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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ver IViesenzaun

Und nun vernahm auch Dürer aus der Ferne verworrenes Toben und
Geschrei. Es konnte wohl aus dem Hause des Unfug kommen.

Und in brennender Angst um Felicitas beschleunigte er seinen Schritt.
Was mochte dort im Hause geschehen sein?

Noch war er nicht zum Tor gelangt, als ein Weib im Nachtgewand mit
fliegendem Haar herausstürzte, das sich völlig verzweifelt gebärdete und jammernd
nach dem Häscher und den Wachen schrie: "Er hat ihn erschlagen! Er hat den
Mann mir erschlagen!"

Dann lief sie wie von Angst besessen kläglich schreiend die Gasse hinab
und scheuchte den Schlaf aus allen Häusern, so daß in Bälde die aufgestörten
Nachbarn und allerlei Volk aus dem Pegnitzviertel gelaufen kam und erschrocken
durcheinander stob.

Und bald erfuhr es jeder, der es hören wollte: der blinde Jörg sei in
nächtlicher Angst aus dem Schlaf gefahren und habe grimmig nach der Tochter
geschrien, doch diese sei nicht in ihrer Kammer gewesen, und so habe der Blinde
in wildausbrechender Wut über des Kindes Verschwinden sein altes Lands¬
knechtsschwert ergriffen und wütend damit herumgehauen, durch die Finsternis
der Stube und des Stiegenhauses, wobei er dem Meister Unfug, der eben die
Stiege heraufgelaufen kam, den Schädel fast entzwei gespalten. Nun liege der
Unfug im Sterben, und so sei der tolle Jörg an seinem Hauswirt zum Mörder
geworden.

Es war nun bezeichnend für des Jörgen Beliebtheit beim niederen Volke,
daß sich allsogleich Stimmen vernehmen ließen, er möge sich durch schleunige
Flucht vor den Häschern in Sicherheit bringen.

Dürer aber stand in weher Beklommenheit inmitten des eifernden Haufens,
von niemanden beachtet oder erkannt, und hoffte in der Stille, so töricht es
auch war, es werde dem Jörg gelingen, in Eile zu fliehen und sich irgend
wohin zu verbergen. Und sogleich bedachte er sich, es sei die einzige Zuflucht,
die der Blinde noch erlangen könnte, in einem der Nürnberger Klöster zu finden,
von deren altererbtem Asylrecht nur wenige noch wußten.

Und wirklich wankte mit einemmal, wie das Volk es verlangte, der blinde
Jörg aus dem Tor, geführt von seinem Kinde, dem das blonde Haupt in
Scham und Verzweiflung zur Erde hing, als fiele all das Schreckliche nur ihr
allein zur Last.

Da drängte sich der Meister ungestüm durch die Menge und flüsterte dem
Mädchen zu: "Begebt Euch rasch ins Kloster zu den Augustinern! Vergeht nit,
daß Ihr Freunde habt!"

Hatte Felicitas ihn vernommen? Er wußte es nicht, denn sie sah nicht
auf und gab auch sonst kein Zeichen des Einverständnisses.

Einen Augenblick sah ihr Dürer schmerzlich bekümmert nach, wie das schöne
Geschöpf gebrochen am Arm des Vaters hing, den sie selber doch führen und
stützen sollte. Dann wandte er sich seufzend ab und schlug den Heimweg ein,


Ver IViesenzaun

Und nun vernahm auch Dürer aus der Ferne verworrenes Toben und
Geschrei. Es konnte wohl aus dem Hause des Unfug kommen.

Und in brennender Angst um Felicitas beschleunigte er seinen Schritt.
Was mochte dort im Hause geschehen sein?

Noch war er nicht zum Tor gelangt, als ein Weib im Nachtgewand mit
fliegendem Haar herausstürzte, das sich völlig verzweifelt gebärdete und jammernd
nach dem Häscher und den Wachen schrie: „Er hat ihn erschlagen! Er hat den
Mann mir erschlagen!"

Dann lief sie wie von Angst besessen kläglich schreiend die Gasse hinab
und scheuchte den Schlaf aus allen Häusern, so daß in Bälde die aufgestörten
Nachbarn und allerlei Volk aus dem Pegnitzviertel gelaufen kam und erschrocken
durcheinander stob.

Und bald erfuhr es jeder, der es hören wollte: der blinde Jörg sei in
nächtlicher Angst aus dem Schlaf gefahren und habe grimmig nach der Tochter
geschrien, doch diese sei nicht in ihrer Kammer gewesen, und so habe der Blinde
in wildausbrechender Wut über des Kindes Verschwinden sein altes Lands¬
knechtsschwert ergriffen und wütend damit herumgehauen, durch die Finsternis
der Stube und des Stiegenhauses, wobei er dem Meister Unfug, der eben die
Stiege heraufgelaufen kam, den Schädel fast entzwei gespalten. Nun liege der
Unfug im Sterben, und so sei der tolle Jörg an seinem Hauswirt zum Mörder
geworden.

Es war nun bezeichnend für des Jörgen Beliebtheit beim niederen Volke,
daß sich allsogleich Stimmen vernehmen ließen, er möge sich durch schleunige
Flucht vor den Häschern in Sicherheit bringen.

Dürer aber stand in weher Beklommenheit inmitten des eifernden Haufens,
von niemanden beachtet oder erkannt, und hoffte in der Stille, so töricht es
auch war, es werde dem Jörg gelingen, in Eile zu fliehen und sich irgend
wohin zu verbergen. Und sogleich bedachte er sich, es sei die einzige Zuflucht,
die der Blinde noch erlangen könnte, in einem der Nürnberger Klöster zu finden,
von deren altererbtem Asylrecht nur wenige noch wußten.

Und wirklich wankte mit einemmal, wie das Volk es verlangte, der blinde
Jörg aus dem Tor, geführt von seinem Kinde, dem das blonde Haupt in
Scham und Verzweiflung zur Erde hing, als fiele all das Schreckliche nur ihr
allein zur Last.

Da drängte sich der Meister ungestüm durch die Menge und flüsterte dem
Mädchen zu: „Begebt Euch rasch ins Kloster zu den Augustinern! Vergeht nit,
daß Ihr Freunde habt!"

Hatte Felicitas ihn vernommen? Er wußte es nicht, denn sie sah nicht
auf und gab auch sonst kein Zeichen des Einverständnisses.

Einen Augenblick sah ihr Dürer schmerzlich bekümmert nach, wie das schöne
Geschöpf gebrochen am Arm des Vaters hing, den sie selber doch führen und
stützen sollte. Dann wandte er sich seufzend ab und schlug den Heimweg ein,


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[0343] Ver IViesenzaun Und nun vernahm auch Dürer aus der Ferne verworrenes Toben und Geschrei. Es konnte wohl aus dem Hause des Unfug kommen. Und in brennender Angst um Felicitas beschleunigte er seinen Schritt. Was mochte dort im Hause geschehen sein? Noch war er nicht zum Tor gelangt, als ein Weib im Nachtgewand mit fliegendem Haar herausstürzte, das sich völlig verzweifelt gebärdete und jammernd nach dem Häscher und den Wachen schrie: „Er hat ihn erschlagen! Er hat den Mann mir erschlagen!" Dann lief sie wie von Angst besessen kläglich schreiend die Gasse hinab und scheuchte den Schlaf aus allen Häusern, so daß in Bälde die aufgestörten Nachbarn und allerlei Volk aus dem Pegnitzviertel gelaufen kam und erschrocken durcheinander stob. Und bald erfuhr es jeder, der es hören wollte: der blinde Jörg sei in nächtlicher Angst aus dem Schlaf gefahren und habe grimmig nach der Tochter geschrien, doch diese sei nicht in ihrer Kammer gewesen, und so habe der Blinde in wildausbrechender Wut über des Kindes Verschwinden sein altes Lands¬ knechtsschwert ergriffen und wütend damit herumgehauen, durch die Finsternis der Stube und des Stiegenhauses, wobei er dem Meister Unfug, der eben die Stiege heraufgelaufen kam, den Schädel fast entzwei gespalten. Nun liege der Unfug im Sterben, und so sei der tolle Jörg an seinem Hauswirt zum Mörder geworden. Es war nun bezeichnend für des Jörgen Beliebtheit beim niederen Volke, daß sich allsogleich Stimmen vernehmen ließen, er möge sich durch schleunige Flucht vor den Häschern in Sicherheit bringen. Dürer aber stand in weher Beklommenheit inmitten des eifernden Haufens, von niemanden beachtet oder erkannt, und hoffte in der Stille, so töricht es auch war, es werde dem Jörg gelingen, in Eile zu fliehen und sich irgend wohin zu verbergen. Und sogleich bedachte er sich, es sei die einzige Zuflucht, die der Blinde noch erlangen könnte, in einem der Nürnberger Klöster zu finden, von deren altererbtem Asylrecht nur wenige noch wußten. Und wirklich wankte mit einemmal, wie das Volk es verlangte, der blinde Jörg aus dem Tor, geführt von seinem Kinde, dem das blonde Haupt in Scham und Verzweiflung zur Erde hing, als fiele all das Schreckliche nur ihr allein zur Last. Da drängte sich der Meister ungestüm durch die Menge und flüsterte dem Mädchen zu: „Begebt Euch rasch ins Kloster zu den Augustinern! Vergeht nit, daß Ihr Freunde habt!" Hatte Felicitas ihn vernommen? Er wußte es nicht, denn sie sah nicht auf und gab auch sonst kein Zeichen des Einverständnisses. Einen Augenblick sah ihr Dürer schmerzlich bekümmert nach, wie das schöne Geschöpf gebrochen am Arm des Vaters hing, den sie selber doch führen und stützen sollte. Dann wandte er sich seufzend ab und schlug den Heimweg ein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/343>, abgerufen am 17.06.2024.