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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

hundert im Gegensatz zu der rationalistischen
des achtzehnten kennzeichnet. Wie gleichzeitig
Jakob Grimm und Bopp in der Sprache,
Savigny im Recht, verfolgte Niebuhr in der
Geschichte eines Volkes das Werden: "das
Leben des Volkes war bei ihm in die Mitte
der Betrachtung gerückt, dieses Leben faßte er
zuerst als eine Einheit, die sich im Laufe der
Jahrhunderte organisch nach bestimmten Ge¬
setzen entwickelt." In dieser Auffassung der
Geschichte waren in ihm die Erfahrungen der
französischen Revolution fruchtbar geworden,
Phantasie und Divination beleuchteten ihm den
dunklen Pfad über die Trümmerhalden der
Überlieferung. "Ich hatte das Ziel erreicht",
sagte er auf das Werk zurückblickend in:
Jahre 1826, "wie ein Nachtwandler, der auf
der Zinne schreitet".

Aber nicht darum allein soll der Name
Niebuhr nicht ganz vergessen werden, sondern
auch, und vielleicht mehr noch, um seiner
Persönlichkeit willen, als Mensch, Patriot,
Politiker. Gelehrtentum, Wissenschaft nahm
doch nur einen kleinen Bruchteil seines tätigen
Lebens ein. Das hat er selbst zwar immer
als einen schmerzlichen Verlust, als Abirrung,
ja als tragisches Mißgeschick empfunden, aber
es ist die Frage, ob seine gelehrten Schriften
an Gehalt nicht gerade dadurch gewonnen
haben, daß er sich ihnen nicht ausschließlich
widmen durste. Abgesehen aber davon be¬
währte er sich im praktischen Leben überall
so, daß er verdient, immer als ein Vorbild
für handelnde Männer aufgestellt zu werden.
Bor allem deshalb, weil er seinen Amts- und
Tagespflichten immer einen höheren, auf das
Wohl der Gesamtheit gerichteten Bezug zu
geben mußte. So wenn er im Preußischen
Finanzdienst in erster Linie dem Beruf, den
er in sich fühlt, "die Not des armen Volkes
zu mildern", nachleben will, "wenn auch das
größte Übel keine Heilung zuläßt". "Mein
Wunsch und mein Plan geht dahin", schreibt
er von Königsberg im Dezember 1809 an
seinen Vater, "die armen StaatSgläubiger,
welche in der größten Not sind und seit Jahren
keinen Zins erhalten haben, zu retten, ohne
daß dem Volk müßten neue Lasten auferlegt
werden, die heiligsten Ansprüche von tausend
Unglücklichen zu befriedigen, die Provinzial-
fchulden mit einer großen Erleichterung des

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armen Volkes zu regulieren, die Grund¬
eigentümer zu retten" usw. Er ging nicht
bloß darum als preußischer Gesandter noch
Rom, weil ihm diese Stadt wegen seiner
Studien zu kennen wichtig, ja notwendig war,
sondern auch weil er in den bevorstehenden
Unterhandlungen mit dem römischen Stuhl
für den kirchlichen Frieden in den neuge¬
wonnenen katholischen Landesteilen wirken zu
können hoffte. Und nicht zuletzt kann er uns
allen zum Vorbild darin dienen, wie willig er
sich noch als älterer Mann von den Zuständen
und Tatsachen belehren ließ, auch wenn sie
in sein Politisches Glaubensbekenntnis nicht
paßten. Er war, was wir heute konservativ
nennen, aber dies hinderte ihn nicht zuzugeben,
daß die Napoleonische Gewaltherrschaft für
den verrotteten Kirchenstaat ein Segen war,
daß die neuen süddeutschen Verfassungen nicht
gut an die früher bestehenden historischen
Institutionen hätten anknüpfen können, weil
die öffentliche Meinung allzusehr dagegen war,
daß es für die Bewohner der ehemaligen
geistlichen Fürstentümer am Rhein ein Segen
war, einem großen Staat einverleibt worden
zu sein. Der neuen Blüte ihrer Städte
konnte sich sein scharfes Auge nicht verschließen,
obwohl vorher seine Sympathie bei den zer¬
störten alten Kleinstaaten war. Die französische
Revolution war ihm von Jugend auf als die
Quelle alles Unheils, an dem die Zeit litt,
erschienen, aber als er ein Jahr vor seinem
Tod Mirabeaus Schriften wieder las, schlug
sein Herz "so laut für den Dämonischen, den
Gewaltigsten unter allen", deren Lebenszeit
die seinige berührt hatte, daß er sich um einen
Abguß von Houdons Büste des Revolutions¬
helden bemühte, um sie in seinem Studier¬
zimmer immer vor sich zu haben.

Von allen diesen Seiten lernt man ihn
in seinen zahlreichen Briefen kennen. Diese
sind schon vor mehr als siebzig Jahren in
drei Bänden erschienen. Eine Auswahl neu
herauszugeben wäre ein sehr verdienstliches
Unternehmen. Sollte heute, wo durch Neu¬
drucke so viele alte Bücher, die besser verschollen
blieben, zu einem zweiten Leben herausgerufen
werden, sich nicht ein Verleger finden, der es
damit wagen wollte?

Dr. Lügen Guglia- [Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

hundert im Gegensatz zu der rationalistischen
des achtzehnten kennzeichnet. Wie gleichzeitig
Jakob Grimm und Bopp in der Sprache,
Savigny im Recht, verfolgte Niebuhr in der
Geschichte eines Volkes das Werden: „das
Leben des Volkes war bei ihm in die Mitte
der Betrachtung gerückt, dieses Leben faßte er
zuerst als eine Einheit, die sich im Laufe der
Jahrhunderte organisch nach bestimmten Ge¬
setzen entwickelt." In dieser Auffassung der
Geschichte waren in ihm die Erfahrungen der
französischen Revolution fruchtbar geworden,
Phantasie und Divination beleuchteten ihm den
dunklen Pfad über die Trümmerhalden der
Überlieferung. „Ich hatte das Ziel erreicht",
sagte er auf das Werk zurückblickend in:
Jahre 1826, „wie ein Nachtwandler, der auf
der Zinne schreitet".

Aber nicht darum allein soll der Name
Niebuhr nicht ganz vergessen werden, sondern
auch, und vielleicht mehr noch, um seiner
Persönlichkeit willen, als Mensch, Patriot,
Politiker. Gelehrtentum, Wissenschaft nahm
doch nur einen kleinen Bruchteil seines tätigen
Lebens ein. Das hat er selbst zwar immer
als einen schmerzlichen Verlust, als Abirrung,
ja als tragisches Mißgeschick empfunden, aber
es ist die Frage, ob seine gelehrten Schriften
an Gehalt nicht gerade dadurch gewonnen
haben, daß er sich ihnen nicht ausschließlich
widmen durste. Abgesehen aber davon be¬
währte er sich im praktischen Leben überall
so, daß er verdient, immer als ein Vorbild
für handelnde Männer aufgestellt zu werden.
Bor allem deshalb, weil er seinen Amts- und
Tagespflichten immer einen höheren, auf das
Wohl der Gesamtheit gerichteten Bezug zu
geben mußte. So wenn er im Preußischen
Finanzdienst in erster Linie dem Beruf, den
er in sich fühlt, „die Not des armen Volkes
zu mildern", nachleben will, „wenn auch das
größte Übel keine Heilung zuläßt". „Mein
Wunsch und mein Plan geht dahin", schreibt
er von Königsberg im Dezember 1809 an
seinen Vater, „die armen StaatSgläubiger,
welche in der größten Not sind und seit Jahren
keinen Zins erhalten haben, zu retten, ohne
daß dem Volk müßten neue Lasten auferlegt
werden, die heiligsten Ansprüche von tausend
Unglücklichen zu befriedigen, die Provinzial-
fchulden mit einer großen Erleichterung des

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armen Volkes zu regulieren, die Grund¬
eigentümer zu retten" usw. Er ging nicht
bloß darum als preußischer Gesandter noch
Rom, weil ihm diese Stadt wegen seiner
Studien zu kennen wichtig, ja notwendig war,
sondern auch weil er in den bevorstehenden
Unterhandlungen mit dem römischen Stuhl
für den kirchlichen Frieden in den neuge¬
wonnenen katholischen Landesteilen wirken zu
können hoffte. Und nicht zuletzt kann er uns
allen zum Vorbild darin dienen, wie willig er
sich noch als älterer Mann von den Zuständen
und Tatsachen belehren ließ, auch wenn sie
in sein Politisches Glaubensbekenntnis nicht
paßten. Er war, was wir heute konservativ
nennen, aber dies hinderte ihn nicht zuzugeben,
daß die Napoleonische Gewaltherrschaft für
den verrotteten Kirchenstaat ein Segen war,
daß die neuen süddeutschen Verfassungen nicht
gut an die früher bestehenden historischen
Institutionen hätten anknüpfen können, weil
die öffentliche Meinung allzusehr dagegen war,
daß es für die Bewohner der ehemaligen
geistlichen Fürstentümer am Rhein ein Segen
war, einem großen Staat einverleibt worden
zu sein. Der neuen Blüte ihrer Städte
konnte sich sein scharfes Auge nicht verschließen,
obwohl vorher seine Sympathie bei den zer¬
störten alten Kleinstaaten war. Die französische
Revolution war ihm von Jugend auf als die
Quelle alles Unheils, an dem die Zeit litt,
erschienen, aber als er ein Jahr vor seinem
Tod Mirabeaus Schriften wieder las, schlug
sein Herz „so laut für den Dämonischen, den
Gewaltigsten unter allen", deren Lebenszeit
die seinige berührt hatte, daß er sich um einen
Abguß von Houdons Büste des Revolutions¬
helden bemühte, um sie in seinem Studier¬
zimmer immer vor sich zu haben.

Von allen diesen Seiten lernt man ihn
in seinen zahlreichen Briefen kennen. Diese
sind schon vor mehr als siebzig Jahren in
drei Bänden erschienen. Eine Auswahl neu
herauszugeben wäre ein sehr verdienstliches
Unternehmen. Sollte heute, wo durch Neu¬
drucke so viele alte Bücher, die besser verschollen
blieben, zu einem zweiten Leben herausgerufen
werden, sich nicht ein Verleger finden, der es
damit wagen wollte?

Dr. Lügen Guglia- [Ende Spaltensatz]
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[0404] Maßgebliches und Unmaßgebliches hundert im Gegensatz zu der rationalistischen des achtzehnten kennzeichnet. Wie gleichzeitig Jakob Grimm und Bopp in der Sprache, Savigny im Recht, verfolgte Niebuhr in der Geschichte eines Volkes das Werden: „das Leben des Volkes war bei ihm in die Mitte der Betrachtung gerückt, dieses Leben faßte er zuerst als eine Einheit, die sich im Laufe der Jahrhunderte organisch nach bestimmten Ge¬ setzen entwickelt." In dieser Auffassung der Geschichte waren in ihm die Erfahrungen der französischen Revolution fruchtbar geworden, Phantasie und Divination beleuchteten ihm den dunklen Pfad über die Trümmerhalden der Überlieferung. „Ich hatte das Ziel erreicht", sagte er auf das Werk zurückblickend in: Jahre 1826, „wie ein Nachtwandler, der auf der Zinne schreitet". Aber nicht darum allein soll der Name Niebuhr nicht ganz vergessen werden, sondern auch, und vielleicht mehr noch, um seiner Persönlichkeit willen, als Mensch, Patriot, Politiker. Gelehrtentum, Wissenschaft nahm doch nur einen kleinen Bruchteil seines tätigen Lebens ein. Das hat er selbst zwar immer als einen schmerzlichen Verlust, als Abirrung, ja als tragisches Mißgeschick empfunden, aber es ist die Frage, ob seine gelehrten Schriften an Gehalt nicht gerade dadurch gewonnen haben, daß er sich ihnen nicht ausschließlich widmen durste. Abgesehen aber davon be¬ währte er sich im praktischen Leben überall so, daß er verdient, immer als ein Vorbild für handelnde Männer aufgestellt zu werden. Bor allem deshalb, weil er seinen Amts- und Tagespflichten immer einen höheren, auf das Wohl der Gesamtheit gerichteten Bezug zu geben mußte. So wenn er im Preußischen Finanzdienst in erster Linie dem Beruf, den er in sich fühlt, „die Not des armen Volkes zu mildern", nachleben will, „wenn auch das größte Übel keine Heilung zuläßt". „Mein Wunsch und mein Plan geht dahin", schreibt er von Königsberg im Dezember 1809 an seinen Vater, „die armen StaatSgläubiger, welche in der größten Not sind und seit Jahren keinen Zins erhalten haben, zu retten, ohne daß dem Volk müßten neue Lasten auferlegt werden, die heiligsten Ansprüche von tausend Unglücklichen zu befriedigen, die Provinzial- fchulden mit einer großen Erleichterung des armen Volkes zu regulieren, die Grund¬ eigentümer zu retten" usw. Er ging nicht bloß darum als preußischer Gesandter noch Rom, weil ihm diese Stadt wegen seiner Studien zu kennen wichtig, ja notwendig war, sondern auch weil er in den bevorstehenden Unterhandlungen mit dem römischen Stuhl für den kirchlichen Frieden in den neuge¬ wonnenen katholischen Landesteilen wirken zu können hoffte. Und nicht zuletzt kann er uns allen zum Vorbild darin dienen, wie willig er sich noch als älterer Mann von den Zuständen und Tatsachen belehren ließ, auch wenn sie in sein Politisches Glaubensbekenntnis nicht paßten. Er war, was wir heute konservativ nennen, aber dies hinderte ihn nicht zuzugeben, daß die Napoleonische Gewaltherrschaft für den verrotteten Kirchenstaat ein Segen war, daß die neuen süddeutschen Verfassungen nicht gut an die früher bestehenden historischen Institutionen hätten anknüpfen können, weil die öffentliche Meinung allzusehr dagegen war, daß es für die Bewohner der ehemaligen geistlichen Fürstentümer am Rhein ein Segen war, einem großen Staat einverleibt worden zu sein. Der neuen Blüte ihrer Städte konnte sich sein scharfes Auge nicht verschließen, obwohl vorher seine Sympathie bei den zer¬ störten alten Kleinstaaten war. Die französische Revolution war ihm von Jugend auf als die Quelle alles Unheils, an dem die Zeit litt, erschienen, aber als er ein Jahr vor seinem Tod Mirabeaus Schriften wieder las, schlug sein Herz „so laut für den Dämonischen, den Gewaltigsten unter allen", deren Lebenszeit die seinige berührt hatte, daß er sich um einen Abguß von Houdons Büste des Revolutions¬ helden bemühte, um sie in seinem Studier¬ zimmer immer vor sich zu haben. Von allen diesen Seiten lernt man ihn in seinen zahlreichen Briefen kennen. Diese sind schon vor mehr als siebzig Jahren in drei Bänden erschienen. Eine Auswahl neu herauszugeben wäre ein sehr verdienstliches Unternehmen. Sollte heute, wo durch Neu¬ drucke so viele alte Bücher, die besser verschollen blieben, zu einem zweiten Leben herausgerufen werden, sich nicht ein Verleger finden, der es damit wagen wollte? Dr. Lügen Guglia-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/404>, abgerufen am 17.06.2024.