kann, zu vertreten
hat. Ist schon im allgemeinen die Gefahr schweren parlamentarischen Unrechts
mit der Richtertätigkeit des Parlaments verbunden (mag es nun als Oberster
Gerichtshof tätig sein, wie das ttouZe ok I^ora8, oder als Staatsgerichtshof,
wie die französische Lonvention Nationale im Januar 1793), so wächst die
Gefahr da, wo es „in eigener Sache" zu richten hat. Und das ist der Fall
bei den parlamentarischen Wahlprüfungen. Bei den Parteifreunden und Partei¬
gegnern des „protestierten" Abgeordneten liegen alle jene Gründe vor, die in
sämtlichen Zivil- und Strafprozeßordnungen der Kulturstaaten entweder als
„Ausschließungsgründe" oder als „Ablehnungsgründe" (wegen „Befangenheit")
gelten. In einer Zeit, die an das Dogma von der parlamentarischen Unfehl¬
barkeit (die psychologisch erklärliche Reaktion gegen das staatsrechtliche Dogma
von der Unfehlbarkeit des absoluten Königs!) glaubte, lag die Erkenntnis von
der tiefen grundsätzlichen Ungerechtigkeit der parlamentarischen Wahlprüfungs¬
justiz noch unter der „Bewußtseinsschwelle".

Heute aber hieße es Zeitungen nach Berlin tragen, wollte man die bekannten
Gründe, die eine gerechte Wahlprüfungsjustiz des Parlaments (gleichviel welche
Partei oder Parteien die Majorität haben) fast unmöglich machen, wiederholen oder
durch neue vermehren. Alle Abgeordneten aller Parteien, mögen sie konservativ
oder liberal sein, dem Zentrum oder der Sozialdemokratie angehören, leitet
gleichermaßen das Streben, die Wahlproteste ihrer Gesinnungsgenossen möglichst
als begründet zu berücksichtigen, und die ihrer Gegner möglichst als unbegründet
auszuschalten. Und in neuester Zeit scheint denn auch auf dem Kontinent die
Ahnung aufzudämmern, daß parlamentarisches Unrecht ebensowohl möglich ist
wie polizeiliches, und daß gegen jenes ebenso wie gegen dieses der zuverlässigste
und größtmögliche Rechtsschutz, der im Rechtsstaat erreichbar ist, verlangt werden
darf und muß — die Entscheidung des Richters! Klare sich diese Ahnung bis
zu Heller, allgemeiner Erkenntnis, dann wird der Ruf nach unabhängiger
Wahlprüfungsjustiz immer lauter und häufiger und unterschiedslos von allen
Parteien erhoben werden!




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[0222] Parlament und wcchlprüfnngsjustiz richterliche Handlung zu behandeln, ist nicht mehr nur staatsrechtliche Theorie, sondern schon in bemerkenswerten Umfange „Praxis" geworden. Die Erkenntnis von der tiefen Ungerechtigkeit des gegenwärtig noch in den meisten Staaten geltenden Rechtszustandes dämmert auf. Das Wort des englischen Verfassungsrechts - l'Ke KinZ cannot alö wronZ! hat man mit Unrecht auf das Parlament übertragen. Das Parlament kann Unrecht tun, schweres Unrecht, und es fehlt dann der verantwortliche Minister, der das Staatsunrecht, das (an sich) auch der König begehen kann, zu vertreten hat. Ist schon im allgemeinen die Gefahr schweren parlamentarischen Unrechts mit der Richtertätigkeit des Parlaments verbunden (mag es nun als Oberster Gerichtshof tätig sein, wie das ttouZe ok I^ora8, oder als Staatsgerichtshof, wie die französische Lonvention Nationale im Januar 1793), so wächst die Gefahr da, wo es „in eigener Sache" zu richten hat. Und das ist der Fall bei den parlamentarischen Wahlprüfungen. Bei den Parteifreunden und Partei¬ gegnern des „protestierten" Abgeordneten liegen alle jene Gründe vor, die in sämtlichen Zivil- und Strafprozeßordnungen der Kulturstaaten entweder als „Ausschließungsgründe" oder als „Ablehnungsgründe" (wegen „Befangenheit") gelten. In einer Zeit, die an das Dogma von der parlamentarischen Unfehl¬ barkeit (die psychologisch erklärliche Reaktion gegen das staatsrechtliche Dogma von der Unfehlbarkeit des absoluten Königs!) glaubte, lag die Erkenntnis von der tiefen grundsätzlichen Ungerechtigkeit der parlamentarischen Wahlprüfungs¬ justiz noch unter der „Bewußtseinsschwelle". Heute aber hieße es Zeitungen nach Berlin tragen, wollte man die bekannten Gründe, die eine gerechte Wahlprüfungsjustiz des Parlaments (gleichviel welche Partei oder Parteien die Majorität haben) fast unmöglich machen, wiederholen oder durch neue vermehren. Alle Abgeordneten aller Parteien, mögen sie konservativ oder liberal sein, dem Zentrum oder der Sozialdemokratie angehören, leitet gleichermaßen das Streben, die Wahlproteste ihrer Gesinnungsgenossen möglichst als begründet zu berücksichtigen, und die ihrer Gegner möglichst als unbegründet auszuschalten. Und in neuester Zeit scheint denn auch auf dem Kontinent die Ahnung aufzudämmern, daß parlamentarisches Unrecht ebensowohl möglich ist wie polizeiliches, und daß gegen jenes ebenso wie gegen dieses der zuverlässigste und größtmögliche Rechtsschutz, der im Rechtsstaat erreichbar ist, verlangt werden darf und muß — die Entscheidung des Richters! Klare sich diese Ahnung bis zu Heller, allgemeiner Erkenntnis, dann wird der Ruf nach unabhängiger Wahlprüfungsjustiz immer lauter und häufiger und unterschiedslos von allen Parteien erhoben werden!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/222>, abgerufen am 17.06.2024.