Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
von alten Liedern

röslein", "Goldene Abendsonne", "Wohlauf noch getrunken", "Steh ich in
finstrer Mitternacht" herunter, und die ganze "Stunde" ist für die Ohren der
Hausbewohner höchst martervoll. Und zu Weihnachten oder vielleicht an einem
Geburtstag darf ein wohl eingepauktes Lied vorgetragen werden. Es lebt noch eine
Art von Tradition in vielen Häusern, daß die Kinder singen sollten und gewisse
Lieder kennen, aber die Tradition allein nützt nicht viel, wenn ihr Geist nicht
mehr lebt. Er kann auferweckt werden, und das ist das Feld der Mutter --
ein herrliches Feld. Sie hat ihr Privilegium nur vergessen -- von niemand
sollte sie es sich rauben lassen!

Gewiß gibt es unmusikalische Mütter, aber sie sind nicht die Regel in
Deutschland. Die meisten jedoch sind musikalisch verbildet. Ihr "Musikunterricht",
jammervoll wie er ist, steht wie eine Mauer zwischen ihnen und ihren Kindern.
Sie können ihn höchstens dazu verwenden, die gehaßten Übestunden zu beauf¬
sichtigen, wenn ihr Kind anfängt, denselben Weg zu gehen wie sie und dasselbe
Musikstroh zu dreschen. Sie wissen gar nicht, wie wunderschön es ist, im
Dämmerlicht mit seinen Kindern zu singen, keine einstudierten "Kinderchöre",
nein, alte schlichte Lieder, die ein Volk mit einem Kinderherzen gedichtet hat
und die noch heute stark und urkräftig sind. Sie würden ihren geraden Weg
in das Kinderherz finden.

Für Mütter, die Lust haben, diesen Weg zu gehen, und keine Lust, selbst
ein wenig zu forschen und zu graben, fehlt noch das Jdealsingebuch. Doch
das läßt sich beschaffen. Eine Überfülle von Material ist da, auch wenn wir
mit äußerster Strenge sichten und keine der Wachsperlen und Tait-Diamanten
der Silcher, Curschmann, Himmel, Hummel usw. durchpassieren lassen, selbst
wenn sie noch so "beliebt" sind. Es kann dem Buch dann leicht geschehen,
daß es zu gut wird, um wirklich populär zu werden, und das Schicksal des
Gesangbüchleins teilt, das Kaspar Melchior Haaß 1566 in Erfurt herausgab
und von dem er klagt: "daß sein Büchlein, so 6 Pfennig kostet, dem Verleger
mehrenteils sei liegen geblieben." (Dafür gehört es heut zu unseren kostbarsten
Schätzen.) Gleichviel, das Buch wird entstehen und wird in unserem alten,
lieben Deutschland seinen Weg finden zu denen, die es lieb haben. Wir sind
ja immer noch das alte Smgevolk -- wir haben nur ein bißchen vergessen,
was wir singen sollen und was wir für reiche Leute sind. Unsere Schätze fressen
Schaben und Motten. Wir wissen nichts mehr von ihnen. Mögen sie unseren
Kindern wiedererstehen!




von alten Liedern

röslein", „Goldene Abendsonne", „Wohlauf noch getrunken", „Steh ich in
finstrer Mitternacht" herunter, und die ganze „Stunde" ist für die Ohren der
Hausbewohner höchst martervoll. Und zu Weihnachten oder vielleicht an einem
Geburtstag darf ein wohl eingepauktes Lied vorgetragen werden. Es lebt noch eine
Art von Tradition in vielen Häusern, daß die Kinder singen sollten und gewisse
Lieder kennen, aber die Tradition allein nützt nicht viel, wenn ihr Geist nicht
mehr lebt. Er kann auferweckt werden, und das ist das Feld der Mutter —
ein herrliches Feld. Sie hat ihr Privilegium nur vergessen — von niemand
sollte sie es sich rauben lassen!

Gewiß gibt es unmusikalische Mütter, aber sie sind nicht die Regel in
Deutschland. Die meisten jedoch sind musikalisch verbildet. Ihr „Musikunterricht",
jammervoll wie er ist, steht wie eine Mauer zwischen ihnen und ihren Kindern.
Sie können ihn höchstens dazu verwenden, die gehaßten Übestunden zu beauf¬
sichtigen, wenn ihr Kind anfängt, denselben Weg zu gehen wie sie und dasselbe
Musikstroh zu dreschen. Sie wissen gar nicht, wie wunderschön es ist, im
Dämmerlicht mit seinen Kindern zu singen, keine einstudierten „Kinderchöre",
nein, alte schlichte Lieder, die ein Volk mit einem Kinderherzen gedichtet hat
und die noch heute stark und urkräftig sind. Sie würden ihren geraden Weg
in das Kinderherz finden.

Für Mütter, die Lust haben, diesen Weg zu gehen, und keine Lust, selbst
ein wenig zu forschen und zu graben, fehlt noch das Jdealsingebuch. Doch
das läßt sich beschaffen. Eine Überfülle von Material ist da, auch wenn wir
mit äußerster Strenge sichten und keine der Wachsperlen und Tait-Diamanten
der Silcher, Curschmann, Himmel, Hummel usw. durchpassieren lassen, selbst
wenn sie noch so „beliebt" sind. Es kann dem Buch dann leicht geschehen,
daß es zu gut wird, um wirklich populär zu werden, und das Schicksal des
Gesangbüchleins teilt, das Kaspar Melchior Haaß 1566 in Erfurt herausgab
und von dem er klagt: „daß sein Büchlein, so 6 Pfennig kostet, dem Verleger
mehrenteils sei liegen geblieben." (Dafür gehört es heut zu unseren kostbarsten
Schätzen.) Gleichviel, das Buch wird entstehen und wird in unserem alten,
lieben Deutschland seinen Weg finden zu denen, die es lieb haben. Wir sind
ja immer noch das alte Smgevolk — wir haben nur ein bißchen vergessen,
was wir singen sollen und was wir für reiche Leute sind. Unsere Schätze fressen
Schaben und Motten. Wir wissen nichts mehr von ihnen. Mögen sie unseren
Kindern wiedererstehen!




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0047" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321130"/>
          <fw type="header" place="top"> von alten Liedern</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_120" prev="#ID_119"> röslein", &#x201E;Goldene Abendsonne", &#x201E;Wohlauf noch getrunken", &#x201E;Steh ich in<lb/>
finstrer Mitternacht" herunter, und die ganze &#x201E;Stunde" ist für die Ohren der<lb/>
Hausbewohner höchst martervoll. Und zu Weihnachten oder vielleicht an einem<lb/>
Geburtstag darf ein wohl eingepauktes Lied vorgetragen werden. Es lebt noch eine<lb/>
Art von Tradition in vielen Häusern, daß die Kinder singen sollten und gewisse<lb/>
Lieder kennen, aber die Tradition allein nützt nicht viel, wenn ihr Geist nicht<lb/>
mehr lebt. Er kann auferweckt werden, und das ist das Feld der Mutter &#x2014;<lb/>
ein herrliches Feld. Sie hat ihr Privilegium nur vergessen &#x2014; von niemand<lb/>
sollte sie es sich rauben lassen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_121"> Gewiß gibt es unmusikalische Mütter, aber sie sind nicht die Regel in<lb/>
Deutschland. Die meisten jedoch sind musikalisch verbildet. Ihr &#x201E;Musikunterricht",<lb/>
jammervoll wie er ist, steht wie eine Mauer zwischen ihnen und ihren Kindern.<lb/>
Sie können ihn höchstens dazu verwenden, die gehaßten Übestunden zu beauf¬<lb/>
sichtigen, wenn ihr Kind anfängt, denselben Weg zu gehen wie sie und dasselbe<lb/>
Musikstroh zu dreschen. Sie wissen gar nicht, wie wunderschön es ist, im<lb/>
Dämmerlicht mit seinen Kindern zu singen, keine einstudierten &#x201E;Kinderchöre",<lb/>
nein, alte schlichte Lieder, die ein Volk mit einem Kinderherzen gedichtet hat<lb/>
und die noch heute stark und urkräftig sind. Sie würden ihren geraden Weg<lb/>
in das Kinderherz finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_122"> Für Mütter, die Lust haben, diesen Weg zu gehen, und keine Lust, selbst<lb/>
ein wenig zu forschen und zu graben, fehlt noch das Jdealsingebuch. Doch<lb/>
das läßt sich beschaffen. Eine Überfülle von Material ist da, auch wenn wir<lb/>
mit äußerster Strenge sichten und keine der Wachsperlen und Tait-Diamanten<lb/>
der Silcher, Curschmann, Himmel, Hummel usw. durchpassieren lassen, selbst<lb/>
wenn sie noch so &#x201E;beliebt" sind. Es kann dem Buch dann leicht geschehen,<lb/>
daß es zu gut wird, um wirklich populär zu werden, und das Schicksal des<lb/>
Gesangbüchleins teilt, das Kaspar Melchior Haaß 1566 in Erfurt herausgab<lb/>
und von dem er klagt: &#x201E;daß sein Büchlein, so 6 Pfennig kostet, dem Verleger<lb/>
mehrenteils sei liegen geblieben." (Dafür gehört es heut zu unseren kostbarsten<lb/>
Schätzen.) Gleichviel, das Buch wird entstehen und wird in unserem alten,<lb/>
lieben Deutschland seinen Weg finden zu denen, die es lieb haben. Wir sind<lb/>
ja immer noch das alte Smgevolk &#x2014; wir haben nur ein bißchen vergessen,<lb/>
was wir singen sollen und was wir für reiche Leute sind. Unsere Schätze fressen<lb/>
Schaben und Motten. Wir wissen nichts mehr von ihnen. Mögen sie unseren<lb/>
Kindern wiedererstehen!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0047] von alten Liedern röslein", „Goldene Abendsonne", „Wohlauf noch getrunken", „Steh ich in finstrer Mitternacht" herunter, und die ganze „Stunde" ist für die Ohren der Hausbewohner höchst martervoll. Und zu Weihnachten oder vielleicht an einem Geburtstag darf ein wohl eingepauktes Lied vorgetragen werden. Es lebt noch eine Art von Tradition in vielen Häusern, daß die Kinder singen sollten und gewisse Lieder kennen, aber die Tradition allein nützt nicht viel, wenn ihr Geist nicht mehr lebt. Er kann auferweckt werden, und das ist das Feld der Mutter — ein herrliches Feld. Sie hat ihr Privilegium nur vergessen — von niemand sollte sie es sich rauben lassen! Gewiß gibt es unmusikalische Mütter, aber sie sind nicht die Regel in Deutschland. Die meisten jedoch sind musikalisch verbildet. Ihr „Musikunterricht", jammervoll wie er ist, steht wie eine Mauer zwischen ihnen und ihren Kindern. Sie können ihn höchstens dazu verwenden, die gehaßten Übestunden zu beauf¬ sichtigen, wenn ihr Kind anfängt, denselben Weg zu gehen wie sie und dasselbe Musikstroh zu dreschen. Sie wissen gar nicht, wie wunderschön es ist, im Dämmerlicht mit seinen Kindern zu singen, keine einstudierten „Kinderchöre", nein, alte schlichte Lieder, die ein Volk mit einem Kinderherzen gedichtet hat und die noch heute stark und urkräftig sind. Sie würden ihren geraden Weg in das Kinderherz finden. Für Mütter, die Lust haben, diesen Weg zu gehen, und keine Lust, selbst ein wenig zu forschen und zu graben, fehlt noch das Jdealsingebuch. Doch das läßt sich beschaffen. Eine Überfülle von Material ist da, auch wenn wir mit äußerster Strenge sichten und keine der Wachsperlen und Tait-Diamanten der Silcher, Curschmann, Himmel, Hummel usw. durchpassieren lassen, selbst wenn sie noch so „beliebt" sind. Es kann dem Buch dann leicht geschehen, daß es zu gut wird, um wirklich populär zu werden, und das Schicksal des Gesangbüchleins teilt, das Kaspar Melchior Haaß 1566 in Erfurt herausgab und von dem er klagt: „daß sein Büchlein, so 6 Pfennig kostet, dem Verleger mehrenteils sei liegen geblieben." (Dafür gehört es heut zu unseren kostbarsten Schätzen.) Gleichviel, das Buch wird entstehen und wird in unserem alten, lieben Deutschland seinen Weg finden zu denen, die es lieb haben. Wir sind ja immer noch das alte Smgevolk — wir haben nur ein bißchen vergessen, was wir singen sollen und was wir für reiche Leute sind. Unsere Schätze fressen Schaben und Motten. Wir wissen nichts mehr von ihnen. Mögen sie unseren Kindern wiedererstehen!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/47
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/47>, abgerufen am 10.06.2024.