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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Bcdeuiung der deutsche" Heeresverstärkung

Aussicht auf Bewilligung gehabt hätten. Lebensfragen der Armee waren nicht
bedroht. So übte sich der Kriegsminister in Zurückhaltung.

Wenige Monate später nötigten Frankreichs Übergriffe in Marokko und
sein konsequentes provokatorisches Ignorieren der deutschen Rechtsansprüche die
deutsche Reichsregierung zu der Aktion von Agadir. Östlich und westlich der Vogesen
gerieten die Gemüter wieder einmal stärker in Wallung. England mischte sich in das
Spiel; ward abgewiesen. Und nun züngelte auch über den Kanal heftiger als je lang¬
gehegter Groll von hüben und drüben. Es gab Tage, da konnte man glauben, daß
es nur an einem Haare hing, ob sich die dräuende Wetterwolke in einem Kriege
entladen oder noch einmal verziehen werde. Klugheit und Festigkeit des deutschen
Staatsmannes, in dessen Händen damals die politischen Fäden zusammenliefen,
wahrten den Frieden zugleich mit dem Ansehen des Reiches. Aber in jenen stür¬
mischen Wochen des Sommers 1911 erwuchs die Erkenntnis, daß der politische
Optimismus, unter dem das Quinquennat zustande kommen konnte, ein Irrtum
war. Höhnend glaubte man in Frankreich schon mit einem Niedergang der
deutschen Wehrhaftigkeit rechnen zu können. Zügellos entbrannten unsere Nachbarn
im Westen in leidenschaftlichen Rufen nach Revanche. Hals über Kopf schuf
man den fehlenden Generalissimus (um ihn freilich alsbald wieder abzuschaffen)
und durch das weitgreifende Kadergesetz sollte die organisatorische Kriegs¬
vorbereitung Frankreichs eine gewaltige Überlegenheit über die deutsche erhalten.

Die Antwort Deutschlands war die Wehrvorlage, die der Reichstag jüngst
genehmigt hat. Die dadurch herbeigeführte Heeresverstärkung ist die umfang¬
reichste seit Bestehen des Reiches, die mit einem Schlage erfolgt. Und keine ist
bisher mit solcher Würde und Einmütigkeit vom Vertretungskörper des deutschen
Volkes beraten und beschlossen worden. Die Epoche des Marrokkostreites schloß
bei uns Deutschen mit einem gewaltigen harmonischen Akkord.

Die militärische Bedeutung der Heeresverstärkung ist gleichfalls hoch anzu¬
schlagen, wenn auch nicht alle Wünsche Erfüllung fanden und auch ein Teil der
Regierungsvorschläge leider Verstümmelung erfuhr. Zu den unerfüllten Wünschen
zählt vor allem, daß künftig auch die überschießenden, gegenwärtig nicht verwen¬
deten waffenfähigen Wehrpflichtigen, deren Zahl 70 000 Mann überschreitet, im
Frieden ausgebildet werden, die jetzt der Ersatzreserve überwiesen sind und als
solche erst in: Mobilmachungsfalle als Rekruten eingezogen werden, während
ältere Jahrgänge -- Reservisten und Landwehrleute -- sofort ins Feld müssen.
Die Bedeutung dieses Umstandes liegt allerdings mehr auf volkswirtschaftlichen
als auf militärischem Gebiete. Denn um diese Überschüssigen unterzubringen,
müßte entweder der Friedensstand der vorhandenen Einheiten erhöht oder deren
Zahl vermehrt werden. Ersteres könnte nur in beschränktem Maße geschehen,
denn sonst würde die Gründlichkeit der Ausbildung, namentlich aber die Erziehung
der Mannschaften, gefährdet.

Eine Friedensausbildung der Ersatzreservisteu hat in Deutschland früher
bereits stattgefunden, wurde aber abgeschafft. In Österreich-Ungarn besteht die


Die Bcdeuiung der deutsche» Heeresverstärkung

Aussicht auf Bewilligung gehabt hätten. Lebensfragen der Armee waren nicht
bedroht. So übte sich der Kriegsminister in Zurückhaltung.

Wenige Monate später nötigten Frankreichs Übergriffe in Marokko und
sein konsequentes provokatorisches Ignorieren der deutschen Rechtsansprüche die
deutsche Reichsregierung zu der Aktion von Agadir. Östlich und westlich der Vogesen
gerieten die Gemüter wieder einmal stärker in Wallung. England mischte sich in das
Spiel; ward abgewiesen. Und nun züngelte auch über den Kanal heftiger als je lang¬
gehegter Groll von hüben und drüben. Es gab Tage, da konnte man glauben, daß
es nur an einem Haare hing, ob sich die dräuende Wetterwolke in einem Kriege
entladen oder noch einmal verziehen werde. Klugheit und Festigkeit des deutschen
Staatsmannes, in dessen Händen damals die politischen Fäden zusammenliefen,
wahrten den Frieden zugleich mit dem Ansehen des Reiches. Aber in jenen stür¬
mischen Wochen des Sommers 1911 erwuchs die Erkenntnis, daß der politische
Optimismus, unter dem das Quinquennat zustande kommen konnte, ein Irrtum
war. Höhnend glaubte man in Frankreich schon mit einem Niedergang der
deutschen Wehrhaftigkeit rechnen zu können. Zügellos entbrannten unsere Nachbarn
im Westen in leidenschaftlichen Rufen nach Revanche. Hals über Kopf schuf
man den fehlenden Generalissimus (um ihn freilich alsbald wieder abzuschaffen)
und durch das weitgreifende Kadergesetz sollte die organisatorische Kriegs¬
vorbereitung Frankreichs eine gewaltige Überlegenheit über die deutsche erhalten.

Die Antwort Deutschlands war die Wehrvorlage, die der Reichstag jüngst
genehmigt hat. Die dadurch herbeigeführte Heeresverstärkung ist die umfang¬
reichste seit Bestehen des Reiches, die mit einem Schlage erfolgt. Und keine ist
bisher mit solcher Würde und Einmütigkeit vom Vertretungskörper des deutschen
Volkes beraten und beschlossen worden. Die Epoche des Marrokkostreites schloß
bei uns Deutschen mit einem gewaltigen harmonischen Akkord.

Die militärische Bedeutung der Heeresverstärkung ist gleichfalls hoch anzu¬
schlagen, wenn auch nicht alle Wünsche Erfüllung fanden und auch ein Teil der
Regierungsvorschläge leider Verstümmelung erfuhr. Zu den unerfüllten Wünschen
zählt vor allem, daß künftig auch die überschießenden, gegenwärtig nicht verwen¬
deten waffenfähigen Wehrpflichtigen, deren Zahl 70 000 Mann überschreitet, im
Frieden ausgebildet werden, die jetzt der Ersatzreserve überwiesen sind und als
solche erst in: Mobilmachungsfalle als Rekruten eingezogen werden, während
ältere Jahrgänge — Reservisten und Landwehrleute — sofort ins Feld müssen.
Die Bedeutung dieses Umstandes liegt allerdings mehr auf volkswirtschaftlichen
als auf militärischem Gebiete. Denn um diese Überschüssigen unterzubringen,
müßte entweder der Friedensstand der vorhandenen Einheiten erhöht oder deren
Zahl vermehrt werden. Ersteres könnte nur in beschränktem Maße geschehen,
denn sonst würde die Gründlichkeit der Ausbildung, namentlich aber die Erziehung
der Mannschaften, gefährdet.

Eine Friedensausbildung der Ersatzreservisteu hat in Deutschland früher
bereits stattgefunden, wurde aber abgeschafft. In Österreich-Ungarn besteht die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/562>, abgerufen am 17.06.2024.