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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Welche Praktischen Folgen ergeben sich
hieraus? Seit Jahren leiden wir darunter,
daß wir kein Volk mehr in Waffen sind; nur
noch 60 Prozent unserer militärtauglichen Be¬
völkerung wird alljährlich eingestellt, da wir
nicht genug Regimenter und Schiffe haben,
um alle Wehrfähigen und Tauglichen aus¬
zubilden. Dieser Prozentsatz wird noch verstärkt
durch die große Zahl der jungen Elemente, die
schon, ehe sie militärpflichtig geworden sind,
so viele Gefängnis- und Zuchthausstrafen er¬
leiden, daß sie infolge ihres Ehrverlustes ent¬
weder auf lange Zeit hinaus nicht oder wegen
vorgerücktenLebensalters nicht mehr einstellbar,
oder infolge Zuchthausstrafe dauernd unfähig
zum Militärdienst geworden sind. Dadurch
ist Gefängnis- und Zuchthausstrafe eine Prämie
für bewiesene Ehrlosigkeit geworden. Es gibt
Elemente, und sie sind nicht allzuselten, die
eine strafbare Handlung begehen und es auf
Ehrverlust und Zuchthausstrafe ankommen
lassen, um dem körperlich anstrengenden Mi¬
litärdienste zu entgehen. Die ehrenvoll ge¬
sinnten jungen Leute müssen ihrer Dienstpflicht
genügen, absichtlich unehrenvoll denkende aber
drücken sich mit Hilfe des Gesetzes und des
Zuchthauses um diese Pflicht gegen das Vater¬
land, gegen die Allgemeinheit herum. So
gut wie die ehrenhaften jungen Leute zwei
und drei Jahre ihrer für sie wertvollen wirt¬
schaftlichen Lebenszeit dem Vaterlande opfern
müssen, ebenso wäre es nur eine Forderung
der Billigkeit und der ausgleichenden Ge¬
rechtigkeit, daß die Drückeberger, die wegen
Ehrverlust und Zuchthausstrafe nicht in das
Heer eingestellt werden können, zwei oder
drei Jahre außer ihrer Strafe in Arbeiter¬
abteilungen des Militärs untergebracht wür¬
den, wo sie ini Dienste des Vaterlandes
genau so lange unentgeltlich arbeiten müßten,
als die anderen zu dienen verpflichtet sind
Heute lachen sie sich ins Fäustchen, weil
sie sich sagen, das Soldatsein und das Ar¬
beiten für den Staat ist "für die Dummen".
An eine Aufhebung der gesetzlichen Bestim¬
mungen, die den Ausschluß vom Militär
verlangen, darf man nicht denken, denn
der Staat ist es seinen guten Söhnen
schuldig, daß er sie vor der Berührung
mit diesen bösartigen, pestartigen Elementen
bewahrt.

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Aber die Sache hat noch eine viel ge¬
wichtigere Seite. In den vergangenen Jahren
waren die Zeitungen immer voll von Ent¬
rüstung über die französische Fremdenlegion,
namentlich darüber, daß diese sich annähernd
zur Hälfte aus deutschen Landeskindern re¬
krutiert, die also unter Umständen gezwungen
Werden, auf ihr eigen Fleisch und Blut in
einem Kriege Frankreichs gegen Deutschland
zu schießen. Man hätte sich nicht allein über diese
französische Fremdenlegion aufregen sollen! In
der holländischen Kolonialarmee, in der bri¬
tischen Arniee und Marine begegnen uns eben¬
soviel deutsche Söhne, die abseits gekommen
sind und den Weg durchs Leben verloren
haben. Woher bekommt denn England immer
sein Menschenmaterial, um seine Flotte, die
doppelt so groß ist wie die unserige, zu be¬
mannen, trotzdem es an Menschenzahl uns
unterlegen ist, trotzdem es die allgemeine
Wehrpflicht als seiner unwürdig ablehnt? In
den Gefängnissen und Zuchthäusern Deutsch¬
lands begegnen uns unzählige zu Krüppeln
geschossene oder sonstwie invalid gewordene
Leute, die uns davon erzählen, wie unsere
halb erwachsene, einmal verbrecherisch ge¬
wordene Jugend es als ihre letzte Hilfe und
als ihr letztes Asyl betrachtet, als Söldner
in die Armeen dieser fremden Länder ein¬
zutreten und dort auf Jahre hinaus der Sorge
für Obdach, Kleidung und Nahrung enthoben
zu sein. Es wundert einen das um so we¬
niger, als ja unsere Fürsorgevereine, Ge¬
fängnisvereine, Gefängnisgesellschaften bei der
hochgespannter Konkurrenz, die im Angebot der
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte herrscht,
von Jahr zu Jahr es immer schwerer haben,
die Nachwirkungen und Folgen der bürger¬
lichen Hinrichtung aufzuheben, die nun einmal
die Verurteilung zu Gefängnis und Zuchthaus
ewig sein und bleiben wird. Deshalb wäre
es eine unendliche soziale Wohltat, wenn das
Deutsche Reich einen Teil der Fürsorge für
entlassene Gefangene auf seine Tasche nehmen
würde und eine aus Söldnern bestehende
Kolonialarmee schüfe, in der nicht ängstlich
nach polizeilichem Sittenattest und bürger¬
lichem Nationale gefragt würde, sondern wo
all den gestrandeten Elementen unseres Volks¬
körpers, die unter der Konkurrenz des mo¬
dernen Erwerbslebens unrettbar unter die

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Welche Praktischen Folgen ergeben sich
hieraus? Seit Jahren leiden wir darunter,
daß wir kein Volk mehr in Waffen sind; nur
noch 60 Prozent unserer militärtauglichen Be¬
völkerung wird alljährlich eingestellt, da wir
nicht genug Regimenter und Schiffe haben,
um alle Wehrfähigen und Tauglichen aus¬
zubilden. Dieser Prozentsatz wird noch verstärkt
durch die große Zahl der jungen Elemente, die
schon, ehe sie militärpflichtig geworden sind,
so viele Gefängnis- und Zuchthausstrafen er¬
leiden, daß sie infolge ihres Ehrverlustes ent¬
weder auf lange Zeit hinaus nicht oder wegen
vorgerücktenLebensalters nicht mehr einstellbar,
oder infolge Zuchthausstrafe dauernd unfähig
zum Militärdienst geworden sind. Dadurch
ist Gefängnis- und Zuchthausstrafe eine Prämie
für bewiesene Ehrlosigkeit geworden. Es gibt
Elemente, und sie sind nicht allzuselten, die
eine strafbare Handlung begehen und es auf
Ehrverlust und Zuchthausstrafe ankommen
lassen, um dem körperlich anstrengenden Mi¬
litärdienste zu entgehen. Die ehrenvoll ge¬
sinnten jungen Leute müssen ihrer Dienstpflicht
genügen, absichtlich unehrenvoll denkende aber
drücken sich mit Hilfe des Gesetzes und des
Zuchthauses um diese Pflicht gegen das Vater¬
land, gegen die Allgemeinheit herum. So
gut wie die ehrenhaften jungen Leute zwei
und drei Jahre ihrer für sie wertvollen wirt¬
schaftlichen Lebenszeit dem Vaterlande opfern
müssen, ebenso wäre es nur eine Forderung
der Billigkeit und der ausgleichenden Ge¬
rechtigkeit, daß die Drückeberger, die wegen
Ehrverlust und Zuchthausstrafe nicht in das
Heer eingestellt werden können, zwei oder
drei Jahre außer ihrer Strafe in Arbeiter¬
abteilungen des Militärs untergebracht wür¬
den, wo sie ini Dienste des Vaterlandes
genau so lange unentgeltlich arbeiten müßten,
als die anderen zu dienen verpflichtet sind
Heute lachen sie sich ins Fäustchen, weil
sie sich sagen, das Soldatsein und das Ar¬
beiten für den Staat ist „für die Dummen".
An eine Aufhebung der gesetzlichen Bestim¬
mungen, die den Ausschluß vom Militär
verlangen, darf man nicht denken, denn
der Staat ist es seinen guten Söhnen
schuldig, daß er sie vor der Berührung
mit diesen bösartigen, pestartigen Elementen
bewahrt.

[Spaltenumbruch]

Aber die Sache hat noch eine viel ge¬
wichtigere Seite. In den vergangenen Jahren
waren die Zeitungen immer voll von Ent¬
rüstung über die französische Fremdenlegion,
namentlich darüber, daß diese sich annähernd
zur Hälfte aus deutschen Landeskindern re¬
krutiert, die also unter Umständen gezwungen
Werden, auf ihr eigen Fleisch und Blut in
einem Kriege Frankreichs gegen Deutschland
zu schießen. Man hätte sich nicht allein über diese
französische Fremdenlegion aufregen sollen! In
der holländischen Kolonialarmee, in der bri¬
tischen Arniee und Marine begegnen uns eben¬
soviel deutsche Söhne, die abseits gekommen
sind und den Weg durchs Leben verloren
haben. Woher bekommt denn England immer
sein Menschenmaterial, um seine Flotte, die
doppelt so groß ist wie die unserige, zu be¬
mannen, trotzdem es an Menschenzahl uns
unterlegen ist, trotzdem es die allgemeine
Wehrpflicht als seiner unwürdig ablehnt? In
den Gefängnissen und Zuchthäusern Deutsch¬
lands begegnen uns unzählige zu Krüppeln
geschossene oder sonstwie invalid gewordene
Leute, die uns davon erzählen, wie unsere
halb erwachsene, einmal verbrecherisch ge¬
wordene Jugend es als ihre letzte Hilfe und
als ihr letztes Asyl betrachtet, als Söldner
in die Armeen dieser fremden Länder ein¬
zutreten und dort auf Jahre hinaus der Sorge
für Obdach, Kleidung und Nahrung enthoben
zu sein. Es wundert einen das um so we¬
niger, als ja unsere Fürsorgevereine, Ge¬
fängnisvereine, Gefängnisgesellschaften bei der
hochgespannter Konkurrenz, die im Angebot der
Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte herrscht,
von Jahr zu Jahr es immer schwerer haben,
die Nachwirkungen und Folgen der bürger¬
lichen Hinrichtung aufzuheben, die nun einmal
die Verurteilung zu Gefängnis und Zuchthaus
ewig sein und bleiben wird. Deshalb wäre
es eine unendliche soziale Wohltat, wenn das
Deutsche Reich einen Teil der Fürsorge für
entlassene Gefangene auf seine Tasche nehmen
würde und eine aus Söldnern bestehende
Kolonialarmee schüfe, in der nicht ängstlich
nach polizeilichem Sittenattest und bürger¬
lichem Nationale gefragt würde, sondern wo
all den gestrandeten Elementen unseres Volks¬
körpers, die unter der Konkurrenz des mo¬
dernen Erwerbslebens unrettbar unter die

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[0458] Maßgebliches und Unmaßgebliches Welche Praktischen Folgen ergeben sich hieraus? Seit Jahren leiden wir darunter, daß wir kein Volk mehr in Waffen sind; nur noch 60 Prozent unserer militärtauglichen Be¬ völkerung wird alljährlich eingestellt, da wir nicht genug Regimenter und Schiffe haben, um alle Wehrfähigen und Tauglichen aus¬ zubilden. Dieser Prozentsatz wird noch verstärkt durch die große Zahl der jungen Elemente, die schon, ehe sie militärpflichtig geworden sind, so viele Gefängnis- und Zuchthausstrafen er¬ leiden, daß sie infolge ihres Ehrverlustes ent¬ weder auf lange Zeit hinaus nicht oder wegen vorgerücktenLebensalters nicht mehr einstellbar, oder infolge Zuchthausstrafe dauernd unfähig zum Militärdienst geworden sind. Dadurch ist Gefängnis- und Zuchthausstrafe eine Prämie für bewiesene Ehrlosigkeit geworden. Es gibt Elemente, und sie sind nicht allzuselten, die eine strafbare Handlung begehen und es auf Ehrverlust und Zuchthausstrafe ankommen lassen, um dem körperlich anstrengenden Mi¬ litärdienste zu entgehen. Die ehrenvoll ge¬ sinnten jungen Leute müssen ihrer Dienstpflicht genügen, absichtlich unehrenvoll denkende aber drücken sich mit Hilfe des Gesetzes und des Zuchthauses um diese Pflicht gegen das Vater¬ land, gegen die Allgemeinheit herum. So gut wie die ehrenhaften jungen Leute zwei und drei Jahre ihrer für sie wertvollen wirt¬ schaftlichen Lebenszeit dem Vaterlande opfern müssen, ebenso wäre es nur eine Forderung der Billigkeit und der ausgleichenden Ge¬ rechtigkeit, daß die Drückeberger, die wegen Ehrverlust und Zuchthausstrafe nicht in das Heer eingestellt werden können, zwei oder drei Jahre außer ihrer Strafe in Arbeiter¬ abteilungen des Militärs untergebracht wür¬ den, wo sie ini Dienste des Vaterlandes genau so lange unentgeltlich arbeiten müßten, als die anderen zu dienen verpflichtet sind Heute lachen sie sich ins Fäustchen, weil sie sich sagen, das Soldatsein und das Ar¬ beiten für den Staat ist „für die Dummen". An eine Aufhebung der gesetzlichen Bestim¬ mungen, die den Ausschluß vom Militär verlangen, darf man nicht denken, denn der Staat ist es seinen guten Söhnen schuldig, daß er sie vor der Berührung mit diesen bösartigen, pestartigen Elementen bewahrt. Aber die Sache hat noch eine viel ge¬ wichtigere Seite. In den vergangenen Jahren waren die Zeitungen immer voll von Ent¬ rüstung über die französische Fremdenlegion, namentlich darüber, daß diese sich annähernd zur Hälfte aus deutschen Landeskindern re¬ krutiert, die also unter Umständen gezwungen Werden, auf ihr eigen Fleisch und Blut in einem Kriege Frankreichs gegen Deutschland zu schießen. Man hätte sich nicht allein über diese französische Fremdenlegion aufregen sollen! In der holländischen Kolonialarmee, in der bri¬ tischen Arniee und Marine begegnen uns eben¬ soviel deutsche Söhne, die abseits gekommen sind und den Weg durchs Leben verloren haben. Woher bekommt denn England immer sein Menschenmaterial, um seine Flotte, die doppelt so groß ist wie die unserige, zu be¬ mannen, trotzdem es an Menschenzahl uns unterlegen ist, trotzdem es die allgemeine Wehrpflicht als seiner unwürdig ablehnt? In den Gefängnissen und Zuchthäusern Deutsch¬ lands begegnen uns unzählige zu Krüppeln geschossene oder sonstwie invalid gewordene Leute, die uns davon erzählen, wie unsere halb erwachsene, einmal verbrecherisch ge¬ wordene Jugend es als ihre letzte Hilfe und als ihr letztes Asyl betrachtet, als Söldner in die Armeen dieser fremden Länder ein¬ zutreten und dort auf Jahre hinaus der Sorge für Obdach, Kleidung und Nahrung enthoben zu sein. Es wundert einen das um so we¬ niger, als ja unsere Fürsorgevereine, Ge¬ fängnisvereine, Gefängnisgesellschaften bei der hochgespannter Konkurrenz, die im Angebot der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkte herrscht, von Jahr zu Jahr es immer schwerer haben, die Nachwirkungen und Folgen der bürger¬ lichen Hinrichtung aufzuheben, die nun einmal die Verurteilung zu Gefängnis und Zuchthaus ewig sein und bleiben wird. Deshalb wäre es eine unendliche soziale Wohltat, wenn das Deutsche Reich einen Teil der Fürsorge für entlassene Gefangene auf seine Tasche nehmen würde und eine aus Söldnern bestehende Kolonialarmee schüfe, in der nicht ängstlich nach polizeilichem Sittenattest und bürger¬ lichem Nationale gefragt würde, sondern wo all den gestrandeten Elementen unseres Volks¬ körpers, die unter der Konkurrenz des mo¬ dernen Erwerbslebens unrettbar unter die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/458>, abgerufen am 17.06.2024.