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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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venezianische Nacht

Piazzetta entgegen. Der helle Jubel verbrauste allgemach und als ich das
Boot verließ, empfing mich mitternächtliche Stille, In düsterer Bangigkeit
legte ich mich zu Bette, schlief erst gegen Morgen ein und erwachte sehr spät.

Langsam schritt ich am halben Vormittag meinen gewohnten Weg der
Calle Cristoforo zu. Ich wußte ja, daß nella tot war.

Die Büvette war wie am Abend zuvor geschlossen. Auf ihrem Hock-
sesselchen duselte die alte Fruchthändlerin. Ich zupfte sie an der Schulter und
redete sie barsch an:

"Warum ist das Lokal zu?" Sie hob den Kopf und schaute mich an.

"Wieviel wünschen Sie?"

"Warum das Lokal da geschlossen ist."

"Sie sind der Herr, der immer dort drinnen saß?"

Ich nickte.

"Dio mio, wissen Sie nicht, daß die Bambina tot ist? In der Frarikirche
liest man für sie die Messe. Bezahlen tu ich sie, wenn sonst niemand das
Geld gibt."

"nella ist tot," versetzte ich tonlos. "Die Mutter hat sie an den Marchese
verschandelt."

"Die Mutter? Chö -- ahn. Eine schöne Mutter. Das Mädchen hatte
keine Mutter. Man hat gestern die schöne Biondina zum Nachtfest abgeholt --
in der Herrengondel. Und geknebelt wurde sie, und drüben bei der Giudecca
hat sie sich ins Wasser geworfen."

"Und woher wissen Sie das alles?"

"Ich weiß es, ich weiß es," murmelte die Höckerin. "Ich habe ihr immer
gesagt, sie solle sich vor dem Marchese in acht nehmen."
"Und was wird nun die Polizei tun?"

"Die Polizei? Haha," klang es ganz trocken tief hinten im Halse. "Ich
habe nichts gesagt, und wer will es beweisen?"

Die Alte legte die Hände in den Schoß und schwieg.

Tief erschüttert machte ich mich davon. Vor dem hohen Portal der Chiesa
dal Frari, die mit dem schlanken Gipfel des Turmes so stolz in die Himmels¬
bläue ragt, blieb ich stehen. Am Altar wurde jetzt für die arme Seele der
Toten eine Messe gelesen. Sollte ich eintreten?

Schaudernd kehrte ich dem Tempel den Rücken und schritt von dannen."




Mein Fremid verstummte. "Die Kerzen flackern," bemerkte ich. "Stecken
wir neue an?"

"Ich mag diese papierener Leuchter nicht," erwiderte der Doktor bedrückt.
"Sie stimmen mich traurig. Ich gehe schlafen. Felice molte!"

Ende.




venezianische Nacht

Piazzetta entgegen. Der helle Jubel verbrauste allgemach und als ich das
Boot verließ, empfing mich mitternächtliche Stille, In düsterer Bangigkeit
legte ich mich zu Bette, schlief erst gegen Morgen ein und erwachte sehr spät.

Langsam schritt ich am halben Vormittag meinen gewohnten Weg der
Calle Cristoforo zu. Ich wußte ja, daß nella tot war.

Die Büvette war wie am Abend zuvor geschlossen. Auf ihrem Hock-
sesselchen duselte die alte Fruchthändlerin. Ich zupfte sie an der Schulter und
redete sie barsch an:

„Warum ist das Lokal zu?" Sie hob den Kopf und schaute mich an.

„Wieviel wünschen Sie?"

„Warum das Lokal da geschlossen ist."

„Sie sind der Herr, der immer dort drinnen saß?"

Ich nickte.

„Dio mio, wissen Sie nicht, daß die Bambina tot ist? In der Frarikirche
liest man für sie die Messe. Bezahlen tu ich sie, wenn sonst niemand das
Geld gibt."

„nella ist tot," versetzte ich tonlos. „Die Mutter hat sie an den Marchese
verschandelt."

„Die Mutter? Chö — ahn. Eine schöne Mutter. Das Mädchen hatte
keine Mutter. Man hat gestern die schöne Biondina zum Nachtfest abgeholt —
in der Herrengondel. Und geknebelt wurde sie, und drüben bei der Giudecca
hat sie sich ins Wasser geworfen."

„Und woher wissen Sie das alles?"

„Ich weiß es, ich weiß es," murmelte die Höckerin. „Ich habe ihr immer
gesagt, sie solle sich vor dem Marchese in acht nehmen."
„Und was wird nun die Polizei tun?"

„Die Polizei? Haha," klang es ganz trocken tief hinten im Halse. „Ich
habe nichts gesagt, und wer will es beweisen?"

Die Alte legte die Hände in den Schoß und schwieg.

Tief erschüttert machte ich mich davon. Vor dem hohen Portal der Chiesa
dal Frari, die mit dem schlanken Gipfel des Turmes so stolz in die Himmels¬
bläue ragt, blieb ich stehen. Am Altar wurde jetzt für die arme Seele der
Toten eine Messe gelesen. Sollte ich eintreten?

Schaudernd kehrte ich dem Tempel den Rücken und schritt von dannen."




Mein Fremid verstummte. „Die Kerzen flackern," bemerkte ich. „Stecken
wir neue an?"

„Ich mag diese papierener Leuchter nicht," erwiderte der Doktor bedrückt.
„Sie stimmen mich traurig. Ich gehe schlafen. Felice molte!"

Ende.




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[0591] venezianische Nacht Piazzetta entgegen. Der helle Jubel verbrauste allgemach und als ich das Boot verließ, empfing mich mitternächtliche Stille, In düsterer Bangigkeit legte ich mich zu Bette, schlief erst gegen Morgen ein und erwachte sehr spät. Langsam schritt ich am halben Vormittag meinen gewohnten Weg der Calle Cristoforo zu. Ich wußte ja, daß nella tot war. Die Büvette war wie am Abend zuvor geschlossen. Auf ihrem Hock- sesselchen duselte die alte Fruchthändlerin. Ich zupfte sie an der Schulter und redete sie barsch an: „Warum ist das Lokal zu?" Sie hob den Kopf und schaute mich an. „Wieviel wünschen Sie?" „Warum das Lokal da geschlossen ist." „Sie sind der Herr, der immer dort drinnen saß?" Ich nickte. „Dio mio, wissen Sie nicht, daß die Bambina tot ist? In der Frarikirche liest man für sie die Messe. Bezahlen tu ich sie, wenn sonst niemand das Geld gibt." „nella ist tot," versetzte ich tonlos. „Die Mutter hat sie an den Marchese verschandelt." „Die Mutter? Chö — ahn. Eine schöne Mutter. Das Mädchen hatte keine Mutter. Man hat gestern die schöne Biondina zum Nachtfest abgeholt — in der Herrengondel. Und geknebelt wurde sie, und drüben bei der Giudecca hat sie sich ins Wasser geworfen." „Und woher wissen Sie das alles?" „Ich weiß es, ich weiß es," murmelte die Höckerin. „Ich habe ihr immer gesagt, sie solle sich vor dem Marchese in acht nehmen." „Und was wird nun die Polizei tun?" „Die Polizei? Haha," klang es ganz trocken tief hinten im Halse. „Ich habe nichts gesagt, und wer will es beweisen?" Die Alte legte die Hände in den Schoß und schwieg. Tief erschüttert machte ich mich davon. Vor dem hohen Portal der Chiesa dal Frari, die mit dem schlanken Gipfel des Turmes so stolz in die Himmels¬ bläue ragt, blieb ich stehen. Am Altar wurde jetzt für die arme Seele der Toten eine Messe gelesen. Sollte ich eintreten? Schaudernd kehrte ich dem Tempel den Rücken und schritt von dannen." Mein Fremid verstummte. „Die Kerzen flackern," bemerkte ich. „Stecken wir neue an?" „Ich mag diese papierener Leuchter nicht," erwiderte der Doktor bedrückt. „Sie stimmen mich traurig. Ich gehe schlafen. Felice molte!" Ende.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/591>, abgerufen am 17.06.2024.