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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Hagel von Spott und Hohn der gesamten Presse, die nicht aus unseren Röhren
gespeist ist. Allerdings, nicht alle tanzen, viele schreiten unbekümmert und
bedächtig weiter. Recht oder Unrecht! Sie sind die Glücklichen.

Besonders auffallend ist die Beobachtung -- aus Graff Sammlung
"Schülerjahre namhafter Zeitgenossen" geschöpft ---, wie gerade die gestaltenden
Zeitgenossen, Dichter und bildende Künstler, über ihre Schulzeit klagen. Sie
werden, bewußt oder unbewußt, das vermißt haben, was ihrer Begabung das
größte Bedürfnis war: Harmonische Fügung aller Erscheinungen in ein
beherrschendes Stilprinzip. Und dieser Mangel wird in den modernen Schulen
ganz gewiß vorhanden sein. Mehr als in den rein humanistischen Anstalten
von ehedem.

Marx Moeller hat unlängst in einem hübschen Gedicht die gemütvolle
Stimmung des Hauses am "Garten des alten Altphilologen" geschildert, und
auch der bis in alle Tiefen seines Wesens moderne Naumann preist in Graff
"Schülerjahren" den alten humanistischen Schulbetrieb seiner Knabenzeit. Diese
Stimmen sind ja bekanntlich nicht vereinzelt; denn das alte rein humanistische
Gymnasium hatte vor allen modernen Schulen voraus, daß ein großes Ideal
gepflegt wurde, daß durch die ganze Schule ein einheitlicher, dnrch Tradition
geheiligter Arbeitsstil ging. Das ist anders geworden. Wir sind in einer Zeit
des Tastens, des Überganges; wir haben keinen Stil mehr, der sich die Klein¬
arbeit unterordnet und das scheinbar Minderwertige im großen Zusammenhang
als gesetzmäßig erscheinen läßt. Daß die älteren Kollegen, die alle Reformen
seit den siebziger Jahren teils als Schüler, teils als Lehrer mitgemacht haben,
endlich zu reformieren aufhören wollen, ist ganz erklärlich, aber ich halte es
doch für Verblendung, daß man mit dem Bestehenden zufrieden ist oder Besserung
vom Stillstand hofft. Wir müssen wieder ein großes Ideal bekommen, das die
Kleinarbeit zu durchleuchten vermag, aus der zerstückelten Beschäftigung müssen
wir zurückkehren zu einem gepflegten Stil der Arbeit an der Verstandes-,
Gemüts- und Willensbildung unserer Schüler. Natürlich wollen wir nicht ins
Griechentum zurückkehren; es kann kein Zweifel sein, daß die Schule
sich um die deutsche Kultur der Vergangenheit und Gegenwart drehen muß.
Das ist schon zu oft ausgesprochen worden, als daß man Gründe dafür bei¬
zubringen hätte. Es soll hier einmal die Notwendigkeit der Schulreform vom
Standpunkt des Schulstils nachgewiesen werden.




Es handelt sich nicht mehr so sehr um den äußeren Stil der Schulräume
und der Lehrer. Darin ist jetzt vieles gebessert, wenn auch der letzte Sproß der
Buddenbrooks noch an den schäbigen "Kammgarnröcken" zugrunde gegangen ist.
Wer heute in einer modern eingerichteten Klasse mit guter Lüftung und gleich¬
mäßiger Heizung vor wohlgekleideter manierlicher Schülern unterrichtet, dem
scheint es wie ein böser Traum, daß er noch vor zwanzig und weniger Jahren


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Hagel von Spott und Hohn der gesamten Presse, die nicht aus unseren Röhren
gespeist ist. Allerdings, nicht alle tanzen, viele schreiten unbekümmert und
bedächtig weiter. Recht oder Unrecht! Sie sind die Glücklichen.

Besonders auffallend ist die Beobachtung — aus Graff Sammlung
„Schülerjahre namhafter Zeitgenossen" geschöpft -—, wie gerade die gestaltenden
Zeitgenossen, Dichter und bildende Künstler, über ihre Schulzeit klagen. Sie
werden, bewußt oder unbewußt, das vermißt haben, was ihrer Begabung das
größte Bedürfnis war: Harmonische Fügung aller Erscheinungen in ein
beherrschendes Stilprinzip. Und dieser Mangel wird in den modernen Schulen
ganz gewiß vorhanden sein. Mehr als in den rein humanistischen Anstalten
von ehedem.

Marx Moeller hat unlängst in einem hübschen Gedicht die gemütvolle
Stimmung des Hauses am „Garten des alten Altphilologen" geschildert, und
auch der bis in alle Tiefen seines Wesens moderne Naumann preist in Graff
„Schülerjahren" den alten humanistischen Schulbetrieb seiner Knabenzeit. Diese
Stimmen sind ja bekanntlich nicht vereinzelt; denn das alte rein humanistische
Gymnasium hatte vor allen modernen Schulen voraus, daß ein großes Ideal
gepflegt wurde, daß durch die ganze Schule ein einheitlicher, dnrch Tradition
geheiligter Arbeitsstil ging. Das ist anders geworden. Wir sind in einer Zeit
des Tastens, des Überganges; wir haben keinen Stil mehr, der sich die Klein¬
arbeit unterordnet und das scheinbar Minderwertige im großen Zusammenhang
als gesetzmäßig erscheinen läßt. Daß die älteren Kollegen, die alle Reformen
seit den siebziger Jahren teils als Schüler, teils als Lehrer mitgemacht haben,
endlich zu reformieren aufhören wollen, ist ganz erklärlich, aber ich halte es
doch für Verblendung, daß man mit dem Bestehenden zufrieden ist oder Besserung
vom Stillstand hofft. Wir müssen wieder ein großes Ideal bekommen, das die
Kleinarbeit zu durchleuchten vermag, aus der zerstückelten Beschäftigung müssen
wir zurückkehren zu einem gepflegten Stil der Arbeit an der Verstandes-,
Gemüts- und Willensbildung unserer Schüler. Natürlich wollen wir nicht ins
Griechentum zurückkehren; es kann kein Zweifel sein, daß die Schule
sich um die deutsche Kultur der Vergangenheit und Gegenwart drehen muß.
Das ist schon zu oft ausgesprochen worden, als daß man Gründe dafür bei¬
zubringen hätte. Es soll hier einmal die Notwendigkeit der Schulreform vom
Standpunkt des Schulstils nachgewiesen werden.




Es handelt sich nicht mehr so sehr um den äußeren Stil der Schulräume
und der Lehrer. Darin ist jetzt vieles gebessert, wenn auch der letzte Sproß der
Buddenbrooks noch an den schäbigen „Kammgarnröcken" zugrunde gegangen ist.
Wer heute in einer modern eingerichteten Klasse mit guter Lüftung und gleich¬
mäßiger Heizung vor wohlgekleideter manierlicher Schülern unterrichtet, dem
scheint es wie ein böser Traum, daß er noch vor zwanzig und weniger Jahren


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[0345] Stilsrcigen d»r sah>ne Hagel von Spott und Hohn der gesamten Presse, die nicht aus unseren Röhren gespeist ist. Allerdings, nicht alle tanzen, viele schreiten unbekümmert und bedächtig weiter. Recht oder Unrecht! Sie sind die Glücklichen. Besonders auffallend ist die Beobachtung — aus Graff Sammlung „Schülerjahre namhafter Zeitgenossen" geschöpft -—, wie gerade die gestaltenden Zeitgenossen, Dichter und bildende Künstler, über ihre Schulzeit klagen. Sie werden, bewußt oder unbewußt, das vermißt haben, was ihrer Begabung das größte Bedürfnis war: Harmonische Fügung aller Erscheinungen in ein beherrschendes Stilprinzip. Und dieser Mangel wird in den modernen Schulen ganz gewiß vorhanden sein. Mehr als in den rein humanistischen Anstalten von ehedem. Marx Moeller hat unlängst in einem hübschen Gedicht die gemütvolle Stimmung des Hauses am „Garten des alten Altphilologen" geschildert, und auch der bis in alle Tiefen seines Wesens moderne Naumann preist in Graff „Schülerjahren" den alten humanistischen Schulbetrieb seiner Knabenzeit. Diese Stimmen sind ja bekanntlich nicht vereinzelt; denn das alte rein humanistische Gymnasium hatte vor allen modernen Schulen voraus, daß ein großes Ideal gepflegt wurde, daß durch die ganze Schule ein einheitlicher, dnrch Tradition geheiligter Arbeitsstil ging. Das ist anders geworden. Wir sind in einer Zeit des Tastens, des Überganges; wir haben keinen Stil mehr, der sich die Klein¬ arbeit unterordnet und das scheinbar Minderwertige im großen Zusammenhang als gesetzmäßig erscheinen läßt. Daß die älteren Kollegen, die alle Reformen seit den siebziger Jahren teils als Schüler, teils als Lehrer mitgemacht haben, endlich zu reformieren aufhören wollen, ist ganz erklärlich, aber ich halte es doch für Verblendung, daß man mit dem Bestehenden zufrieden ist oder Besserung vom Stillstand hofft. Wir müssen wieder ein großes Ideal bekommen, das die Kleinarbeit zu durchleuchten vermag, aus der zerstückelten Beschäftigung müssen wir zurückkehren zu einem gepflegten Stil der Arbeit an der Verstandes-, Gemüts- und Willensbildung unserer Schüler. Natürlich wollen wir nicht ins Griechentum zurückkehren; es kann kein Zweifel sein, daß die Schule sich um die deutsche Kultur der Vergangenheit und Gegenwart drehen muß. Das ist schon zu oft ausgesprochen worden, als daß man Gründe dafür bei¬ zubringen hätte. Es soll hier einmal die Notwendigkeit der Schulreform vom Standpunkt des Schulstils nachgewiesen werden. Es handelt sich nicht mehr so sehr um den äußeren Stil der Schulräume und der Lehrer. Darin ist jetzt vieles gebessert, wenn auch der letzte Sproß der Buddenbrooks noch an den schäbigen „Kammgarnröcken" zugrunde gegangen ist. Wer heute in einer modern eingerichteten Klasse mit guter Lüftung und gleich¬ mäßiger Heizung vor wohlgekleideter manierlicher Schülern unterrichtet, dem scheint es wie ein böser Traum, daß er noch vor zwanzig und weniger Jahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/345>, abgerufen am 17.06.2024.