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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ocnezianische Nacht

"Dann muß ich Ihnen eine Herzensgeschichte ausplaudern. Also, meinet¬
wegen. Eigentlich passen die düsteren Laternen dazu nicht so übel." Er zog
die Uhr. "Es geht noch ein Stündchen bis Schlafenszeit. Wenn Sie zuhören
wollen."

Ich rutschte tieser in den Stuhl hinein, kreuzte die Beine und versetzte
lächelnd: "Jetzt können Sie erzählen, meinethalben bis Mitternacht. Ich werde
Sie nie unterbrechen."

"Die Calle Cristoforo," begann er, "ist eines jener dunklen müssiger
Gäßchen, die Venedig in feinem Geäder nach allen Richtungen durchziehen. Im
Winter treffen die Sonnenstrahlen nur das fünfte Stockwerk unter dem Dache.
Die Leute hocken daher um die Mittagszeit, wenn sie nichts besonderes zu tun
haben, auf den warmen Steinfliesen der Piazza dal Frari, deckeln die Augen
zu, neigen den Kopf und lassen die Sonnenwärme durch die Glieder rieseln.
Im Sommer guckt die Sonne jeden Tag einmal in den tiefen schmalen Häuser¬
schacht und belächelt den hemdärmeligen Zocchelimacher, der mit einem drei
Schuh hohen Lehrjungen auf offener Straße hämmert, nagelt und schmilzt. Im
Nu entschwindet sie hinter der Giebelreihe, als ob der unangenehme Geruch von
Gemüsen, faulenden Früchten, Frittüren und Schusterpech sie verscheuchte.

Unweit dieses Gäßchens steht in massiger Behäbigkeit der verwitterte
Marmortempel dal Frari, dessen Ccunpanile, himmelhoch thronend über dem
Tun und Lassen der Menschen, ins Firmament sich zu bohren scheint.

Über dem grautuchig verhüllten Eingang des Eckhauses an der Calle
Cristoforo, wo ein breiter, von Abfallstoffen und Meersand getrübter Kanal
in die Quere sich legt und beißenden Tanggeruch verbreitet, steht mit ver¬
waschenen Buchstaben geschrieben: Liquori e Sel. "Seitz", sollte es heißen, aber
der Kalkbewurf war stark zerbröckelt und die Schlnßlettern fehlten.

Nebenan hielt eine häßliche Alte, die fast den ganzen Tag den Rücken
dunkelte, selig duselte und schnarchte, schöne Früchte feil. Ab und zu bemerkte
ich vor den Fruchtkörben ein Dirnlein mit bernsteinfarbener Haarkrone, deren
Glanz und Fülle meine Augen ganz berauschten. Einmal verschwand das
Mädchen mit dem vollen Teller in der kleinen Trinkstube, in die sie offenbar
hineingehörte, obschon das saubere, jugendfrische Gesicht nicht in die schmutzige
Gasse und das ärmliche Haus zu passen schien.

Das Archiv, in dem ich während der heißen Mitsommerszeit arbeitete,
wurde um drei Uhr geschlossen. Auf dem Heimwege betrat ich gewöhnlich die
erste beste Bar, um den grimmigen Durst zu löschen.

Warum sollte ich nicht einmal in der Buvette der schönen Blonden mein
Tamarindo a Seitz trinken? Kurz entschlossen lenkte ich die Schritte eines Abends
in die benachbarte Calle Cristoforo, teilte den grauen Vorhang und trat in das
niedrige Lokal. Zwei verkerbte und abgescheuerte Tischchen, blankgespülte Gläser
und halbgeleerte Likörflaschen bildeten die Ausstattung der kleinen Stube. Ich
fühlte mich indessen rasch wohl und heimisch. Die blauen niedergezogenen


Ocnezianische Nacht

„Dann muß ich Ihnen eine Herzensgeschichte ausplaudern. Also, meinet¬
wegen. Eigentlich passen die düsteren Laternen dazu nicht so übel." Er zog
die Uhr. „Es geht noch ein Stündchen bis Schlafenszeit. Wenn Sie zuhören
wollen."

Ich rutschte tieser in den Stuhl hinein, kreuzte die Beine und versetzte
lächelnd: „Jetzt können Sie erzählen, meinethalben bis Mitternacht. Ich werde
Sie nie unterbrechen."

„Die Calle Cristoforo," begann er, „ist eines jener dunklen müssiger
Gäßchen, die Venedig in feinem Geäder nach allen Richtungen durchziehen. Im
Winter treffen die Sonnenstrahlen nur das fünfte Stockwerk unter dem Dache.
Die Leute hocken daher um die Mittagszeit, wenn sie nichts besonderes zu tun
haben, auf den warmen Steinfliesen der Piazza dal Frari, deckeln die Augen
zu, neigen den Kopf und lassen die Sonnenwärme durch die Glieder rieseln.
Im Sommer guckt die Sonne jeden Tag einmal in den tiefen schmalen Häuser¬
schacht und belächelt den hemdärmeligen Zocchelimacher, der mit einem drei
Schuh hohen Lehrjungen auf offener Straße hämmert, nagelt und schmilzt. Im
Nu entschwindet sie hinter der Giebelreihe, als ob der unangenehme Geruch von
Gemüsen, faulenden Früchten, Frittüren und Schusterpech sie verscheuchte.

Unweit dieses Gäßchens steht in massiger Behäbigkeit der verwitterte
Marmortempel dal Frari, dessen Ccunpanile, himmelhoch thronend über dem
Tun und Lassen der Menschen, ins Firmament sich zu bohren scheint.

Über dem grautuchig verhüllten Eingang des Eckhauses an der Calle
Cristoforo, wo ein breiter, von Abfallstoffen und Meersand getrübter Kanal
in die Quere sich legt und beißenden Tanggeruch verbreitet, steht mit ver¬
waschenen Buchstaben geschrieben: Liquori e Sel. „Seitz", sollte es heißen, aber
der Kalkbewurf war stark zerbröckelt und die Schlnßlettern fehlten.

Nebenan hielt eine häßliche Alte, die fast den ganzen Tag den Rücken
dunkelte, selig duselte und schnarchte, schöne Früchte feil. Ab und zu bemerkte
ich vor den Fruchtkörben ein Dirnlein mit bernsteinfarbener Haarkrone, deren
Glanz und Fülle meine Augen ganz berauschten. Einmal verschwand das
Mädchen mit dem vollen Teller in der kleinen Trinkstube, in die sie offenbar
hineingehörte, obschon das saubere, jugendfrische Gesicht nicht in die schmutzige
Gasse und das ärmliche Haus zu passen schien.

Das Archiv, in dem ich während der heißen Mitsommerszeit arbeitete,
wurde um drei Uhr geschlossen. Auf dem Heimwege betrat ich gewöhnlich die
erste beste Bar, um den grimmigen Durst zu löschen.

Warum sollte ich nicht einmal in der Buvette der schönen Blonden mein
Tamarindo a Seitz trinken? Kurz entschlossen lenkte ich die Schritte eines Abends
in die benachbarte Calle Cristoforo, teilte den grauen Vorhang und trat in das
niedrige Lokal. Zwei verkerbte und abgescheuerte Tischchen, blankgespülte Gläser
und halbgeleerte Likörflaschen bildeten die Ausstattung der kleinen Stube. Ich
fühlte mich indessen rasch wohl und heimisch. Die blauen niedergezogenen


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[0541] Ocnezianische Nacht „Dann muß ich Ihnen eine Herzensgeschichte ausplaudern. Also, meinet¬ wegen. Eigentlich passen die düsteren Laternen dazu nicht so übel." Er zog die Uhr. „Es geht noch ein Stündchen bis Schlafenszeit. Wenn Sie zuhören wollen." Ich rutschte tieser in den Stuhl hinein, kreuzte die Beine und versetzte lächelnd: „Jetzt können Sie erzählen, meinethalben bis Mitternacht. Ich werde Sie nie unterbrechen." „Die Calle Cristoforo," begann er, „ist eines jener dunklen müssiger Gäßchen, die Venedig in feinem Geäder nach allen Richtungen durchziehen. Im Winter treffen die Sonnenstrahlen nur das fünfte Stockwerk unter dem Dache. Die Leute hocken daher um die Mittagszeit, wenn sie nichts besonderes zu tun haben, auf den warmen Steinfliesen der Piazza dal Frari, deckeln die Augen zu, neigen den Kopf und lassen die Sonnenwärme durch die Glieder rieseln. Im Sommer guckt die Sonne jeden Tag einmal in den tiefen schmalen Häuser¬ schacht und belächelt den hemdärmeligen Zocchelimacher, der mit einem drei Schuh hohen Lehrjungen auf offener Straße hämmert, nagelt und schmilzt. Im Nu entschwindet sie hinter der Giebelreihe, als ob der unangenehme Geruch von Gemüsen, faulenden Früchten, Frittüren und Schusterpech sie verscheuchte. Unweit dieses Gäßchens steht in massiger Behäbigkeit der verwitterte Marmortempel dal Frari, dessen Ccunpanile, himmelhoch thronend über dem Tun und Lassen der Menschen, ins Firmament sich zu bohren scheint. Über dem grautuchig verhüllten Eingang des Eckhauses an der Calle Cristoforo, wo ein breiter, von Abfallstoffen und Meersand getrübter Kanal in die Quere sich legt und beißenden Tanggeruch verbreitet, steht mit ver¬ waschenen Buchstaben geschrieben: Liquori e Sel. „Seitz", sollte es heißen, aber der Kalkbewurf war stark zerbröckelt und die Schlnßlettern fehlten. Nebenan hielt eine häßliche Alte, die fast den ganzen Tag den Rücken dunkelte, selig duselte und schnarchte, schöne Früchte feil. Ab und zu bemerkte ich vor den Fruchtkörben ein Dirnlein mit bernsteinfarbener Haarkrone, deren Glanz und Fülle meine Augen ganz berauschten. Einmal verschwand das Mädchen mit dem vollen Teller in der kleinen Trinkstube, in die sie offenbar hineingehörte, obschon das saubere, jugendfrische Gesicht nicht in die schmutzige Gasse und das ärmliche Haus zu passen schien. Das Archiv, in dem ich während der heißen Mitsommerszeit arbeitete, wurde um drei Uhr geschlossen. Auf dem Heimwege betrat ich gewöhnlich die erste beste Bar, um den grimmigen Durst zu löschen. Warum sollte ich nicht einmal in der Buvette der schönen Blonden mein Tamarindo a Seitz trinken? Kurz entschlossen lenkte ich die Schritte eines Abends in die benachbarte Calle Cristoforo, teilte den grauen Vorhang und trat in das niedrige Lokal. Zwei verkerbte und abgescheuerte Tischchen, blankgespülte Gläser und halbgeleerte Likörflaschen bildeten die Ausstattung der kleinen Stube. Ich fühlte mich indessen rasch wohl und heimisch. Die blauen niedergezogenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/541>, abgerufen am 17.06.2024.