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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Schicksalsstunde der deutschen Tandwirtschaft

Aber ich mußte bald einsehen, daß der Kausalzusammenhang umgekehrt ist.
Nicht das ist das erste, daß die Fremden kommen und den Einheimischen das
Brot nehmen. Sondern umgekehrt: erst ziehen die Einheimischen fort und dann
kommen die Fremden herein. Das Wegziehen der Einheimischen ist somit das
Wichtigste für uns. Darin liegt eigentlich das Unglück und die Gefahr.

Woher kommt diese Flucht?

In zwei Sätzen ist es verständlich gemacht.

Unsere Industrie hat sich ihren Anteil an der Weltbeute zu erobern gewußt
und zieht mit Macht alle verfügbaren, insbesondere aber die besten Arbeitskräfte an
sich, um ihre lohnende Arbeit bewältigen zu können. Darum branden aber auch,
wie von übermenschlicher Gewalt gesogen und gezogen, alle unsere Nachbar¬
völker über unsere Grenzen herein: Italiener, Holländer, Dänen, Czechen, Polen
und Ruthenen, um auch an dieser Vermehrung der Arbeitsgelegenheit teil¬
zunehmen.

Dieser Zusammenhang hat schon zur Vertrocknung der großen deutschen Aus¬
wanderung nach Nordamerika geführt; sie ist auf den geringsten Stand gesunken,
den sie nur erreichen kann: auf dreizigtausend Menschen jährlich. Soviel
werden immer auswandern, nichr aus Not, sondern weil die schon Ausgewanderten
sie nachziehen.

An Stelle dieser Auswanderung hat Deutschland eine Einwanderung bekommen
von einhunderttausend Köpfen solcher, die bleiben und von ungefähr neunhundert¬
tausend, die als Saisonarbeiter im Frühjahre kommen und im November wieder
gehen. Diese erhalten sozusagen einen Weihnachtsurlaub. Nebenbei gesagt
hat diese Entwicklung unsere Kolonialpolitik geradezu zu einem Anachronismus
gemacht, wenigstens wie sie vor zwanzig Jahren verstanden und begründet wurde,
nämlich unter dem Gesichtspunkt, daß wir um unseres Menschenüberschusses
Willen ein neues Deutschland suchen müßten. Wir haben keinen Menschenüberschuß
mehr, sondern Menschenmangel. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden I
Und für das deutsche Volk Bauernkolonien außerhalb der Reichsgrenzen gründen
wollen, wäre ein Vergehen an der Nation zu einer Zeit, da das deutsche
Volk den Fuß aus seinen ältesten Koloniallanden, vom ererbten Boden zurückzieht.

Rein wirtschaftlich angesehen erscheint unsere Entwicklung als ein Glück. Sie
beweist, daß das deutsche Volk es verstanden hat, von dem Aufblühen der Welt¬
wirtschaft, von den vermehrten Gütern, welche die Eroberung der Erde den
Kulturvölkern zuweist, von der Weltbeute einen guten Teil an sich zu nehmen.
Darauf können wir stolz sein.

Aber dieser wirtschaftliche Fortschritt hat kulturelle und politische Nachteile.
Nun soll die wirtschaftliche Politik des nächsten Jahrzehnts nicht etwa sein: die
Entwicklung unserer Weltindustrie aufzuhalten. Im Gegenteil, möge sie wachsen!
Aber daneben müssen wir dafür forgen, daß wir im wirtschaftlichen Glück nicht
kulturell krank werden. Und darum müssen wir auch die Kehrseite unserer
wirtschaftlichen Blüte ernsthaft betrachten.


Die Schicksalsstunde der deutschen Tandwirtschaft

Aber ich mußte bald einsehen, daß der Kausalzusammenhang umgekehrt ist.
Nicht das ist das erste, daß die Fremden kommen und den Einheimischen das
Brot nehmen. Sondern umgekehrt: erst ziehen die Einheimischen fort und dann
kommen die Fremden herein. Das Wegziehen der Einheimischen ist somit das
Wichtigste für uns. Darin liegt eigentlich das Unglück und die Gefahr.

Woher kommt diese Flucht?

In zwei Sätzen ist es verständlich gemacht.

Unsere Industrie hat sich ihren Anteil an der Weltbeute zu erobern gewußt
und zieht mit Macht alle verfügbaren, insbesondere aber die besten Arbeitskräfte an
sich, um ihre lohnende Arbeit bewältigen zu können. Darum branden aber auch,
wie von übermenschlicher Gewalt gesogen und gezogen, alle unsere Nachbar¬
völker über unsere Grenzen herein: Italiener, Holländer, Dänen, Czechen, Polen
und Ruthenen, um auch an dieser Vermehrung der Arbeitsgelegenheit teil¬
zunehmen.

Dieser Zusammenhang hat schon zur Vertrocknung der großen deutschen Aus¬
wanderung nach Nordamerika geführt; sie ist auf den geringsten Stand gesunken,
den sie nur erreichen kann: auf dreizigtausend Menschen jährlich. Soviel
werden immer auswandern, nichr aus Not, sondern weil die schon Ausgewanderten
sie nachziehen.

An Stelle dieser Auswanderung hat Deutschland eine Einwanderung bekommen
von einhunderttausend Köpfen solcher, die bleiben und von ungefähr neunhundert¬
tausend, die als Saisonarbeiter im Frühjahre kommen und im November wieder
gehen. Diese erhalten sozusagen einen Weihnachtsurlaub. Nebenbei gesagt
hat diese Entwicklung unsere Kolonialpolitik geradezu zu einem Anachronismus
gemacht, wenigstens wie sie vor zwanzig Jahren verstanden und begründet wurde,
nämlich unter dem Gesichtspunkt, daß wir um unseres Menschenüberschusses
Willen ein neues Deutschland suchen müßten. Wir haben keinen Menschenüberschuß
mehr, sondern Menschenmangel. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden I
Und für das deutsche Volk Bauernkolonien außerhalb der Reichsgrenzen gründen
wollen, wäre ein Vergehen an der Nation zu einer Zeit, da das deutsche
Volk den Fuß aus seinen ältesten Koloniallanden, vom ererbten Boden zurückzieht.

Rein wirtschaftlich angesehen erscheint unsere Entwicklung als ein Glück. Sie
beweist, daß das deutsche Volk es verstanden hat, von dem Aufblühen der Welt¬
wirtschaft, von den vermehrten Gütern, welche die Eroberung der Erde den
Kulturvölkern zuweist, von der Weltbeute einen guten Teil an sich zu nehmen.
Darauf können wir stolz sein.

Aber dieser wirtschaftliche Fortschritt hat kulturelle und politische Nachteile.
Nun soll die wirtschaftliche Politik des nächsten Jahrzehnts nicht etwa sein: die
Entwicklung unserer Weltindustrie aufzuhalten. Im Gegenteil, möge sie wachsen!
Aber daneben müssen wir dafür forgen, daß wir im wirtschaftlichen Glück nicht
kulturell krank werden. Und darum müssen wir auch die Kehrseite unserer
wirtschaftlichen Blüte ernsthaft betrachten.


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[0418] Die Schicksalsstunde der deutschen Tandwirtschaft Aber ich mußte bald einsehen, daß der Kausalzusammenhang umgekehrt ist. Nicht das ist das erste, daß die Fremden kommen und den Einheimischen das Brot nehmen. Sondern umgekehrt: erst ziehen die Einheimischen fort und dann kommen die Fremden herein. Das Wegziehen der Einheimischen ist somit das Wichtigste für uns. Darin liegt eigentlich das Unglück und die Gefahr. Woher kommt diese Flucht? In zwei Sätzen ist es verständlich gemacht. Unsere Industrie hat sich ihren Anteil an der Weltbeute zu erobern gewußt und zieht mit Macht alle verfügbaren, insbesondere aber die besten Arbeitskräfte an sich, um ihre lohnende Arbeit bewältigen zu können. Darum branden aber auch, wie von übermenschlicher Gewalt gesogen und gezogen, alle unsere Nachbar¬ völker über unsere Grenzen herein: Italiener, Holländer, Dänen, Czechen, Polen und Ruthenen, um auch an dieser Vermehrung der Arbeitsgelegenheit teil¬ zunehmen. Dieser Zusammenhang hat schon zur Vertrocknung der großen deutschen Aus¬ wanderung nach Nordamerika geführt; sie ist auf den geringsten Stand gesunken, den sie nur erreichen kann: auf dreizigtausend Menschen jährlich. Soviel werden immer auswandern, nichr aus Not, sondern weil die schon Ausgewanderten sie nachziehen. An Stelle dieser Auswanderung hat Deutschland eine Einwanderung bekommen von einhunderttausend Köpfen solcher, die bleiben und von ungefähr neunhundert¬ tausend, die als Saisonarbeiter im Frühjahre kommen und im November wieder gehen. Diese erhalten sozusagen einen Weihnachtsurlaub. Nebenbei gesagt hat diese Entwicklung unsere Kolonialpolitik geradezu zu einem Anachronismus gemacht, wenigstens wie sie vor zwanzig Jahren verstanden und begründet wurde, nämlich unter dem Gesichtspunkt, daß wir um unseres Menschenüberschusses Willen ein neues Deutschland suchen müßten. Wir haben keinen Menschenüberschuß mehr, sondern Menschenmangel. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden I Und für das deutsche Volk Bauernkolonien außerhalb der Reichsgrenzen gründen wollen, wäre ein Vergehen an der Nation zu einer Zeit, da das deutsche Volk den Fuß aus seinen ältesten Koloniallanden, vom ererbten Boden zurückzieht. Rein wirtschaftlich angesehen erscheint unsere Entwicklung als ein Glück. Sie beweist, daß das deutsche Volk es verstanden hat, von dem Aufblühen der Welt¬ wirtschaft, von den vermehrten Gütern, welche die Eroberung der Erde den Kulturvölkern zuweist, von der Weltbeute einen guten Teil an sich zu nehmen. Darauf können wir stolz sein. Aber dieser wirtschaftliche Fortschritt hat kulturelle und politische Nachteile. Nun soll die wirtschaftliche Politik des nächsten Jahrzehnts nicht etwa sein: die Entwicklung unserer Weltindustrie aufzuhalten. Im Gegenteil, möge sie wachsen! Aber daneben müssen wir dafür forgen, daß wir im wirtschaftlichen Glück nicht kulturell krank werden. Und darum müssen wir auch die Kehrseite unserer wirtschaftlichen Blüte ernsthaft betrachten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/418>, abgerufen am 17.06.2024.