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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Not der Arzte

sicher nicht vermindert ist. Wie sehr die Benachteiligung der Ärzte durch die
Ausführung der sozialen Gesetze empfunden wird, beweist auch die Anteilnahme
der gelehrten Mediziner. Fast alle nicht preußischen Fakultäten und einige siebzig
preußische Professoren haben im Sommer 1910 eine gemeinsame Denkschrift an
den Bundesrat gerichtet, in der sie auf die geschilderten bedenklichen Schäden
aufmerksam machen. Falls der Entwurf zur Annahme käme, würde -- heißt
es dort -- "der deutsche Ärztestand in der Ausübung seiner Tätigkeit, in seinem
Ansehen und in seiner materiellen Existenz auf das Schwerste geschädigt werden."
Außerdem haben sechs deutsche Ärzte von internationalem Ruf unter Führung
des greisen Erb eine Audienz beim Reichskanzler nachgesucht und sind auch "wohl¬
wollend" aufgenommen worden. Bemerkbare Erfolge hat beides nicht gehabt.

Durch die vom Reichstag noch kurz vor Torschluß angenommene Erhöhung
der Versicherungsgrenze auf 2500 Mark sind sämtliche Kontrakte der Kassen mit
Ärzten auf einen Termin, nämlich den der Einführung der R. V. O. hinfällig
geworden, weil sie die Grenze von 2000 Mark zur Voraussetzung haben.
Damit werden alle jetzt friedlichen Verhältnisse gestört und Streitigkeiten auf
der ganzen Linie heraufbeschworen. Früher ist von den Gegnern oft, wenn
auch grundlos, behauptet worden, die Ärzte drohten mit Generalstreik; jetzt
hat der Reichstag durch einen schlecht überlegten Beschluß eine solche Mög¬
lichkeit geschaffen.

Zu fürchten ist nunmehr, daß der Kampf sich ausbreitet, daß die Jnva-
lidenanstalten und auch die Berufsgenossenschaften, mit denen jetzt Frieden
besteht, hineingezogen werden. Denn der Einfluß der sich neubildenden Beamten-
organisation wird Unterwerfung verlangen. Diese dauernde Unsicherheit wird
auch den Ärzten Schaden tun, anderseits scheint jedoch auch die ruhige Ent¬
wicklung der sozialen Versicherung gefährdet; die Einfügung der bereits erwähnten
Bestimmungen über den Fall des Versagens der Ärzte läßt Böses erwarten.
Es werden in der Presse auch bereits Rufe nach Gegenmaßregeln laut: die
Freizügigkeit, die in Preußen seit 1815 besteht, soll wieder aufgehoben, die
Verweigerung der Hilfe soll bestraft werden, so wie es früher war, ohne daß
jemals ein Erfolg zu verzeichnen gewesen wäre, und dergleichen mehr. -- Der augen¬
blickliche Stand ist nun nicht etwa der, daß im ganzen Vaterlande Streit zwischen
beiden Teilen wäre; im Gegenteil, die Parteien leben meist nebeneinander fort
wie früher und der Streit beschränkt sich auf eine Reihe von Einzelfällen; in
sehr großen Bezirken, z. B. bei den Knappschaften und in den meisten Staats¬
betrieben, besteht das System der fixierten Ärzte unangefochten weiter. Aber das
Gefühl der Unsicherheit, der Unzufriedenheit mit den vom Gesetz veranlaßten
Zuständen ist allgemein verbreitet; nun fürchtet man eine abermalige Ver¬
schärfung durch die neue R. V. O., welche zufolge der bedeutenden Vergrößerung
des Kreises der Versicherten in die notdürftig geflickten Zustände neue Unruhe,
neuen Streit zu bringen und daher eine ruhige Lösung der strittigen Fragen
zu gefährden droht. Schon jetzt kommt es vor, daß Ärzte wegen Ver-


Die Not der Arzte

sicher nicht vermindert ist. Wie sehr die Benachteiligung der Ärzte durch die
Ausführung der sozialen Gesetze empfunden wird, beweist auch die Anteilnahme
der gelehrten Mediziner. Fast alle nicht preußischen Fakultäten und einige siebzig
preußische Professoren haben im Sommer 1910 eine gemeinsame Denkschrift an
den Bundesrat gerichtet, in der sie auf die geschilderten bedenklichen Schäden
aufmerksam machen. Falls der Entwurf zur Annahme käme, würde — heißt
es dort — „der deutsche Ärztestand in der Ausübung seiner Tätigkeit, in seinem
Ansehen und in seiner materiellen Existenz auf das Schwerste geschädigt werden."
Außerdem haben sechs deutsche Ärzte von internationalem Ruf unter Führung
des greisen Erb eine Audienz beim Reichskanzler nachgesucht und sind auch „wohl¬
wollend" aufgenommen worden. Bemerkbare Erfolge hat beides nicht gehabt.

Durch die vom Reichstag noch kurz vor Torschluß angenommene Erhöhung
der Versicherungsgrenze auf 2500 Mark sind sämtliche Kontrakte der Kassen mit
Ärzten auf einen Termin, nämlich den der Einführung der R. V. O. hinfällig
geworden, weil sie die Grenze von 2000 Mark zur Voraussetzung haben.
Damit werden alle jetzt friedlichen Verhältnisse gestört und Streitigkeiten auf
der ganzen Linie heraufbeschworen. Früher ist von den Gegnern oft, wenn
auch grundlos, behauptet worden, die Ärzte drohten mit Generalstreik; jetzt
hat der Reichstag durch einen schlecht überlegten Beschluß eine solche Mög¬
lichkeit geschaffen.

Zu fürchten ist nunmehr, daß der Kampf sich ausbreitet, daß die Jnva-
lidenanstalten und auch die Berufsgenossenschaften, mit denen jetzt Frieden
besteht, hineingezogen werden. Denn der Einfluß der sich neubildenden Beamten-
organisation wird Unterwerfung verlangen. Diese dauernde Unsicherheit wird
auch den Ärzten Schaden tun, anderseits scheint jedoch auch die ruhige Ent¬
wicklung der sozialen Versicherung gefährdet; die Einfügung der bereits erwähnten
Bestimmungen über den Fall des Versagens der Ärzte läßt Böses erwarten.
Es werden in der Presse auch bereits Rufe nach Gegenmaßregeln laut: die
Freizügigkeit, die in Preußen seit 1815 besteht, soll wieder aufgehoben, die
Verweigerung der Hilfe soll bestraft werden, so wie es früher war, ohne daß
jemals ein Erfolg zu verzeichnen gewesen wäre, und dergleichen mehr. — Der augen¬
blickliche Stand ist nun nicht etwa der, daß im ganzen Vaterlande Streit zwischen
beiden Teilen wäre; im Gegenteil, die Parteien leben meist nebeneinander fort
wie früher und der Streit beschränkt sich auf eine Reihe von Einzelfällen; in
sehr großen Bezirken, z. B. bei den Knappschaften und in den meisten Staats¬
betrieben, besteht das System der fixierten Ärzte unangefochten weiter. Aber das
Gefühl der Unsicherheit, der Unzufriedenheit mit den vom Gesetz veranlaßten
Zuständen ist allgemein verbreitet; nun fürchtet man eine abermalige Ver¬
schärfung durch die neue R. V. O., welche zufolge der bedeutenden Vergrößerung
des Kreises der Versicherten in die notdürftig geflickten Zustände neue Unruhe,
neuen Streit zu bringen und daher eine ruhige Lösung der strittigen Fragen
zu gefährden droht. Schon jetzt kommt es vor, daß Ärzte wegen Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/390>, abgerufen am 17.06.2024.