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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

leitet -- der erste, der sich solcher Verleitung
schuldig gemacht hat, ist Thüren gewesen --,
die Landwirtschaft vorzugsweise oder rein kauf¬
männisch aufzufassen. Unsere "rationellen"
Landwirte tun das ja schon zumeist. Als sie
vor dreißig Jahren klagten, rief man ihnen
von links her zu: "Die Landwirtschaft ist ein
Geschäft wie jedes andere Geschäft und will
kaufmännisch betrieben werden; weil ihr das
nicht versteht, seid ihr in Not geraten," Sie
haben es seitdem gelernt, und nun ist es den¬
selben Herren wieder nicht recht. Als vor einem
Jahre eine landwirtschaftliche Genossenschaft
Maßregeln zur Hebung des Milchpreises vor¬
schlug, erklärte eine große und hochangesehene
demokratische Zeitung das für Wucher; Milch
sei ein VolkSnahrungSmittel, und Volksnah¬
rungsmittel dürften nicht so wie andere Waren
bloßnach kaufmännischen Grundsätzen behandelt
werden. Noch gefährlicher aber ist diese Be¬
Handlungsweise für die Volkswirtschaft. Eng¬
land hat den kaufmännischen Grundsatz: dort
kaufen, wo man am wohlfeilsten kauft, auch
auf die Nahrungsmittel angewandt, und ist
dadurch in die gefährliche Lage geraten, die
voriges Jahr der Transportarbeiterstreik grell
beleuchtet hat, und die der Grubenarbeiler-
cmsstand noch weiter beleuchtet.

Außer dieser Definition habe ich nur ein
paar Wendungen von untergeordneter Be¬
deutung gefunden, deren Exaktheit mir an¬
fechtbar erscheint. Das allermeiste in dem
Buche ist unanfechtbar, zum Teil neu, und
durchweg von höchster Wichtigkeit. Um nie¬
mandem die Mühe des Selbstlesens zu er¬
sparen, unterdrücke ich die Lust, ein ausführ¬
liches Referat zu liefern, und hebe nur die
drei Einsichten hervor, deren Erschließung mir
als das Hauptverdienst des Werkes erscheint.
Die eine gilt der technischen Idee, die Wolf
als vierten Produkiionsfaktor den altbekannten:
Natur, Kapital, Arbeit zugesellt, die ohne
jenen vierten tot sind. Das zweite hochver¬
dienstliche ist eine völlig genügende Behand¬
lung der Bevölkerungslehre, in welcher genau
angegeben wird, in welchem Sinne und wie
weit das Gesetz von Malthus gilt. Es gilt
auch heute noch (abgesehen von seiner mathe¬
matischen Fassung, nur als Tendenz des
Menschengeschlechts, sich rascher und stärker
zu vermehren als die Nahrungsmittel) in

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ganz Asien und in Rußland, überall da, wo
noch der ungehemmte Naturtrieb waltet, im
Bunde mit Tradition und Religion. Es gilt
nicht mehr in den Kulturstaaten, bei deren
Bewohnern rechnerischer Rationalismus den
von Malthus empfohlenen moral restrsint
-- meistens nicht gerade auf sehr moralische
Weise -- schon übt. Besonders interessant ist
der in einem Anhang geführte Nachweis, daß
im Deutschen Reiche die Geburtenziffer ab¬
nimmt genau im Verhältnisse zur Zahl der
sozialdemokratischen Stimmen, die ein Wahl¬
kreis abgibt, und zunimmt genau im Ver¬
hältnis zur Zahl der Zentrumswühler des
Wahlkreises, (Dazu zwei kleine Ergänzungen.
Gury teilt in seinem Lmnponäiuml'KsoloAiÄe
morslis eine Anfrage des Bischofs Bouvier
von Sens mit, Wie sich die Beichtväter gegen¬
über den höchst verderblichen Praktiken Ver¬
halten sollten, die von fast allen jungen Ehe¬
männern zur Verhinderung der Zeugung geübt
würden. Weil die Beichtväter bisher danach
geforscht und dagegen geeifert hätten, mieden
die Männer den Beichtstuhl und drohe all¬
gemeine Unkirchlichkeit. Die Pönitentiarie ant¬
wortet darauf unterm 8, Juni 1842 mit Be¬
rufung auf Liguori: die Beichtväter hätten
nach solchen Dingen nicht zu fragen und nur
dann darauf einzugehen, wenn der Pönitent
oder die Pönitentin selbst davon spreche. Die
Franzosen schützt ihr Katholizismus nicht, weil
sie teils den Glauben verloren haben, teils
ihn, als Romanen, nicht ernst nehmen; der
Deutsche nimmt alles ernst, also, wenn er
Katholik ist, auch die ihm von seiner Kirche
auferlegten Gewissenspflichten; das macht die
Katholiken vorläufig noch, mit Wolf zu reden,
zum Pivot der Volksvermehrung in Deutsch¬
land. Und zum anderen: die Krankheit hat
auch die deutschen Juden ergriffen, deren Zahl
nicht mehr durch Geburtenüberschuß, sondern
nur noch durch Zuwanderung aus dem Osten
wächst oder wenigstens sich erhält; einer der
jüdischen Autoren, die darüber klagen, Dr, Felix
Theilhaber, seufzt: "es ist überhaupt schon faul,
wenn der Fortpflanzungstrieb so durch den
Intellekt geregelt werden soll.") Sehr schön
zeigt Wolf, wie die heutige Politische Lage von
dieser Entwicklung beherrscht wird und in
Zukunft noch mehr beherrscht werden wird;
die gelbe Gefahr sei keine leere Einbildung.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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leitet — der erste, der sich solcher Verleitung
schuldig gemacht hat, ist Thüren gewesen —,
die Landwirtschaft vorzugsweise oder rein kauf¬
männisch aufzufassen. Unsere „rationellen"
Landwirte tun das ja schon zumeist. Als sie
vor dreißig Jahren klagten, rief man ihnen
von links her zu: „Die Landwirtschaft ist ein
Geschäft wie jedes andere Geschäft und will
kaufmännisch betrieben werden; weil ihr das
nicht versteht, seid ihr in Not geraten," Sie
haben es seitdem gelernt, und nun ist es den¬
selben Herren wieder nicht recht. Als vor einem
Jahre eine landwirtschaftliche Genossenschaft
Maßregeln zur Hebung des Milchpreises vor¬
schlug, erklärte eine große und hochangesehene
demokratische Zeitung das für Wucher; Milch
sei ein VolkSnahrungSmittel, und Volksnah¬
rungsmittel dürften nicht so wie andere Waren
bloßnach kaufmännischen Grundsätzen behandelt
werden. Noch gefährlicher aber ist diese Be¬
Handlungsweise für die Volkswirtschaft. Eng¬
land hat den kaufmännischen Grundsatz: dort
kaufen, wo man am wohlfeilsten kauft, auch
auf die Nahrungsmittel angewandt, und ist
dadurch in die gefährliche Lage geraten, die
voriges Jahr der Transportarbeiterstreik grell
beleuchtet hat, und die der Grubenarbeiler-
cmsstand noch weiter beleuchtet.

Außer dieser Definition habe ich nur ein
paar Wendungen von untergeordneter Be¬
deutung gefunden, deren Exaktheit mir an¬
fechtbar erscheint. Das allermeiste in dem
Buche ist unanfechtbar, zum Teil neu, und
durchweg von höchster Wichtigkeit. Um nie¬
mandem die Mühe des Selbstlesens zu er¬
sparen, unterdrücke ich die Lust, ein ausführ¬
liches Referat zu liefern, und hebe nur die
drei Einsichten hervor, deren Erschließung mir
als das Hauptverdienst des Werkes erscheint.
Die eine gilt der technischen Idee, die Wolf
als vierten Produkiionsfaktor den altbekannten:
Natur, Kapital, Arbeit zugesellt, die ohne
jenen vierten tot sind. Das zweite hochver¬
dienstliche ist eine völlig genügende Behand¬
lung der Bevölkerungslehre, in welcher genau
angegeben wird, in welchem Sinne und wie
weit das Gesetz von Malthus gilt. Es gilt
auch heute noch (abgesehen von seiner mathe¬
matischen Fassung, nur als Tendenz des
Menschengeschlechts, sich rascher und stärker
zu vermehren als die Nahrungsmittel) in

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ganz Asien und in Rußland, überall da, wo
noch der ungehemmte Naturtrieb waltet, im
Bunde mit Tradition und Religion. Es gilt
nicht mehr in den Kulturstaaten, bei deren
Bewohnern rechnerischer Rationalismus den
von Malthus empfohlenen moral restrsint
— meistens nicht gerade auf sehr moralische
Weise — schon übt. Besonders interessant ist
der in einem Anhang geführte Nachweis, daß
im Deutschen Reiche die Geburtenziffer ab¬
nimmt genau im Verhältnisse zur Zahl der
sozialdemokratischen Stimmen, die ein Wahl¬
kreis abgibt, und zunimmt genau im Ver¬
hältnis zur Zahl der Zentrumswühler des
Wahlkreises, (Dazu zwei kleine Ergänzungen.
Gury teilt in seinem Lmnponäiuml'KsoloAiÄe
morslis eine Anfrage des Bischofs Bouvier
von Sens mit, Wie sich die Beichtväter gegen¬
über den höchst verderblichen Praktiken Ver¬
halten sollten, die von fast allen jungen Ehe¬
männern zur Verhinderung der Zeugung geübt
würden. Weil die Beichtväter bisher danach
geforscht und dagegen geeifert hätten, mieden
die Männer den Beichtstuhl und drohe all¬
gemeine Unkirchlichkeit. Die Pönitentiarie ant¬
wortet darauf unterm 8, Juni 1842 mit Be¬
rufung auf Liguori: die Beichtväter hätten
nach solchen Dingen nicht zu fragen und nur
dann darauf einzugehen, wenn der Pönitent
oder die Pönitentin selbst davon spreche. Die
Franzosen schützt ihr Katholizismus nicht, weil
sie teils den Glauben verloren haben, teils
ihn, als Romanen, nicht ernst nehmen; der
Deutsche nimmt alles ernst, also, wenn er
Katholik ist, auch die ihm von seiner Kirche
auferlegten Gewissenspflichten; das macht die
Katholiken vorläufig noch, mit Wolf zu reden,
zum Pivot der Volksvermehrung in Deutsch¬
land. Und zum anderen: die Krankheit hat
auch die deutschen Juden ergriffen, deren Zahl
nicht mehr durch Geburtenüberschuß, sondern
nur noch durch Zuwanderung aus dem Osten
wächst oder wenigstens sich erhält; einer der
jüdischen Autoren, die darüber klagen, Dr, Felix
Theilhaber, seufzt: „es ist überhaupt schon faul,
wenn der Fortpflanzungstrieb so durch den
Intellekt geregelt werden soll.") Sehr schön
zeigt Wolf, wie die heutige Politische Lage von
dieser Entwicklung beherrscht wird und in
Zukunft noch mehr beherrscht werden wird;
die gelbe Gefahr sei keine leere Einbildung.

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[0456] Maßgebliches und Unmaßgebliches leitet — der erste, der sich solcher Verleitung schuldig gemacht hat, ist Thüren gewesen —, die Landwirtschaft vorzugsweise oder rein kauf¬ männisch aufzufassen. Unsere „rationellen" Landwirte tun das ja schon zumeist. Als sie vor dreißig Jahren klagten, rief man ihnen von links her zu: „Die Landwirtschaft ist ein Geschäft wie jedes andere Geschäft und will kaufmännisch betrieben werden; weil ihr das nicht versteht, seid ihr in Not geraten," Sie haben es seitdem gelernt, und nun ist es den¬ selben Herren wieder nicht recht. Als vor einem Jahre eine landwirtschaftliche Genossenschaft Maßregeln zur Hebung des Milchpreises vor¬ schlug, erklärte eine große und hochangesehene demokratische Zeitung das für Wucher; Milch sei ein VolkSnahrungSmittel, und Volksnah¬ rungsmittel dürften nicht so wie andere Waren bloßnach kaufmännischen Grundsätzen behandelt werden. Noch gefährlicher aber ist diese Be¬ Handlungsweise für die Volkswirtschaft. Eng¬ land hat den kaufmännischen Grundsatz: dort kaufen, wo man am wohlfeilsten kauft, auch auf die Nahrungsmittel angewandt, und ist dadurch in die gefährliche Lage geraten, die voriges Jahr der Transportarbeiterstreik grell beleuchtet hat, und die der Grubenarbeiler- cmsstand noch weiter beleuchtet. Außer dieser Definition habe ich nur ein paar Wendungen von untergeordneter Be¬ deutung gefunden, deren Exaktheit mir an¬ fechtbar erscheint. Das allermeiste in dem Buche ist unanfechtbar, zum Teil neu, und durchweg von höchster Wichtigkeit. Um nie¬ mandem die Mühe des Selbstlesens zu er¬ sparen, unterdrücke ich die Lust, ein ausführ¬ liches Referat zu liefern, und hebe nur die drei Einsichten hervor, deren Erschließung mir als das Hauptverdienst des Werkes erscheint. Die eine gilt der technischen Idee, die Wolf als vierten Produkiionsfaktor den altbekannten: Natur, Kapital, Arbeit zugesellt, die ohne jenen vierten tot sind. Das zweite hochver¬ dienstliche ist eine völlig genügende Behand¬ lung der Bevölkerungslehre, in welcher genau angegeben wird, in welchem Sinne und wie weit das Gesetz von Malthus gilt. Es gilt auch heute noch (abgesehen von seiner mathe¬ matischen Fassung, nur als Tendenz des Menschengeschlechts, sich rascher und stärker zu vermehren als die Nahrungsmittel) in ganz Asien und in Rußland, überall da, wo noch der ungehemmte Naturtrieb waltet, im Bunde mit Tradition und Religion. Es gilt nicht mehr in den Kulturstaaten, bei deren Bewohnern rechnerischer Rationalismus den von Malthus empfohlenen moral restrsint — meistens nicht gerade auf sehr moralische Weise — schon übt. Besonders interessant ist der in einem Anhang geführte Nachweis, daß im Deutschen Reiche die Geburtenziffer ab¬ nimmt genau im Verhältnisse zur Zahl der sozialdemokratischen Stimmen, die ein Wahl¬ kreis abgibt, und zunimmt genau im Ver¬ hältnis zur Zahl der Zentrumswühler des Wahlkreises, (Dazu zwei kleine Ergänzungen. Gury teilt in seinem Lmnponäiuml'KsoloAiÄe morslis eine Anfrage des Bischofs Bouvier von Sens mit, Wie sich die Beichtväter gegen¬ über den höchst verderblichen Praktiken Ver¬ halten sollten, die von fast allen jungen Ehe¬ männern zur Verhinderung der Zeugung geübt würden. Weil die Beichtväter bisher danach geforscht und dagegen geeifert hätten, mieden die Männer den Beichtstuhl und drohe all¬ gemeine Unkirchlichkeit. Die Pönitentiarie ant¬ wortet darauf unterm 8, Juni 1842 mit Be¬ rufung auf Liguori: die Beichtväter hätten nach solchen Dingen nicht zu fragen und nur dann darauf einzugehen, wenn der Pönitent oder die Pönitentin selbst davon spreche. Die Franzosen schützt ihr Katholizismus nicht, weil sie teils den Glauben verloren haben, teils ihn, als Romanen, nicht ernst nehmen; der Deutsche nimmt alles ernst, also, wenn er Katholik ist, auch die ihm von seiner Kirche auferlegten Gewissenspflichten; das macht die Katholiken vorläufig noch, mit Wolf zu reden, zum Pivot der Volksvermehrung in Deutsch¬ land. Und zum anderen: die Krankheit hat auch die deutschen Juden ergriffen, deren Zahl nicht mehr durch Geburtenüberschuß, sondern nur noch durch Zuwanderung aus dem Osten wächst oder wenigstens sich erhält; einer der jüdischen Autoren, die darüber klagen, Dr, Felix Theilhaber, seufzt: „es ist überhaupt schon faul, wenn der Fortpflanzungstrieb so durch den Intellekt geregelt werden soll.") Sehr schön zeigt Wolf, wie die heutige Politische Lage von dieser Entwicklung beherrscht wird und in Zukunft noch mehr beherrscht werden wird; die gelbe Gefahr sei keine leere Einbildung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/456>, abgerufen am 17.06.2024.