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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Verkehr verschiebt diese ganze Grundlage.
Eine Wogekreuzung, an der zehn Menschen
wohnen, und an der ein lebhafter Fuhr¬
werksverkehr stattfindet, kann einer Kon¬
zession mehr bedürfen als ein Gntsdorf mit
300 Seelen. Außerdem geht man dabei von
der fehlerhaften Boraussetzung aus, daß eine
erteilte Konzession wirklich ein Bedürfnis
befriedigt. Ich habe schon Gasthöfe auf dem
Lande kennen gelernt, die dem Menschen alle
Bedürfnisse abgewöhnten, weil sie von Schmutz
starrten und der Gast noch unhöflich be¬
handelt wurde, wenn er irgend etwas außer
Fusel forderte. Auf meine bescheidene Bitte
um ein Brot mit Wurst ist nur einmal die
Antwort geworden: "Wegen einem wird eine
Wurst nicht angeschnitten!"

schematisch auf so und so viel Seelen
eine Konzession erteilen zu wollen, würde
daher keine Verbesserung bedeuten.

Noch weniger gangbar für die Behörden
sind die Vorschläge der Abstinenten.

Die Prohibition einführen zu wollen,
d. h. die Alkoholproduktion und jeden Ver¬
kauf alkoholhaltiger Getränke zu verbieten,
wäre allerdings eine Radikalkur Ä w
Dr. Eisenbart, aber unter den gegebenen
Verhältnissen gelinder Wahnsinn. Der Gre¬
nadier Heines kann Wohl rücksichtslos sagen:
"Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig
sind", ein Staatsmann handelte gewissenlos,
wenn er Hunderttausende, die heute aus
dem Alkoholgewerbe ihr Brot haben, ihres
Brotes berauben wollte, nur um die Marotte
der Abstinenz restlos ins wirkliche Leben um¬
zusetzen.

Ebensowenig ist das Gemeindebestimmungs¬
recht diskutabel, dessen Wesen darin besteht,
daß über die Bedürfnisfrage an der Stelle
der staatlichen Behörden das Volk selbst ent¬
scheiden soll. Man muß schon ein großer
Optimist sein, wenn man von der Masse
soviel bessere Einsicht erwartet, daß man
kurzerhand anstelle der behördlichen Ent¬
scheidung den Zufall einer Majorität durch
Abstimmung setzen will. Man fährt Kanonen
auf, um schließlich, wenn das Glück gut ist,
einen Spatzen zu schießen.

Einen Ausweg aus diesen Wirrnissen
zeigt da nun das Streben des Deutschen
Vereins für Gasthausreform (Sitz Stettin,

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Elisabethstr. 71). Ich sage ausdrücklich
"zeigt", denn ich schreibe nicht über Projekte,
die andere erst ausführen sollen, sondern
über Tatsachen, die nachgeprüft werden können.
Es bestehen nämlich in Deutschland bereits zirka
fünfzig Gasthäuser neuen Systems, die, wenn
sie auch nicht alle halten, was man sich von
ihnen versprach, doch den Beweis tiefer",
daß man auf dem eingeschlagenen Wege zu
besseren Verhältnissen gelangen kann, lind
dies um so mehr, da der Durchführung dieser
Bestrebungen keiner fanatisch gegenübertritt,
außer vielleicht den radikalsten Abstinenten.
"Schutz und Trutz", das Zentralorgan
Wider die Übergriffe in der Abstinenzbewegung,
schreibt von ihr: "Es steckt in der Bewegung
ein sehr gesunder Kern, und wenn sich die
Bewegung vor Ausschweifungen hütet, braucht
sie als solche Reform allein von den anstän¬
digen Wirten weder gescheut noch bekämpft
zu werden. Daß die Bewegung alle Keime
zu einer großen Entwickelung in sich trägt,
wird jedem klar, der sich näher mit ihr
beschäftigt." Worauf will man nnn bei der
Gasthausreform hinaus? Das Endziel ist
folgendes:

An den einmal vorhandenen Konzessionen
wird im Interesse ihrer Inhaber nicht ge¬
rüttelt, dagegen werden für die Städte mit über
W (WO Einwohnern und die Landbezirke mit
Städten unter 2ö0V() Einwohnern gemein¬
nützige Gesellschaften gebildet, die das alleinige
Recht der Erwerbung neuer Konzessionen
erhalten. Diese gemeinnützigen Gesellschaften
sollen bestehen aus Privaten, Kommunen und
Staat. In welchem Prozentsatz Private,
Kommunen und Staat sich in die Anteile
teilen sollen, mag hier unerörtert bleiben.
Bei Errichtung dieser gemeinnützigen Bezirks¬
gesellschaften wird der Wert der bereits vor¬
handenen Konzessionen in den einzelnen Be¬
zirken festgesetzt. Die Einzelheiten der Zu¬
sammensetzung dieser Kommissionen können
hier ebenfalls unerörtert bleiben. Es steht
den bei Entstehung der Gesellschaft vor¬
handenen Konzessionsinhabern frei, zum Tax¬
preise der Kommissionen unter bestimmten
Kautelen für die Bezirksgesellschaft ihre
Wirtschaften zu veräußern. Wenn eS nicht
geschieht, sollen die betreffenden Konzessions¬
inhaber unangefochten bleiben, bis die Kor-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Verkehr verschiebt diese ganze Grundlage.
Eine Wogekreuzung, an der zehn Menschen
wohnen, und an der ein lebhafter Fuhr¬
werksverkehr stattfindet, kann einer Kon¬
zession mehr bedürfen als ein Gntsdorf mit
300 Seelen. Außerdem geht man dabei von
der fehlerhaften Boraussetzung aus, daß eine
erteilte Konzession wirklich ein Bedürfnis
befriedigt. Ich habe schon Gasthöfe auf dem
Lande kennen gelernt, die dem Menschen alle
Bedürfnisse abgewöhnten, weil sie von Schmutz
starrten und der Gast noch unhöflich be¬
handelt wurde, wenn er irgend etwas außer
Fusel forderte. Auf meine bescheidene Bitte
um ein Brot mit Wurst ist nur einmal die
Antwort geworden: „Wegen einem wird eine
Wurst nicht angeschnitten!"

schematisch auf so und so viel Seelen
eine Konzession erteilen zu wollen, würde
daher keine Verbesserung bedeuten.

Noch weniger gangbar für die Behörden
sind die Vorschläge der Abstinenten.

Die Prohibition einführen zu wollen,
d. h. die Alkoholproduktion und jeden Ver¬
kauf alkoholhaltiger Getränke zu verbieten,
wäre allerdings eine Radikalkur Ä w
Dr. Eisenbart, aber unter den gegebenen
Verhältnissen gelinder Wahnsinn. Der Gre¬
nadier Heines kann Wohl rücksichtslos sagen:
„Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig
sind", ein Staatsmann handelte gewissenlos,
wenn er Hunderttausende, die heute aus
dem Alkoholgewerbe ihr Brot haben, ihres
Brotes berauben wollte, nur um die Marotte
der Abstinenz restlos ins wirkliche Leben um¬
zusetzen.

Ebensowenig ist das Gemeindebestimmungs¬
recht diskutabel, dessen Wesen darin besteht,
daß über die Bedürfnisfrage an der Stelle
der staatlichen Behörden das Volk selbst ent¬
scheiden soll. Man muß schon ein großer
Optimist sein, wenn man von der Masse
soviel bessere Einsicht erwartet, daß man
kurzerhand anstelle der behördlichen Ent¬
scheidung den Zufall einer Majorität durch
Abstimmung setzen will. Man fährt Kanonen
auf, um schließlich, wenn das Glück gut ist,
einen Spatzen zu schießen.

Einen Ausweg aus diesen Wirrnissen
zeigt da nun das Streben des Deutschen
Vereins für Gasthausreform (Sitz Stettin,

[Spaltenumbruch]

Elisabethstr. 71). Ich sage ausdrücklich
„zeigt", denn ich schreibe nicht über Projekte,
die andere erst ausführen sollen, sondern
über Tatsachen, die nachgeprüft werden können.
Es bestehen nämlich in Deutschland bereits zirka
fünfzig Gasthäuser neuen Systems, die, wenn
sie auch nicht alle halten, was man sich von
ihnen versprach, doch den Beweis tiefer»,
daß man auf dem eingeschlagenen Wege zu
besseren Verhältnissen gelangen kann, lind
dies um so mehr, da der Durchführung dieser
Bestrebungen keiner fanatisch gegenübertritt,
außer vielleicht den radikalsten Abstinenten.
„Schutz und Trutz", das Zentralorgan
Wider die Übergriffe in der Abstinenzbewegung,
schreibt von ihr: „Es steckt in der Bewegung
ein sehr gesunder Kern, und wenn sich die
Bewegung vor Ausschweifungen hütet, braucht
sie als solche Reform allein von den anstän¬
digen Wirten weder gescheut noch bekämpft
zu werden. Daß die Bewegung alle Keime
zu einer großen Entwickelung in sich trägt,
wird jedem klar, der sich näher mit ihr
beschäftigt." Worauf will man nnn bei der
Gasthausreform hinaus? Das Endziel ist
folgendes:

An den einmal vorhandenen Konzessionen
wird im Interesse ihrer Inhaber nicht ge¬
rüttelt, dagegen werden für die Städte mit über
W (WO Einwohnern und die Landbezirke mit
Städten unter 2ö0V() Einwohnern gemein¬
nützige Gesellschaften gebildet, die das alleinige
Recht der Erwerbung neuer Konzessionen
erhalten. Diese gemeinnützigen Gesellschaften
sollen bestehen aus Privaten, Kommunen und
Staat. In welchem Prozentsatz Private,
Kommunen und Staat sich in die Anteile
teilen sollen, mag hier unerörtert bleiben.
Bei Errichtung dieser gemeinnützigen Bezirks¬
gesellschaften wird der Wert der bereits vor¬
handenen Konzessionen in den einzelnen Be¬
zirken festgesetzt. Die Einzelheiten der Zu¬
sammensetzung dieser Kommissionen können
hier ebenfalls unerörtert bleiben. Es steht
den bei Entstehung der Gesellschaft vor¬
handenen Konzessionsinhabern frei, zum Tax¬
preise der Kommissionen unter bestimmten
Kautelen für die Bezirksgesellschaft ihre
Wirtschaften zu veräußern. Wenn eS nicht
geschieht, sollen die betreffenden Konzessions¬
inhaber unangefochten bleiben, bis die Kor-

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[0354] Maßgebliches und Unmaßgebliches Verkehr verschiebt diese ganze Grundlage. Eine Wogekreuzung, an der zehn Menschen wohnen, und an der ein lebhafter Fuhr¬ werksverkehr stattfindet, kann einer Kon¬ zession mehr bedürfen als ein Gntsdorf mit 300 Seelen. Außerdem geht man dabei von der fehlerhaften Boraussetzung aus, daß eine erteilte Konzession wirklich ein Bedürfnis befriedigt. Ich habe schon Gasthöfe auf dem Lande kennen gelernt, die dem Menschen alle Bedürfnisse abgewöhnten, weil sie von Schmutz starrten und der Gast noch unhöflich be¬ handelt wurde, wenn er irgend etwas außer Fusel forderte. Auf meine bescheidene Bitte um ein Brot mit Wurst ist nur einmal die Antwort geworden: „Wegen einem wird eine Wurst nicht angeschnitten!" schematisch auf so und so viel Seelen eine Konzession erteilen zu wollen, würde daher keine Verbesserung bedeuten. Noch weniger gangbar für die Behörden sind die Vorschläge der Abstinenten. Die Prohibition einführen zu wollen, d. h. die Alkoholproduktion und jeden Ver¬ kauf alkoholhaltiger Getränke zu verbieten, wäre allerdings eine Radikalkur Ä w Dr. Eisenbart, aber unter den gegebenen Verhältnissen gelinder Wahnsinn. Der Gre¬ nadier Heines kann Wohl rücksichtslos sagen: „Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind", ein Staatsmann handelte gewissenlos, wenn er Hunderttausende, die heute aus dem Alkoholgewerbe ihr Brot haben, ihres Brotes berauben wollte, nur um die Marotte der Abstinenz restlos ins wirkliche Leben um¬ zusetzen. Ebensowenig ist das Gemeindebestimmungs¬ recht diskutabel, dessen Wesen darin besteht, daß über die Bedürfnisfrage an der Stelle der staatlichen Behörden das Volk selbst ent¬ scheiden soll. Man muß schon ein großer Optimist sein, wenn man von der Masse soviel bessere Einsicht erwartet, daß man kurzerhand anstelle der behördlichen Ent¬ scheidung den Zufall einer Majorität durch Abstimmung setzen will. Man fährt Kanonen auf, um schließlich, wenn das Glück gut ist, einen Spatzen zu schießen. Einen Ausweg aus diesen Wirrnissen zeigt da nun das Streben des Deutschen Vereins für Gasthausreform (Sitz Stettin, Elisabethstr. 71). Ich sage ausdrücklich „zeigt", denn ich schreibe nicht über Projekte, die andere erst ausführen sollen, sondern über Tatsachen, die nachgeprüft werden können. Es bestehen nämlich in Deutschland bereits zirka fünfzig Gasthäuser neuen Systems, die, wenn sie auch nicht alle halten, was man sich von ihnen versprach, doch den Beweis tiefer», daß man auf dem eingeschlagenen Wege zu besseren Verhältnissen gelangen kann, lind dies um so mehr, da der Durchführung dieser Bestrebungen keiner fanatisch gegenübertritt, außer vielleicht den radikalsten Abstinenten. „Schutz und Trutz", das Zentralorgan Wider die Übergriffe in der Abstinenzbewegung, schreibt von ihr: „Es steckt in der Bewegung ein sehr gesunder Kern, und wenn sich die Bewegung vor Ausschweifungen hütet, braucht sie als solche Reform allein von den anstän¬ digen Wirten weder gescheut noch bekämpft zu werden. Daß die Bewegung alle Keime zu einer großen Entwickelung in sich trägt, wird jedem klar, der sich näher mit ihr beschäftigt." Worauf will man nnn bei der Gasthausreform hinaus? Das Endziel ist folgendes: An den einmal vorhandenen Konzessionen wird im Interesse ihrer Inhaber nicht ge¬ rüttelt, dagegen werden für die Städte mit über W (WO Einwohnern und die Landbezirke mit Städten unter 2ö0V() Einwohnern gemein¬ nützige Gesellschaften gebildet, die das alleinige Recht der Erwerbung neuer Konzessionen erhalten. Diese gemeinnützigen Gesellschaften sollen bestehen aus Privaten, Kommunen und Staat. In welchem Prozentsatz Private, Kommunen und Staat sich in die Anteile teilen sollen, mag hier unerörtert bleiben. Bei Errichtung dieser gemeinnützigen Bezirks¬ gesellschaften wird der Wert der bereits vor¬ handenen Konzessionen in den einzelnen Be¬ zirken festgesetzt. Die Einzelheiten der Zu¬ sammensetzung dieser Kommissionen können hier ebenfalls unerörtert bleiben. Es steht den bei Entstehung der Gesellschaft vor¬ handenen Konzessionsinhabern frei, zum Tax¬ preise der Kommissionen unter bestimmten Kautelen für die Bezirksgesellschaft ihre Wirtschaften zu veräußern. Wenn eS nicht geschieht, sollen die betreffenden Konzessions¬ inhaber unangefochten bleiben, bis die Kor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/354>, abgerufen am 17.06.2024.