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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Sehr häufig wird die Ansicht vertreten, daß die kirchlichen Verhältnisse der
nordamerikanischen Union vorbildlich für uns seien. Die völlige Freiheit der
Kirchenbildung, die Selbständigkeit der Kirchen dem Staat gegenüber sei das
Ziel, dem wir zustreben müßten. Mir scheint aber, daß die dort herrschende
Mannigfaltigkeit und Freiheit für uns innerhalb des einen großen Kirchenkörpers
zu erreichen ist, der bisher so vielen Stößen standgehalten hat. Viel eher sollten
wir die kirchlichen Verhältnisse in der deutschen Schweiz uns zum Vorbild nehmen,
die bei uns leider zu wenig bekannt sind. Hier ist in viel weiterem Umfang?
die Freiheit durchgeführt, die unsere deutschen Kirchen, voran die größte und
schwerfälligste Landeskirche Preußens, gebrauchen.

Wie ein großer, zäher, die kirchliche Tradition unerbittlich festhaltender
Kirchenkörper aussieht, zeigt uns die römisch-katholische Kirche der Gegenwart
in deutlichem Licht. Viele der besten Glieder stehen in heimlicher Opposition
und haben mehr oder weniger Neigungen, die mit dem Schlagwort "Modernismus"
gebrandmarkt werden. Soll denn die preußische Landeskirche eine kümmerliche
Kopie dieser weltbeherrschenden Kirche werden? Ist es nicht möglich, daß alle,
die in der Reformation die geistige Heimat ihres Glaubens suchen, in einer
großen Kirche sich zusammenfinden, gleichviel wie sie sonst in vielen Glaubens¬
sätzen differieren? Ja im Grunde herrscht doch dieser Zustand schon tatsächlich,
nur daß er von der leitenden Kirchenbehörde offiziell noch nicht anerkannt wird.
Der Oberkirchenrat glaubt immer noch, hin und wieder Erlasse ausgeben zu
müssen, in deuen etwa gesagt wird, die übernatürliche Geburt Jesu oder seine
leibliche Auferstehung sei "noch immer" ein in der Landeskirche gültiger Glaubenssatz.
Würde denn die Landeskirche zerfallen, wenn der tatsächliche Zustand auch offiziell
anerkannt würde, daß es über diese wie über alle anderen Glaubenssätze jedem
Pastor wie Gemeindeglied frei steht, zu denken, was er nach seinem Gewissen
für recht hält? Dieser Zustand herrscht seit vierzig Jahren in allen Kantonen
der deutschen Schweiz. Er ist in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahr¬
hunderts nach erbitterten Kämpfen durchgeführt worden. Und heute fühlt sich jeder
dabei wohl. Es gibt kein Kirchenregiment, das Meister über den Glauben von
Pfarrern und Gemeinden zu sein sich erkühnte. Die Glaubens- und Gewissens¬
freiheit ist dort wirklich durchgeführt.

"Aber irgendeine Schranke muß doch sein? Es kann doch nicht lauter
Willkür herrschen? Wo würde eine Kirche hinkommen, wenn sie gar kein festes
Prinzip hätte? Sie würde sich auflösen und ihre Kanzel stünde jedem Agitator
für irgendeine selbsterdachte Zukunftsreligion offenI" Solche Einwendungen haben
zweifellos recht. Die Kantonskirchen der Schweiz vertreten keine schrankenlose
Willkür, Sie nennen sich zwar oft mit Emphase "bekenntnisfrei" gegenüber den
Bindungen an Bekenntnisse früherer Jahrhunderte, von denen die preußische
Landeskirche noch nicht abgehen zu können meint. Aber sie haben doch ein
grundlegendes Bekenntnis, das der Pfarrer als Beauftragter der Gemeinde bei
der Ordination ablegt. Er verpflichtet sich durch Handschlag, "die christliche


Sehr häufig wird die Ansicht vertreten, daß die kirchlichen Verhältnisse der
nordamerikanischen Union vorbildlich für uns seien. Die völlige Freiheit der
Kirchenbildung, die Selbständigkeit der Kirchen dem Staat gegenüber sei das
Ziel, dem wir zustreben müßten. Mir scheint aber, daß die dort herrschende
Mannigfaltigkeit und Freiheit für uns innerhalb des einen großen Kirchenkörpers
zu erreichen ist, der bisher so vielen Stößen standgehalten hat. Viel eher sollten
wir die kirchlichen Verhältnisse in der deutschen Schweiz uns zum Vorbild nehmen,
die bei uns leider zu wenig bekannt sind. Hier ist in viel weiterem Umfang?
die Freiheit durchgeführt, die unsere deutschen Kirchen, voran die größte und
schwerfälligste Landeskirche Preußens, gebrauchen.

Wie ein großer, zäher, die kirchliche Tradition unerbittlich festhaltender
Kirchenkörper aussieht, zeigt uns die römisch-katholische Kirche der Gegenwart
in deutlichem Licht. Viele der besten Glieder stehen in heimlicher Opposition
und haben mehr oder weniger Neigungen, die mit dem Schlagwort „Modernismus"
gebrandmarkt werden. Soll denn die preußische Landeskirche eine kümmerliche
Kopie dieser weltbeherrschenden Kirche werden? Ist es nicht möglich, daß alle,
die in der Reformation die geistige Heimat ihres Glaubens suchen, in einer
großen Kirche sich zusammenfinden, gleichviel wie sie sonst in vielen Glaubens¬
sätzen differieren? Ja im Grunde herrscht doch dieser Zustand schon tatsächlich,
nur daß er von der leitenden Kirchenbehörde offiziell noch nicht anerkannt wird.
Der Oberkirchenrat glaubt immer noch, hin und wieder Erlasse ausgeben zu
müssen, in deuen etwa gesagt wird, die übernatürliche Geburt Jesu oder seine
leibliche Auferstehung sei „noch immer" ein in der Landeskirche gültiger Glaubenssatz.
Würde denn die Landeskirche zerfallen, wenn der tatsächliche Zustand auch offiziell
anerkannt würde, daß es über diese wie über alle anderen Glaubenssätze jedem
Pastor wie Gemeindeglied frei steht, zu denken, was er nach seinem Gewissen
für recht hält? Dieser Zustand herrscht seit vierzig Jahren in allen Kantonen
der deutschen Schweiz. Er ist in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahr¬
hunderts nach erbitterten Kämpfen durchgeführt worden. Und heute fühlt sich jeder
dabei wohl. Es gibt kein Kirchenregiment, das Meister über den Glauben von
Pfarrern und Gemeinden zu sein sich erkühnte. Die Glaubens- und Gewissens¬
freiheit ist dort wirklich durchgeführt.

„Aber irgendeine Schranke muß doch sein? Es kann doch nicht lauter
Willkür herrschen? Wo würde eine Kirche hinkommen, wenn sie gar kein festes
Prinzip hätte? Sie würde sich auflösen und ihre Kanzel stünde jedem Agitator
für irgendeine selbsterdachte Zukunftsreligion offenI" Solche Einwendungen haben
zweifellos recht. Die Kantonskirchen der Schweiz vertreten keine schrankenlose
Willkür, Sie nennen sich zwar oft mit Emphase „bekenntnisfrei" gegenüber den
Bindungen an Bekenntnisse früherer Jahrhunderte, von denen die preußische
Landeskirche noch nicht abgehen zu können meint. Aber sie haben doch ein
grundlegendes Bekenntnis, das der Pfarrer als Beauftragter der Gemeinde bei
der Ordination ablegt. Er verpflichtet sich durch Handschlag, „die christliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/568>, abgerufen am 17.06.2024.