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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Englands Achillesferse

alle Breiten und Himmelsstriche sich erstreckendes Kolonialreich wie das britische
nach derselben Weise behandelt werden könne wie die nur durch künstliche
Grenzen getrennten, doch denselben Wirtschaftsbedingungen unterworfenen Staaten,
die im Deutschen Reiche zusammengefaßt sind. Ebensowenig untersucht man ob
die sonstigen Verhältnisse des Erwerbslebens so gleichartig sind, daß ähnliche
Mittel auch ähnlich wirken müssen.

Der imperialistische Gedanke des altbritischen Zollvereins soll hier nicht
weiter verfolgt werden, unsere Erörterung soll sich vielmehr auf die Wirkung
der geforderten Zollreform auf Großbritannien beschränken. Als Joseph Cham-
berlain zuerst die Fahne des Schutzzolls erhob, war nur die Rede vom Schutze
der Industrie gegen die angebliche Überflutung mit fremden Erzeugnissen, die
dem britischen Arbeiter das Brot entzöge, während die Fremden britische Waren
von ihrem Markte fernhielten. Ob die britische Industrie wirklich so schutz¬
bedürftig ist, könnte füglich bezweifelt werden angesichts der großen Ausfuhr,
die gerade seit Chamberlains Angstruf mächtig gestiegen ist, anstatt zurückzugehen.
Großbritannien ist immer noch allen anderen Ländern in der Gütererzeugung
überlegen und ein Ausschluß britischer Waren ist jedenfalls für das Deutsche
Reich nicht nachzuweisen. Je wohlhabender Deutschland wird, um so mehr
schwillt sein Verbrauch britischer Erzeugnisse an. Als Entgelt führt es natürlich
deutsche Waren nach Großbritannien aus; denn umsonst gibt auch der Brite
nichts her und im Grunde ist aller Handel doch nur Güteraustausch, um nicht
zu sagen Tauschhandel. Als unmittelbarer Kunde Großbritanniens steht Deutschland
an zweiter Stelle, übertroffen nur von Indien; bei Berücksichtigung der über die
Niederlande und Belgien kommenden Einfuhr läßt es aber auch Indien
hinter sich.

Nun, die Frage, ob die britische Industrie schutzbedürftig ist, haben die
Briten allein zu entscheiden. Damals hatte Chamberlain sich ausdrücklich gegen
die Absicht verwahrt, Zölle auch auf Lebensmittel zu legen, ohne deren Massen¬
einfuhr das britische Volk verhungern müßte. Nicht weniger als fünf Sechstel
aller Lebensmittel müssen von außen kommen. Aus diesem Grunde erklärt sich
auch die Sorge, die den Briten befällt bei dem bloßen Gedanken, eine andere
Macht könnte zur See mächtig genug sein, die regelmäßige Zufuhr abzuschneiden,
oder auch nur auf kurze Zeit zu stören.

Wenn ein Zweig der britischen Wirtschaft schutzbedürftig ist, so ist es der
Landbau, der schon lange seine Aufgabe nicht mehr erfüllt und stetig zurückgeht.
Während in den 70er Jahren noch 3190000 Acker (2^2 Acker ^ 1 Hektar) mit
Weizen bebaut wurden, waren es 1908 nur noch 1663000, also nur wenig
mehr als die Hälfte und ein ähnlicher Rückgang zeigt sich in allen anderen
Zweigen; nur bei Hafer beträgt er bloß 1000 Acker. Der Viehstand weist zwar
im letzten Menschenalter eine Vermehrung auf, aber die Vermehrung hat nicht
Schritt gehalten mit dem Wachstum der Bevölkerung. Statt 9995000 Stück
Rindvieh im Jahre 1876 zählte man 1908 11738000, 17,4 v.H. mehr, während


Englands Achillesferse

alle Breiten und Himmelsstriche sich erstreckendes Kolonialreich wie das britische
nach derselben Weise behandelt werden könne wie die nur durch künstliche
Grenzen getrennten, doch denselben Wirtschaftsbedingungen unterworfenen Staaten,
die im Deutschen Reiche zusammengefaßt sind. Ebensowenig untersucht man ob
die sonstigen Verhältnisse des Erwerbslebens so gleichartig sind, daß ähnliche
Mittel auch ähnlich wirken müssen.

Der imperialistische Gedanke des altbritischen Zollvereins soll hier nicht
weiter verfolgt werden, unsere Erörterung soll sich vielmehr auf die Wirkung
der geforderten Zollreform auf Großbritannien beschränken. Als Joseph Cham-
berlain zuerst die Fahne des Schutzzolls erhob, war nur die Rede vom Schutze
der Industrie gegen die angebliche Überflutung mit fremden Erzeugnissen, die
dem britischen Arbeiter das Brot entzöge, während die Fremden britische Waren
von ihrem Markte fernhielten. Ob die britische Industrie wirklich so schutz¬
bedürftig ist, könnte füglich bezweifelt werden angesichts der großen Ausfuhr,
die gerade seit Chamberlains Angstruf mächtig gestiegen ist, anstatt zurückzugehen.
Großbritannien ist immer noch allen anderen Ländern in der Gütererzeugung
überlegen und ein Ausschluß britischer Waren ist jedenfalls für das Deutsche
Reich nicht nachzuweisen. Je wohlhabender Deutschland wird, um so mehr
schwillt sein Verbrauch britischer Erzeugnisse an. Als Entgelt führt es natürlich
deutsche Waren nach Großbritannien aus; denn umsonst gibt auch der Brite
nichts her und im Grunde ist aller Handel doch nur Güteraustausch, um nicht
zu sagen Tauschhandel. Als unmittelbarer Kunde Großbritanniens steht Deutschland
an zweiter Stelle, übertroffen nur von Indien; bei Berücksichtigung der über die
Niederlande und Belgien kommenden Einfuhr läßt es aber auch Indien
hinter sich.

Nun, die Frage, ob die britische Industrie schutzbedürftig ist, haben die
Briten allein zu entscheiden. Damals hatte Chamberlain sich ausdrücklich gegen
die Absicht verwahrt, Zölle auch auf Lebensmittel zu legen, ohne deren Massen¬
einfuhr das britische Volk verhungern müßte. Nicht weniger als fünf Sechstel
aller Lebensmittel müssen von außen kommen. Aus diesem Grunde erklärt sich
auch die Sorge, die den Briten befällt bei dem bloßen Gedanken, eine andere
Macht könnte zur See mächtig genug sein, die regelmäßige Zufuhr abzuschneiden,
oder auch nur auf kurze Zeit zu stören.

Wenn ein Zweig der britischen Wirtschaft schutzbedürftig ist, so ist es der
Landbau, der schon lange seine Aufgabe nicht mehr erfüllt und stetig zurückgeht.
Während in den 70er Jahren noch 3190000 Acker (2^2 Acker ^ 1 Hektar) mit
Weizen bebaut wurden, waren es 1908 nur noch 1663000, also nur wenig
mehr als die Hälfte und ein ähnlicher Rückgang zeigt sich in allen anderen
Zweigen; nur bei Hafer beträgt er bloß 1000 Acker. Der Viehstand weist zwar
im letzten Menschenalter eine Vermehrung auf, aber die Vermehrung hat nicht
Schritt gehalten mit dem Wachstum der Bevölkerung. Statt 9995000 Stück
Rindvieh im Jahre 1876 zählte man 1908 11738000, 17,4 v.H. mehr, während


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/322>, abgerufen am 09.06.2024.