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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

hier nicht berührt werden, auch nicht wie viele Subjekte z. B. dem Objekt
Schulorgamsation ab und an zum Opfer fallen. Aber mit dieser Erwähnung
stehen wir doch schon unserem Thema näher. Ich möchte nämlich behaupten:
Auf keinem Gebiet ist die Aufopferung der Selbständigkeit des Subjekts zugunsten
des Objekts unheilvoller als auf dem der geistigen Tätigkeit.

Ich darf an die bekannte Tatsache anknüpfen, daß in der modernen geistigen
Arbeit auf vielen Gebieten die Sammlung des Stoffes feine Verarbeitung über¬
wiegt. In den historisch-literarischen Wissenschaften häufen sich von Tag zu
Tag neue Quellen, neue Ausgaben alter Schrift- und Kunstwerke, deren Text¬
herstellung und Kommentar eine Masse von Arbeit und Gelehrsamkeit erfordert
hat. Es ist dies eine Konsequenz der wissenschaftlichen Arbeitsmethode, die
durch eingehendste Einzeluntersuchung zur Erkenntnis des Ganzen kommen möchte.
Es hat aber oft den Anschein, als ob der Blick aufs Ganze bei diesen Arbeiten
ganz verloren gegangen wäre, als ob die Masse des Einzelstoffes nur zusammen¬
getragen sei, um wieder Spezialuntersuchungen zu ermöglichen. Das wissen¬
schaftliche Auge hat sich dann derart auf die Kleinheit eingestellt, daß es sich
dem weiteren Blick in große Räume nicht mehr akkommodiert.

Die Leute, die mit dieser Akkommodationsstörung des inneren Auges behaftet
sind, bilden bereits einen beträchtlichen Teil unter den Arbeitern der Wissen¬
schaft. Schon blicken viele mißtrauisch auf den einzelnen, der es etwa
wagt, ein großes Wissenschaftsgebiet selbständig literarisch zu gestalten; er
kann doch nicht in gleichem Maße "Fachmann", d. h. Spezialist auf allen Teil¬
gebieten sein, die sein Bau berührt; manche halten ihn für unwissenschaftlich,
weil er ein Baumeister ist und kein Handlanger, weil er vielleicht gar das
regelrechte Zuhaueu der Backsteine nicht so aus dem ff versteht wie die vielen
Kleineren. Aber freilich, es muß ja Handlanger geben, auch Kärrner, die den
Stoff herbeischaffen, und wir wollen ihnen keinen Vorwurf machen, wenn sie
diese Hilfsarbeit mit Stolz, aber ohne Selbstüberschätzung leisten.

Wir wenden uns vielmehr gegen die, bei denen das Herbeischaffen von
Stoff zum Selbstzweck wird, bei denen diese Tätigkeit mit wissenschaftlicher
Tätigkeit überhaupt gleichgesetzt wird. Wir möchten zu der Erwägung auf¬
fordern, ob im einzelnen Falle der Wert des Objekts die Unterordnung des
Subjekts noch lohnt.

An der Hand moderner Bestrebungen auf dem Gebiete der Wissenschaft
sollen im folgenden die beiden Seiten des gerügten Mißstandes gezeigt werden,
nämlich die Überschätzung des Stoffes, also des Objekts, und die Unterschätzung
der wissenschaftlichen Persönlichkeit, des Subjekts.--

Die Leser der Grenzboten kennen durch den orientierender Aufsatz von
Kekule von Stradonitz (Jahrg. 1910, Heft 23) die Bemühungen, die man neuer¬
dings macht, um eine vollständige Sammlung der deutschen Zeitungen
herzustellen. Seit dem aufsehenerregenden Vortrag von Martin spähn im
Jahre 1908 ist eine ganze Literatur von Artikeln erschienen, die sich über die


Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

hier nicht berührt werden, auch nicht wie viele Subjekte z. B. dem Objekt
Schulorgamsation ab und an zum Opfer fallen. Aber mit dieser Erwähnung
stehen wir doch schon unserem Thema näher. Ich möchte nämlich behaupten:
Auf keinem Gebiet ist die Aufopferung der Selbständigkeit des Subjekts zugunsten
des Objekts unheilvoller als auf dem der geistigen Tätigkeit.

Ich darf an die bekannte Tatsache anknüpfen, daß in der modernen geistigen
Arbeit auf vielen Gebieten die Sammlung des Stoffes feine Verarbeitung über¬
wiegt. In den historisch-literarischen Wissenschaften häufen sich von Tag zu
Tag neue Quellen, neue Ausgaben alter Schrift- und Kunstwerke, deren Text¬
herstellung und Kommentar eine Masse von Arbeit und Gelehrsamkeit erfordert
hat. Es ist dies eine Konsequenz der wissenschaftlichen Arbeitsmethode, die
durch eingehendste Einzeluntersuchung zur Erkenntnis des Ganzen kommen möchte.
Es hat aber oft den Anschein, als ob der Blick aufs Ganze bei diesen Arbeiten
ganz verloren gegangen wäre, als ob die Masse des Einzelstoffes nur zusammen¬
getragen sei, um wieder Spezialuntersuchungen zu ermöglichen. Das wissen¬
schaftliche Auge hat sich dann derart auf die Kleinheit eingestellt, daß es sich
dem weiteren Blick in große Räume nicht mehr akkommodiert.

Die Leute, die mit dieser Akkommodationsstörung des inneren Auges behaftet
sind, bilden bereits einen beträchtlichen Teil unter den Arbeitern der Wissen¬
schaft. Schon blicken viele mißtrauisch auf den einzelnen, der es etwa
wagt, ein großes Wissenschaftsgebiet selbständig literarisch zu gestalten; er
kann doch nicht in gleichem Maße „Fachmann", d. h. Spezialist auf allen Teil¬
gebieten sein, die sein Bau berührt; manche halten ihn für unwissenschaftlich,
weil er ein Baumeister ist und kein Handlanger, weil er vielleicht gar das
regelrechte Zuhaueu der Backsteine nicht so aus dem ff versteht wie die vielen
Kleineren. Aber freilich, es muß ja Handlanger geben, auch Kärrner, die den
Stoff herbeischaffen, und wir wollen ihnen keinen Vorwurf machen, wenn sie
diese Hilfsarbeit mit Stolz, aber ohne Selbstüberschätzung leisten.

Wir wenden uns vielmehr gegen die, bei denen das Herbeischaffen von
Stoff zum Selbstzweck wird, bei denen diese Tätigkeit mit wissenschaftlicher
Tätigkeit überhaupt gleichgesetzt wird. Wir möchten zu der Erwägung auf¬
fordern, ob im einzelnen Falle der Wert des Objekts die Unterordnung des
Subjekts noch lohnt.

An der Hand moderner Bestrebungen auf dem Gebiete der Wissenschaft
sollen im folgenden die beiden Seiten des gerügten Mißstandes gezeigt werden,
nämlich die Überschätzung des Stoffes, also des Objekts, und die Unterschätzung
der wissenschaftlichen Persönlichkeit, des Subjekts.--

Die Leser der Grenzboten kennen durch den orientierender Aufsatz von
Kekule von Stradonitz (Jahrg. 1910, Heft 23) die Bemühungen, die man neuer¬
dings macht, um eine vollständige Sammlung der deutschen Zeitungen
herzustellen. Seit dem aufsehenerregenden Vortrag von Martin spähn im
Jahre 1908 ist eine ganze Literatur von Artikeln erschienen, die sich über die


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[0024] Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft hier nicht berührt werden, auch nicht wie viele Subjekte z. B. dem Objekt Schulorgamsation ab und an zum Opfer fallen. Aber mit dieser Erwähnung stehen wir doch schon unserem Thema näher. Ich möchte nämlich behaupten: Auf keinem Gebiet ist die Aufopferung der Selbständigkeit des Subjekts zugunsten des Objekts unheilvoller als auf dem der geistigen Tätigkeit. Ich darf an die bekannte Tatsache anknüpfen, daß in der modernen geistigen Arbeit auf vielen Gebieten die Sammlung des Stoffes feine Verarbeitung über¬ wiegt. In den historisch-literarischen Wissenschaften häufen sich von Tag zu Tag neue Quellen, neue Ausgaben alter Schrift- und Kunstwerke, deren Text¬ herstellung und Kommentar eine Masse von Arbeit und Gelehrsamkeit erfordert hat. Es ist dies eine Konsequenz der wissenschaftlichen Arbeitsmethode, die durch eingehendste Einzeluntersuchung zur Erkenntnis des Ganzen kommen möchte. Es hat aber oft den Anschein, als ob der Blick aufs Ganze bei diesen Arbeiten ganz verloren gegangen wäre, als ob die Masse des Einzelstoffes nur zusammen¬ getragen sei, um wieder Spezialuntersuchungen zu ermöglichen. Das wissen¬ schaftliche Auge hat sich dann derart auf die Kleinheit eingestellt, daß es sich dem weiteren Blick in große Räume nicht mehr akkommodiert. Die Leute, die mit dieser Akkommodationsstörung des inneren Auges behaftet sind, bilden bereits einen beträchtlichen Teil unter den Arbeitern der Wissen¬ schaft. Schon blicken viele mißtrauisch auf den einzelnen, der es etwa wagt, ein großes Wissenschaftsgebiet selbständig literarisch zu gestalten; er kann doch nicht in gleichem Maße „Fachmann", d. h. Spezialist auf allen Teil¬ gebieten sein, die sein Bau berührt; manche halten ihn für unwissenschaftlich, weil er ein Baumeister ist und kein Handlanger, weil er vielleicht gar das regelrechte Zuhaueu der Backsteine nicht so aus dem ff versteht wie die vielen Kleineren. Aber freilich, es muß ja Handlanger geben, auch Kärrner, die den Stoff herbeischaffen, und wir wollen ihnen keinen Vorwurf machen, wenn sie diese Hilfsarbeit mit Stolz, aber ohne Selbstüberschätzung leisten. Wir wenden uns vielmehr gegen die, bei denen das Herbeischaffen von Stoff zum Selbstzweck wird, bei denen diese Tätigkeit mit wissenschaftlicher Tätigkeit überhaupt gleichgesetzt wird. Wir möchten zu der Erwägung auf¬ fordern, ob im einzelnen Falle der Wert des Objekts die Unterordnung des Subjekts noch lohnt. An der Hand moderner Bestrebungen auf dem Gebiete der Wissenschaft sollen im folgenden die beiden Seiten des gerügten Mißstandes gezeigt werden, nämlich die Überschätzung des Stoffes, also des Objekts, und die Unterschätzung der wissenschaftlichen Persönlichkeit, des Subjekts.-- Die Leser der Grenzboten kennen durch den orientierender Aufsatz von Kekule von Stradonitz (Jahrg. 1910, Heft 23) die Bemühungen, die man neuer¬ dings macht, um eine vollständige Sammlung der deutschen Zeitungen herzustellen. Seit dem aufsehenerregenden Vortrag von Martin spähn im Jahre 1908 ist eine ganze Literatur von Artikeln erschienen, die sich über die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/24>, abgerufen am 17.06.2024.