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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Anadoli' ^'rcmtV

mit sehr ausgesprochenen Grundsätzen. Nur France hat die Treue gehalten
und von dem Renan der letzten Phase, dem Verfasser der philosophischen
Dramen, dem Redner und Essayisten der I^euilles elütecliLLZ, jenen liebens¬
würdig sentimentalen Skeptizismus geerbt, dessen süßes Gift empfängliche Gemüter
unmerklich lahmt und zerstört. Aber er hat dieses Genre zu höchster Kunst
ausgebildet, während Renan auch hier ein Dilettant blieb und im Grunde dem
Ästhetentum sehr fern stand.

Dies führt uns zur zweiten Quelle, aus der France in seiner Entwicklungs¬
zeit mit vollen Zügen trank: zu den Parnassiens.

Mit dreiundzwanzig Jahren gelangte France in den Kreis des Verlegers
Lemerre und seiner Parnassiens. Hier brachte er der lyrischen Muse das, wie
es scheint, in jenen Jahren unvermeidliche Opfer. Man lobte sein feines
Empfinden, sein klug verwertetes Wissen, seine harmonische Natur, vermißte aber
den lyrischen Schwung und tadelte seine vornehme Zurückhaltung. Er brachte
es aber dann doch zu revolutionären Versen, die den ohnehin schon übel
angeschriebenen Verleger der Quelle rince zum Eingehenlassen seines Blattes
zwangen. Weder jene Reserve noch dieser Enthusiasmus gewannen France
die Sympathien Lecomte de Lisles, des geistigen Führers der parnassischen
Bewegung. Ja, es kam später zum offenkundiger Bruch, bei dein Lecomte de
Liste keine vornehme Rolle spielte, ohne daß France seine Mitschuld leugnen
konnte.

In verschiedenen Stellungen verblieb France nur kurz. So war er ein
Jahr lang der Redakteur des Lligsssm- biblioZMplie (1867), dem er einen
weniger trockenen Charakter gab, indem er neben Rezensionen auch Poetisches
und sonst Fiktives erscheinen ließ. Er soll auch anonym um diese Zeit manches
geschrieben haben. Lemerre fesselte ihn dann ein paar Jahre als Lektor an
sein Haus; aber die an sich schon nicht einträgliche Stelle wurde ihm bald durch
den Neid und die Intrigen derer verleidet, die unter seiner Kritik zu leiden
hatten. Und es verlangte France nach einer Stellung, in der man nicht berufs
mäßig anderen wehetun mußte. So kam er 1874 als Gehilfe an die Senats¬
bibliothek; aber hier machte ihm Lecomte de Liste als Vorgesetzter das Leben
so sauer, daß seines Bleibens nicht lange war. Seitdem hat France unseres
Wissens keine Stellung mehr bekleidet; er hatte es auch bald nicht mehr nötig,
denn sein Name verschaffte sich allmählich Geltung, so daß er vom Ertrage seiner
Feder leben konnte.

"l.e Lrime cle Sylvestre I5omiar6" war das erste Meisterwerk unseres
Schriftstellers. Viele sind geneigt, es heute noch "das Meisterwerk" zu nennen,
weil es die weiteste Verbreitung fand und wirklich populär wurde. Aber es
stellt doch nur eine Seite der Begabung seines Verfassers dar: die liebens¬
würdige, schalkhafte Ironie mit dem warmen Herzenston, der die Menge ergriff.
Der alte Bonnard ist ein Prototyp des später so beliebten Bergeret. Noch
fehlt ihm die philosophische Tiefe, die überlegene Lebensweisheit, aber er hat


Grenzbown II 1912 SV
Anadoli' ^'rcmtV

mit sehr ausgesprochenen Grundsätzen. Nur France hat die Treue gehalten
und von dem Renan der letzten Phase, dem Verfasser der philosophischen
Dramen, dem Redner und Essayisten der I^euilles elütecliLLZ, jenen liebens¬
würdig sentimentalen Skeptizismus geerbt, dessen süßes Gift empfängliche Gemüter
unmerklich lahmt und zerstört. Aber er hat dieses Genre zu höchster Kunst
ausgebildet, während Renan auch hier ein Dilettant blieb und im Grunde dem
Ästhetentum sehr fern stand.

Dies führt uns zur zweiten Quelle, aus der France in seiner Entwicklungs¬
zeit mit vollen Zügen trank: zu den Parnassiens.

Mit dreiundzwanzig Jahren gelangte France in den Kreis des Verlegers
Lemerre und seiner Parnassiens. Hier brachte er der lyrischen Muse das, wie
es scheint, in jenen Jahren unvermeidliche Opfer. Man lobte sein feines
Empfinden, sein klug verwertetes Wissen, seine harmonische Natur, vermißte aber
den lyrischen Schwung und tadelte seine vornehme Zurückhaltung. Er brachte
es aber dann doch zu revolutionären Versen, die den ohnehin schon übel
angeschriebenen Verleger der Quelle rince zum Eingehenlassen seines Blattes
zwangen. Weder jene Reserve noch dieser Enthusiasmus gewannen France
die Sympathien Lecomte de Lisles, des geistigen Führers der parnassischen
Bewegung. Ja, es kam später zum offenkundiger Bruch, bei dein Lecomte de
Liste keine vornehme Rolle spielte, ohne daß France seine Mitschuld leugnen
konnte.

In verschiedenen Stellungen verblieb France nur kurz. So war er ein
Jahr lang der Redakteur des Lligsssm- biblioZMplie (1867), dem er einen
weniger trockenen Charakter gab, indem er neben Rezensionen auch Poetisches
und sonst Fiktives erscheinen ließ. Er soll auch anonym um diese Zeit manches
geschrieben haben. Lemerre fesselte ihn dann ein paar Jahre als Lektor an
sein Haus; aber die an sich schon nicht einträgliche Stelle wurde ihm bald durch
den Neid und die Intrigen derer verleidet, die unter seiner Kritik zu leiden
hatten. Und es verlangte France nach einer Stellung, in der man nicht berufs
mäßig anderen wehetun mußte. So kam er 1874 als Gehilfe an die Senats¬
bibliothek; aber hier machte ihm Lecomte de Liste als Vorgesetzter das Leben
so sauer, daß seines Bleibens nicht lange war. Seitdem hat France unseres
Wissens keine Stellung mehr bekleidet; er hatte es auch bald nicht mehr nötig,
denn sein Name verschaffte sich allmählich Geltung, so daß er vom Ertrage seiner
Feder leben konnte.

„l.e Lrime cle Sylvestre I5omiar6" war das erste Meisterwerk unseres
Schriftstellers. Viele sind geneigt, es heute noch „das Meisterwerk" zu nennen,
weil es die weiteste Verbreitung fand und wirklich populär wurde. Aber es
stellt doch nur eine Seite der Begabung seines Verfassers dar: die liebens¬
würdige, schalkhafte Ironie mit dem warmen Herzenston, der die Menge ergriff.
Der alte Bonnard ist ein Prototyp des später so beliebten Bergeret. Noch
fehlt ihm die philosophische Tiefe, die überlegene Lebensweisheit, aber er hat


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[0245] Anadoli' ^'rcmtV mit sehr ausgesprochenen Grundsätzen. Nur France hat die Treue gehalten und von dem Renan der letzten Phase, dem Verfasser der philosophischen Dramen, dem Redner und Essayisten der I^euilles elütecliLLZ, jenen liebens¬ würdig sentimentalen Skeptizismus geerbt, dessen süßes Gift empfängliche Gemüter unmerklich lahmt und zerstört. Aber er hat dieses Genre zu höchster Kunst ausgebildet, während Renan auch hier ein Dilettant blieb und im Grunde dem Ästhetentum sehr fern stand. Dies führt uns zur zweiten Quelle, aus der France in seiner Entwicklungs¬ zeit mit vollen Zügen trank: zu den Parnassiens. Mit dreiundzwanzig Jahren gelangte France in den Kreis des Verlegers Lemerre und seiner Parnassiens. Hier brachte er der lyrischen Muse das, wie es scheint, in jenen Jahren unvermeidliche Opfer. Man lobte sein feines Empfinden, sein klug verwertetes Wissen, seine harmonische Natur, vermißte aber den lyrischen Schwung und tadelte seine vornehme Zurückhaltung. Er brachte es aber dann doch zu revolutionären Versen, die den ohnehin schon übel angeschriebenen Verleger der Quelle rince zum Eingehenlassen seines Blattes zwangen. Weder jene Reserve noch dieser Enthusiasmus gewannen France die Sympathien Lecomte de Lisles, des geistigen Führers der parnassischen Bewegung. Ja, es kam später zum offenkundiger Bruch, bei dein Lecomte de Liste keine vornehme Rolle spielte, ohne daß France seine Mitschuld leugnen konnte. In verschiedenen Stellungen verblieb France nur kurz. So war er ein Jahr lang der Redakteur des Lligsssm- biblioZMplie (1867), dem er einen weniger trockenen Charakter gab, indem er neben Rezensionen auch Poetisches und sonst Fiktives erscheinen ließ. Er soll auch anonym um diese Zeit manches geschrieben haben. Lemerre fesselte ihn dann ein paar Jahre als Lektor an sein Haus; aber die an sich schon nicht einträgliche Stelle wurde ihm bald durch den Neid und die Intrigen derer verleidet, die unter seiner Kritik zu leiden hatten. Und es verlangte France nach einer Stellung, in der man nicht berufs mäßig anderen wehetun mußte. So kam er 1874 als Gehilfe an die Senats¬ bibliothek; aber hier machte ihm Lecomte de Liste als Vorgesetzter das Leben so sauer, daß seines Bleibens nicht lange war. Seitdem hat France unseres Wissens keine Stellung mehr bekleidet; er hatte es auch bald nicht mehr nötig, denn sein Name verschaffte sich allmählich Geltung, so daß er vom Ertrage seiner Feder leben konnte. „l.e Lrime cle Sylvestre I5omiar6" war das erste Meisterwerk unseres Schriftstellers. Viele sind geneigt, es heute noch „das Meisterwerk" zu nennen, weil es die weiteste Verbreitung fand und wirklich populär wurde. Aber es stellt doch nur eine Seite der Begabung seines Verfassers dar: die liebens¬ würdige, schalkhafte Ironie mit dem warmen Herzenston, der die Menge ergriff. Der alte Bonnard ist ein Prototyp des später so beliebten Bergeret. Noch fehlt ihm die philosophische Tiefe, die überlegene Lebensweisheit, aber er hat Grenzbown II 1912 SV

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/245>, abgerufen am 17.06.2024.