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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

allein bliebe übrig, so würde die deutsche Kraft genügen, die ganze übrige
Kultur Europas aus sich heraus wieder zu schaffen." Und schließlich umwölkte
der Hagelschauer des Tripoliskrieges die deutsch-türkische Freundschaft, und die
Andeutung des Großwesirs Said Pascha, die Türkei müsse und wolle Anschluß
und Allianz suchen, galt vielen als ein Fingerzeig nach England hin.

Heute ist das Bild gleich geblieben: noch keinerlei Bündnis. Der Krieg
hat bisher nur die vitale Interessiertheit aller Mächte an irgend einem Punkt
der Türkei geoffenbart und damit auch die Druckmöglichkeit aller Mächte auf
die Türkei. In der Kretafrage braucht die Türkei die Tripleentente und auf
dem Balkan die Dreibundspolitik. Eine generelle Entscheidung der Türkei für
die eine oder andre Gruppe würde die Gegenseite zur Gegnerschaft veranlassen
können, die wiederum Gefahren bringen könnte. Nur die deutschen und die
türkischen Tendenzen sind gleichmäßig und einheitlich und werden darum auch
ohne formelle Bindung im Ernstfall in der gleichen Richtung funktionieren. Doch
schon diese Eventualität belastet und erschwert die juugtürkische Renaissance.
Von einer vertrauensvollen Verständigung zwischen Deutschland und England
würde darum auch die Türkei nur gewinnen können.

Der größte Nationalökonom des vorigen Jahrhunderts, der "Bismarck des
Wirtschaftslebens". Friedrich List hat mit einer geradezu genialen Prophetie die
Revolutionierung der Türkei in ihrer Technik und Tendenz schon geschaut und
gezeichnet, genau wie wir selbst sie erlebt haben, samt dem türkischen Bagdad¬
bahnproblem und samt der deutschen Militärinstruktion, und ebenso auch die
englische Oricntpolitik mit ihren ägyptisch-arabisch-persisch-indischen Zusammen¬
hängen; er hat auch die deutsche Entwicklung gewollt und geahnt und die
englische Eifersüchtelei bereits gesehen, und er hat gegen solche Kleinlichkeit den
Kulturgedanken geschleudert:

"Wenn irgend etwas beweist, daß die höhere Politik noch in den Windeln
liegt, nämlich jene edlere Wissenschaft, jenes vernünftige Streben, daß -- die
Interessen der gesamten kultivierten Menschheit gegenüber der Barbarei als
eines betrachtend -- die Ausgleichung der Separatnationalinteressen und ihre
Vereinigung sich zum Ziele steckt, und welches zur herrschenden Politik, die nur
darauf auszugehen scheint, sich wechselseitig in den Fortschritten gegen die
Barbarei den Weg zu versperren, ungefähr in demselben Verhältnis steht, wie
die kurzsichtigste Munizipalpolitik zu der erleuchtetesten Staatspolitik; wenn, sagen
wir, etwas beweist, daß das, was man jetzt europäische Politik nennt, den
Bedürfnissen der europäischen Staaten und dem Kulturzustand der europäischen
Völker nicht entspreche, so sind es die Bewegungen der europäischen Diplomatie
im Orient, die wohl mit viel leichterer Mühe, als die Aufrechterhaltung der
Barbarei kostet, das westliche Asien der Kultur gewinnen könnte."

List hat damals (in den vierziger Jahren) gemahnt: "Die Engländer selbst
würden im Laufe der Zeit zur Einsicht gelangen, daß diese Weise unendlich
besser geeignet ist, ihre Handels- und Jndustrieinteressen zu befördern als ihr


Türkische Richtlinien

allein bliebe übrig, so würde die deutsche Kraft genügen, die ganze übrige
Kultur Europas aus sich heraus wieder zu schaffen." Und schließlich umwölkte
der Hagelschauer des Tripoliskrieges die deutsch-türkische Freundschaft, und die
Andeutung des Großwesirs Said Pascha, die Türkei müsse und wolle Anschluß
und Allianz suchen, galt vielen als ein Fingerzeig nach England hin.

Heute ist das Bild gleich geblieben: noch keinerlei Bündnis. Der Krieg
hat bisher nur die vitale Interessiertheit aller Mächte an irgend einem Punkt
der Türkei geoffenbart und damit auch die Druckmöglichkeit aller Mächte auf
die Türkei. In der Kretafrage braucht die Türkei die Tripleentente und auf
dem Balkan die Dreibundspolitik. Eine generelle Entscheidung der Türkei für
die eine oder andre Gruppe würde die Gegenseite zur Gegnerschaft veranlassen
können, die wiederum Gefahren bringen könnte. Nur die deutschen und die
türkischen Tendenzen sind gleichmäßig und einheitlich und werden darum auch
ohne formelle Bindung im Ernstfall in der gleichen Richtung funktionieren. Doch
schon diese Eventualität belastet und erschwert die juugtürkische Renaissance.
Von einer vertrauensvollen Verständigung zwischen Deutschland und England
würde darum auch die Türkei nur gewinnen können.

Der größte Nationalökonom des vorigen Jahrhunderts, der „Bismarck des
Wirtschaftslebens". Friedrich List hat mit einer geradezu genialen Prophetie die
Revolutionierung der Türkei in ihrer Technik und Tendenz schon geschaut und
gezeichnet, genau wie wir selbst sie erlebt haben, samt dem türkischen Bagdad¬
bahnproblem und samt der deutschen Militärinstruktion, und ebenso auch die
englische Oricntpolitik mit ihren ägyptisch-arabisch-persisch-indischen Zusammen¬
hängen; er hat auch die deutsche Entwicklung gewollt und geahnt und die
englische Eifersüchtelei bereits gesehen, und er hat gegen solche Kleinlichkeit den
Kulturgedanken geschleudert:

„Wenn irgend etwas beweist, daß die höhere Politik noch in den Windeln
liegt, nämlich jene edlere Wissenschaft, jenes vernünftige Streben, daß — die
Interessen der gesamten kultivierten Menschheit gegenüber der Barbarei als
eines betrachtend — die Ausgleichung der Separatnationalinteressen und ihre
Vereinigung sich zum Ziele steckt, und welches zur herrschenden Politik, die nur
darauf auszugehen scheint, sich wechselseitig in den Fortschritten gegen die
Barbarei den Weg zu versperren, ungefähr in demselben Verhältnis steht, wie
die kurzsichtigste Munizipalpolitik zu der erleuchtetesten Staatspolitik; wenn, sagen
wir, etwas beweist, daß das, was man jetzt europäische Politik nennt, den
Bedürfnissen der europäischen Staaten und dem Kulturzustand der europäischen
Völker nicht entspreche, so sind es die Bewegungen der europäischen Diplomatie
im Orient, die wohl mit viel leichterer Mühe, als die Aufrechterhaltung der
Barbarei kostet, das westliche Asien der Kultur gewinnen könnte."

List hat damals (in den vierziger Jahren) gemahnt: „Die Engländer selbst
würden im Laufe der Zeit zur Einsicht gelangen, daß diese Weise unendlich
besser geeignet ist, ihre Handels- und Jndustrieinteressen zu befördern als ihr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/523>, abgerufen am 17.06.2024.